Kollabierte Armee in Afghanistan: Das Kartenhaus
In Afghanistan sollten Armee und Polizei das Land gegen die Taliban verteidigen. Im entscheidenden Moment implodierten sie. Wie konnte das passieren?
Selbst die Taliban waren überrascht, wie schnell am Ende alles ging. „Wir wollten Kabul noch nicht einnehmen“, sagte ihr Sprecher Saibihullah Mudschahid bei seiner ersten Pressekonferenz am Dienstagabend in Kabul. „Unsere Kämpfer sollten eigentlich vor der Stadt bleiben.“
Doch als am vergangenen Sonntag Präsident Aschraf Ghani geflohen war, die Regierung zusammenbrach und in der Stadt Chaos drohte, zogen die Taliban in Kabul ein. Noch Tage zuvor waren westliche Geheimdienste davon ausgegangen, dass die Regierungstruppen die Hauptstadt noch Monate oder wenigstens Wochen halten würden. Stattdessen fiel Kabul innerhalb von Stunden – kampflos.
Militär, Polizei und Bewohner hatten jede Motivation verloren, das eigene Leben zu riskieren. So hatten die militanten Islamisten zuvor schon auf ähnliche Art etliche Provinzhauptstädte in wenigen Tagen einnehmen können. Afghanistans Regierungstruppen sind regelrecht implodiert.
Dabei hatten allein die USA seit 2001 mehr als 83 Milliarden US-Dollar in Ausrüstung und Ausbildung des afghanischen Militärs gesteckt. Im Unterschied zu den Gotteskriegern verfügte die Armee über moderne Waffen, darunter eine kleine Luftwaffe, Drohnen, Präzisionsgewehre und Nachtsichtgeräte.
Washington zahlte den offiziell rund 180.000 afghanischen Soldaten und 120.000 Polizisten sogar Sold und Gehalt. Zwar gab es auch einige tausend „Geistersoldaten“, die nur auf dem Papier existierten und deren Sold andere kassierten. Manche waren auch längst desertiert. Aber die Taliban wurden lange auch nur auf 80.000 Mann geschätzt.
Ein Abkommen, das viele demoralisierte
Das von dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Februar 2020 in Doha mit den Taliban geschlossene Abkommen sah vor, dass nach dem vereinbarten Abzug des US-Militärs Afghanistans Armee und Polizei allein die Taliban in Schach halten sollten. Doch das Abkommen, an dem Kabul nicht beteiligt wurde, demoralisierte viele Afghan*innen, die Zweifel an ihrer Regierung und ihren bewaffneten Kräften hatten.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Bei den Taliban hingegen stärkte es die Moral. Sie konnten erstmals sicher sein, dass die Zeit für sie arbeitete und sich ihre strategische Geduld lohnen würde. Erstmals seit 2001 war für sie ein Sieg greifbar. Nach einer baldigen Reduzierung der US-Truppen gingen die Taliban laut Recherchen der Washington Post unter dem Deckmantel lokaler Friedensgespräche zunächst in Dörfern und Distrikten auf Funktionsträger zu und forderten sie auf, an ihre Zukunft und ihre Familien zu denken.
Während die Taliban mit der Regierung nie ernsthaft verhandelten, boten ihnen Gespräche mit Stammesältesten, Beamten, Militär- und Polizeikommandeuren in den Distrikten die Chance, Kapitulationsangebote zu machen und ihnen mit Drohungen Nachdruck zu verleihen.
„Die Taliban konnten mithilfe innerethnischer, religöser und ideologischer Differenzen Menschen auf ihre Seite ziehen und dabei noch von deren Enttäuschung über die Regierung profitieren“, sagte Saad Mohseni vom bisher einflussreichsten afghanischen Medienhaus Moby Group der New York Times. Zugleich bauten die Taliban ihre Macht im Untergrund aus und verstärkten ihre Angriffe.
Eine Rette-wer-sich-kann-Dynamik
Trotz Trumps Vereinbarung blieb ein US-Abzug für viele Afghan*innen zunächst aber noch unvorstellbar. Die Amerikaner, die am Hindukusch so viel Geld investiert und Menschenleben verloren hatten – und die ja dort auch weiter strategische Interessen hatten, würden nicht einfach abziehen. So der verbreitete Glaube.
Als US-Präsident Joe Biden im April den bedingungslosen Abzug bis zum 11. September verkündete und später sogar noch vorzog, war das für viele ein Schock. Damit verloren die afghanischen Streitkräfte ihre Korsettstangen. Bisher hatte die US Air Force als Back-up der afghanischen Armee gedient. Jetzt setzte eine Rette-sich-wer-kann-Dynamik ein, die auch die Korruption noch weiter anheizte. Zugleich gingen die Taliban in die militärische Offensive und verstärkten Angebote und Drohungen: „Wenn du den Widerstand gegen uns aufgibst, lassen wir dich am Leben. Gibst du uns deine Waffen, zahlen wir dir sogar Geld. Kämpfst du weiter, töten wir dich und deine Familie“, lautete der Tenor.
Dies fruchtete bei vielen, die nicht an den Staat und die Regierung glaubten. Warum sollten sie jetzt noch für eine verloren scheinende Sache ihr Leben riskieren? Sie hatten zum Teil schon lange keinen Sold bekommen oder wurden mit wachsender Kontrolle der Überlandstraßen durch die Taliban nicht mehr mit Waffen, Munition und Lebensmitteln versorgt. So erschienen die Angebote der Taliban immer attraktiver. Als andere Alternativen blieben: die Uniform zu verbrennen, unterzutauchen oder zu fliehen.
Vor allem bei lokalen Einheiten sank die Kampfbereitschaft stark – erst recht, wenn sie merkten, dass in der Nachbarregion oder von Vorgesetzten den Taliban schon nachgegeben worden war und damit der eigene Kampf riskanter wurde. Nach einer Aufstellung des amerikanischen Lang War Journal hatten die Taliban am 13. April von den 388 Distrikten 77 eingenommen, am 16. Juni bereits 104 und am 3. August 223.
Anschläge auf Piloten, kein Pardon bei Spezialkräften
Ein Problem für die Gotteskrieger war Afghanistans professionelle Elitetruppe, die rund 10.000 Mann zählte. Sie wurden für schwierige Missionen quer durch das Land geschickt, oft um Orte von den Taliban zurückzuerobern. Doch kaum zogen die Special Forces weiter, gaben die lokalen Sicherheitskräfte, die eine Rückkehr der Taliban verhindern sollten, unter neuem Druck schnell wieder auf.
Die Elitetruppe und die Piloten der kleinen, aber für die Taliban gefährlichen Luftwaffe, waren deren militärische Hauptgegner. Mit gezielten Anschlägen schalteten sie einzelne Piloten aus. Denn diese können nicht schnell ersetzt werden.
Und gegenüber den Spezialtruppen gab es kein Pardon. Als im Juni eine Eliteeinheit kapitulieren musste, weil ihr beim Kampf in dem Dorf Dawlat Abad in der Nordprovinz Faryab die Munition ausgegangen und die angeforderte Luftunterstützung ausgeblieben war, wurden die 22 Soldaten exekutiert, wie ein von CNN enthülltes Video zeigte.
Derweil wirkte die Regierung inkompetent und planlos. Präsident Ashraf Ghani hatte sich zunehmend isoliert, er wirkte wirklichkeitsfremd. Er vermochte weder den Sicherheitskräften das Gefühl zu geben, dass die Regierung sich um sie kümmere, noch konnte er die Bevölkerung gegen die Taliban mobilisieren. Bis zum Schluss war die Regierung nicht fähig zu klären, welche Städte und Provinzen sie halten und welche sie aufgeben wollte.
Kämpfer aus Pakistan
Die Taliban hingegen hatten nicht nur eine klare Ideologie, sondern auch eine für die Regierung überraschende Strategie. Sie konzentrierten sich anders als erwartet bei ihren Angriffen zunächst auf den Norden. Dort leben weniger Paschtunen – die Hauptethnie der Taliban, weshalb sie sich dort schwergetan hatten. Doch jetzt gelang es ihnen, die Unzufriedenheit mit der Regierung auszunutzen und durch massive Angriffe zu verhindern, dass sich dortige Warlords, die um Macht und Pfründen konkurrieren, wieder zu einer Allianz zusammenschließen konnten.
Die laut US-Berichten um mehrere tausend Kämpfer aus Pakistan verstärkten Taliban übernahmen so immer mehr die Kontrolle über die Überlandstraßen. Das machte die Verbindungen zwischen den von der Armee gehaltenen Gebieten schwieriger. Derweil konnten die Taliban immer mehr Wegezölle kassieren.
Dann nahmen sie fast alle Grenzübergänge ein, womit der Regierung wichtige Einnahmen fehlten, die jetzt bei den Taliban landeten. So hatten die Taliban eine lawinenartige Dynamik erzeugt, die weniger auf massiven militärischen Kämpfen basierte als auf psychologischer Kriegsführung und politischen Schachzügen. Und die von gezielten Terroranschlägen und der Angst davor begleitet wurde.
„Psychologischer Krieg“
„Keine Region wurde als Ergebnis eines Kampfes verloren, sondern als Folge des psychologischen Krieges“, sagte der frustrierte afghanische Brigadeneral Abba Tawakoli der New York Times.
Nach mehr als 40 Jahren Krieg in Afghanistan zählt es dort zu den Überlebensstrategien, rechtzeitig zu kapitulieren, zum Sieger zu wechseln oder in der Bevölkerung abzutauchen. Schon beim Sturz des damaligen Taliban-Regimes 2001 verhielten sich etliche ihrer Einheiten angesichts der gegnerischen Übermacht so. Damals kursierte das Sprichwort: „Afghanen kann man nicht kaufen, sondern nur mieten.“
Westliche Besserwisserei ist aber fehl am Platz. Schließlich konnten auch die USA trotz Obamas Aufstockung von 30.000 auf 100.000 US-Soldaten plus weitere 20.000 Nato-Soldaten von 2009 bis 2011 die Taliban militärisch nicht besiegen, vielmehr haben sie die Hoffnungen vieler Afghan*innen verspielt. Auch gut ausgebildete westliche Militärs und Politiker sind an der Komplexität des Konfliktes gescheitert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies