Koenen-Buch „Im Widerschein des Krieges“: Blackbox deutsch-russische Beziehung
Gerd Koenen war Aktivist im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, heute ist er Russlandexperte. Über den Analytiker des Totalitären.
„Ein greller Blitz der Erkenntnis hat in der Mitte der bundesdeutschen Öffentlichkeit und des Berliner Parlaments eingeschlagen.“ Für den Spiegel kommentiert Ost-Europa-Experte Gerd Koenen im März 2022 den russischen Überfall auf die Ukraine. Sarkastisch analysiert er, wie dieser „Erkenntnisblitz“ die deutsche Politik und Öffentlichkeit mit Russlands Angriffskrieg im Februar 2022 endlich erreichte.
Und sich auch in der deutschen Politik die bittere Gewissheit durchsetzte, dass man zur Verteidigung von Demokratie und Menschenrecht in Europa künftig selbst militärisch gefordert sei. Sich also nicht weiter hinter den Amerikanern verstecken kann, während man mit Verweis auf die Geschichte emsig Handel mit Schurken treibt.
Koenen beschreibt die bis Februar 2022 dominante deutsche Grundhaltung in vielen seiner Texte, die in dem Buch „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“ versammelt sind. Etwa wie die Deutschen auch noch nach der russischen Annexion der ukrainischen Krim 2014 „im Gewand einer feierlichen ‚Nie wieder‘-Rhetorik und gespickt mit ‚Lehren aus der Geschichte‘“ ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht wurden. Und sich aus ökonomischen Eigeninteressen einfach neutral gaben.
In dem floskelhaften Antifaschismus von Angela Merkels CDU – und zuvor Gerhard Schröders SPD – sieht Koenen einen rituellen Vorgang, um sich mit deutsch-russischer Geschichte nicht beschäftigen zu müssen. Nicht mit dem, was es für die „Pufferstaaten“ hieß, zwischen Sowjetunion und Nazireich eingeklemmt zu sein. Blackbox Ukraine, Blackbox Baltikum, Blackbox Weißrussland, Blackbox Polen – Blackbox Hitler-Stalin-Pakt, Blackbox „Bloodlands“.
Einst selbst Kommunist
Gerd Koenen, geboren 1944 in Marburg, gehört zu den profunden Kennern des östlichen Totalitarismus in Deutschland. In den 1960er Jahren politisiert, schloss er sich nach der Ermordung Benno Ohnesorgs (1967) dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an. Sein Promotionsstudium als Historiker bei Iring Fetscher in Frankfurt am Main verwarf er 1973 zugunsten einer Karriere im Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW).
Gerd Koenen: „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“. C.H. Beck, München 2023, 317 Seiten, 20 Euro
Man versteht die Radikalisierung der Linken nach 1968 jedoch kaum, so man die damalige Phase des Postfaschismus nicht insgesamt in den Blick nimmt. Koenen gehört zu der ersten Generation, die nach 1945 mit demokratischen Freiheitsversprechen aufwuchs. Und die sich zugleich mehrheitlich mit im „Dritten Reich“ sozialisierten Erwachsenen konfrontiert sah.
Auch der heutige baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, kein Radikaler, war einst im KBW. Die Jugend um 1968 wollte nach- und zurückholen, was der deutsche Nationalsozialismus unterbrochen und versucht hatte, vollständig zu eliminieren.
Koenen hatte Anfang der 1980er genug vom autoritären Kommunismus und war auch von den eher libertären Strömungen der Frankfurter Sponti-Linken um Dany Cohn-Bendit und Joschka Fischer beeinflusst. Er begann seine mit Praxiserfahrung gesättigte analytische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Spielarten des totalitären Kommunismus.
Analytiker des Totalitären
Eine kleine Auswahl der Titel seiner Buchpublikationen mag dies andeuten: 1987 erschien „Die großen Gesänge: Lenin – Stalin – Mao Tse-tung. Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts“; 1998 „Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?“; 2001 „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977“. 2017 „Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ mit 1.136 Seiten. Es gilt als das Opus magnum des freiberuflich tätigen Historikers und Publizisten.
Da mutet die jetzige Textsammlung „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“ mit 300 Seiten fast bescheiden an. Sie umfasst Schriften, die Koenen in den letzten 25 Jahren über Russland und aktuell verfasst hat.
Ausgehend vom jetzigen Kriegsgeschehen beleuchten sie den Aufstieg Putins, das Scheitern der Demokratie in Russland aus historischer Perspektive. Sie verdeutlichen, dass es, anders als die Wagenknechts, Brandts und Welzers behaupten, nicht die Nato ist, wegen der Putin immer aggressiver wurde.
Es sind die inneren, die farbigen Revolutionen der Demokratiebewegungen in Minsk, Kiew oder Tiflis, auf die er reagiert. Sein Regime verlagert den Konflikt nach außen, um die Herrschaft in der militärischen Eskalation gegen „Gayropa“, Juden, „Kleinrussen“ und angebliche Nazis durch völkischen Mobilisierung im Inneren zu festigen. So zumindest die wahnhafte Absicht.
Putin und der Hitler-Stalin-Pakt
Putin und seine Propagandisten haben in den letzten zwei Jahrzehnten begonnen, systematisch die Geschichte Russlands umzudeuten. Koenens Texte beschreiben, wie diese Clique mit Machtantritt 1999/2000 daran ging, rechtsstaatliche und demokratische Transformationsprozesse zu stoppen. Im Namen eines großen neuen imperialen Russlands, unter Anrufung stalinistischer und zaristischer Traditionen, inklusive Männer- und Führerkult.
Wirtschaftliche und politische Konkurrenten wurden aus dem Weg geräumt. Koloniale Kriege geführt. Aber nicht einmal Auftragsmorde an Kritikern wie Anna Politkowskaja (2006) oder Boris Nemzow (2015) führten im Westen zu der „Zeitenwende“, die erst der jetzige Überfall auf die Ukraine nach sich zog.
Gerd Koenens Auseinandersetzung mit dem Nachwirken des Hitler-Stalin-Pakts (1939–1941), dem oberflächlichen Nachbeten kommunistischer Propagandaphrasen, vor denen weder Thomas Mann noch Simone de Beauvoir gefeit waren, sind eine Einladung, die eigene und die Geschichte der Linken kritisch wahrzunehmen. Der Autor hofft, dass Witz, Authentizität, Nahbarkeit und Humanismus, die der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ausstrahlt, über die stumpfe Rohheit der Invasoren siegen mögen.
Die Deutschen täten dabei gut daran, den Blitz der Erkenntnis nach dem 24. 2. 2022 noch ein wenig leuchten zu lassen. Schließlich haben sie gehörigen Anteil daran, dass Putin glauben mochte, seinen Angriffskrieg ungestraft und siegreich führen zu können.
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