Kölns DGB-Chef zum Ford-Streik 1973: „Erfahrung kollektiver Macht“
Der „wilde“ Ford-Streik 1973 war spontan – und doch geplant, sagt Witich Roßmann. Vor 50 Jahren wurde der „Gastarbeiter“-Ausstand gewaltsam beendet.
taz: Sieben Tage dauerte der „wilde Streik“ in den Kölner Ford-Werken vor 50 Jahren. Was ist das Besondere an ihm, dass er bis heute im Gedächtnis geblieben ist und für Diskussionen sorgt?
Witich Roßmann: Der Ford-Streik bildete den Höhepunkt einer ganzen Reihe „wilder Streiks“ im Jahr 1973 und erregte schon damals eine öffentliche Aufmerksamkeit, die alle anderen Ausstände in den Schatten stellte. Bis heute von Relevanz ist dieser Streik, weil er eine elementare Rolle in der Erinnerungskultur der migrantischen Bevölkerung spielt.
geboren 1951, ist Vorsitzender des DGB-Stadtverbands Köln. Seit 1985 Mitglied der IG Metall, war der promovierte Politikwissenschaftler von 2000 bis 2017 Erster Bevollmächtigter IG Metall Köln-Leverkusen.
Wenn auch nur temporär und segmentiert, verwandelte sich in diesen sieben Tagen im August die individuelle Ohnmacht vor allem der türkischen Migranten im Produktionsprozess in die Erfahrung kollektiver Macht. Für das migrantische Selbstbewusstsein war das von großer Bedeutung: Mit diesem „wilden Streik“ demonstrierten die brutal ausgebeuteten sogenannten Gastarbeiter exemplarisch, dass sie sich nicht mehr alles gefallen lassen.
Wieso ausgerechnet beim Autobauer Ford?
Ford beschäftigte damals rund 16.000 „Gastarbeiter“, darunter 11.200 Kollegen türkischer und 2.200 italienischer Herkunft. Das war fast die Hälfte der gesamten Belegschaft – und so viel wie sonst nirgendwo in der Bundesrepublik. Wobei die Aufteilung im Werk einfach war: Die besser bezahlten Arbeitsplätze besetzten deutsche Facharbeiter, die Migranten schufteten an den Montagebändern mit geringster Bezahlung.
Der Ford-Konzern, Erfinder der taylorisierten Fließbandarbeit, war berüchtigt für die härtesten Arbeitsbedingungen, für das „Ford-Tempo“ mit den kürzesten Taktzeiten. Und nach der Schicht lebte mehr als die Hälfte in werkseigenen sogenannten Gastarbeiter-Wohnheimen in Vier-Bett-Zimmern. Der Leidensdruck war hoch. Da bedurfte es für eine Explosion nur noch eines Streichholzes.
Was war dieses Streichholz?
Im Sommer 1973 lief eine Welle „wilder Streiks“ durch Nordrhein-Westfalen. Deren Kern war die Forderung nach einem Teuerungsausgleich, weil angesichts eines mit heute vergleichbaren Inflationsanstiegs der Tarifabschluss, den die IG Metall Anfang des Jahres abgeschlossen hatte, einfach zu gering ausgefallen war.
Kurz bevor es bei Ford losging war es bereits zu spontanen Arbeitsniederlegungen unter anderem bei den Autozulieferern Hella in Lippstadt und Pierburg in Neuss, beim Gelsenkirchner Küchengerätehersteller AEG-Küppersbusch und bei Opel in Bochum gekommen. Vielen dieser „wilden Streiks“ war gemeinsam, dass sie maßgeblich von migrantischen Beschäftigten getragen wurden – bei Hella und Pierburg übrigens überwiegend von Migrantinnen – und sie mit harten Konflikten bis hin zu Polizeieinsätzen verbunden waren, aber ebenso, dass sie erfolgreich waren. Das motivierte auch in Köln.
Warum „wilde Streiks“?
Das Tarif- und Arbeitskampfrecht verpflichtet die Gewerkschaften während der Laufzeit eines Tarifvertrags zur Friedenspflicht, illegalisiert spontane Arbeitsniederlegungen und verbietet offizielle gewerkschaftliche Unterstützung. Als „wild“ titulieren sie Arbeitgeberverbände und Medien. Diese „wilde Streikwelle“ – 1973 bundesweit über 400 – veranlasste die ARD-„Tagesschau“ zeitweise sogar zur Veröffentlichung einer Streikkarte vor dem Wetterbericht: Aufgesteckte Nadeln dokumentierten die täglich gerade streikenden Betriebe!
Seit Ende der Werksferien steuerte auch Ford auf einen solchen „wilden Streik“ zu, mit dem Verhandlungsdruck für eine Teuerungszulage und die Kontrolle der Bandgeschwindigkeit durch die Arbeiter erzeugt werden sollte. Die willkürliche Entlassung von dreihundert türkeistämmigen Beschäftigten, die zu spät aus dem Urlaub zurückgekehrt waren, heizte die Stimmung zusätzlich auf.
Wieso die Entlassungen?
Aufgrund der Kürze der Werksferien von nicht einmal einem Monat und der langen Reise mit dem Auto oder dem Zug in die Heimat war es üblich, dass etliche „Gastarbeiter“ verspätet zurückkamen. Ford hatte das bis dahin immer toleriert. Doch angesichts rückläufiger Aufträge wollte der Konzern diesmal die Gelegenheit zum kostengünstigen Personalabbau nutzen. Von 3.000 Verspäteten wurden willkürlich 300 abfindungsfrei rausgeschmissen.
Den gängigen Darstellungen nach begann der Streik in der Endmontagehalle Y mit einer spontanen Arbeitsniederlegung eines linken türkischen Kollegen, dem sich dann nach und nach andere türkische Kollegen anschlossen.
Die Atmosphäre nicht nur in der Y-Halle, in der 5.000 Menschen arbeiteten, war wie in einem Kessel, der bei jedem Funken explodieren kann. Und in diesem Fall gab es gleich mehrere Funken: Eine Gruppe junger Vertrauensleute und Betriebsräte hatte ohnehin eine spontane Arbeitsniederlegung für die Freitagsspätschicht am 24. August hinter dem Rücken des Betriebsratsvorsitzenden geplant. Heftige Debatten wegen der Entlassungen, der Mehrarbeit, dem Arbeitsdruck und die Forderung nach einer Teuerungszulage führten dann zu einem solidarischen Streikauftakt migrantischer wie deutscher Arbeiter.
Erst bei der Sichtung der Archive der IG Metall Köln sind Sie darauf gestoßen, dass Vertrauensleute und Betriebsräte den Ford-Streik maßgeblich initiiert haben. Warum ist das nicht früher bekannt geworden?
Das Bild des absolut spontan ausgebrochenen Streiks ist einfach schöner. Außerdem gab es niemanden, der ein Interesse an einem anderen Bild hatte.
Warum nicht?
Zentral für die „Gastarbeiter“ war die Selbstermächtigung, die dieser Ausstand für sie bedeutete. Für die Migranten spielte es auch in der Nachbetrachtung einfach keine Rolle, was Vertrauensleute zu Streikbeginn in der Y-Halle organisiert haben. Für linke Gruppen, die sich über Jahrzehnte intensiv mit dem Ford-Streik beschäftigt haben, war er hingegen stets der realisierte Traum einer „direkten Aktion“. So entstanden etliche Mythen. Ein vermeintlich von jeglicher gewerkschaftlichen Organisierung völlig losgelöster eruptiver Ausbruch gehört dazu. Befördert wurde diese Wahrnehmung natürlich auch vom schwierigen Umgang der IG Metall mit dem Streik.
Inwiefern?
Selbstverständlich konnte und wollte die Führung der IG Metall nicht zugeben, dass ein von ihr abgelehnter „wilder Streik“ von Gewerkschaftern maßgeblich vorbereitet worden ist. Die linken IG Metall-Vertrauensleute und -Betriebsräte wiederum hatten das Problem, dass sie ja etwas Illegales initiiert hatten. Das sollte von Anfang an nicht herauskommen. Nicht unterschätzt werden darf dabei, dass sie befürchten mussten, von Ford in Regress genommen und mit millionenschweren zivilrechtlichen Schadensersatzprozesses überzogen zu werden.
Aber deswegen hätten sie doch nicht bis heute schweigen müssen.
Bei einer 30-jährigen Verjährungsfrist finde ich es schon verständlich, dass sie lange geschwiegen haben. Allerdings hat der damalige Vertrauenskörperleiter und spätere Ford-Gesamtbetriebsratschef Wilfried Kuckelkorn bereits 2006 in einem Interview erstmals eingeräumt, dass der Streik von ihm mitinitiiert worden ist. Das ist aber öffentlich nicht wahrgenommen worden. Die internen Dokumente der IG Metall, die ich inzwischen einsehen konnte, bestätigen seine Darstellung.
Dann muss die Geschichte jetzt umgeschrieben werden?
Nein, sie sollte aber ergänzt werden. Der „wilde Streik“ bei Ford kam nicht aus heiterem Himmel, sondern war geplant, hat sich dann jedoch verselbstständigt. Das ursprünglich nur von Freitag bis Montag konzipierte Konzept einer „spontanen Arbeitsniederlegung“ scheiterte an der harten Haltung des Ford-Konzerns. Statt wie erhofft bis zum Ende der montäglichen Frühschicht erste Verhandlungserfolge präsentieren zu können, biss der Betriebsrat auf Granit. Das radikalisierte die migrantischen Beschäftigten in ihren Forderungen und Protestformen. Sukzessive etablierte sich eine Logik des „Aufstands“.
Mit der spontanen Wahl einer 14-köpfigen Streikleitung, die aus neun türkischen, zwei italienischen, einem jugoslawischen und zwei deutsche Kollegen bestand, etablierte sich ein von gewerkschaftlichen Zusammenhängen gänzlich abgelöster Akteur des Aufstandes, der nun in Konfrontation mit dem Betriebsrat und der Vertrauenskörperleitung das Verhandlungsmandat beanspruchte.
Vor allem aber organisierte er die Fortsetzung des Streiks als flexible Fabrikbesetzung: Werkstore wurden besetzt, türkische Streikposten übernahmen die Ausweiskontrolle, ließen Beschäftigte zu den Schichtwechseln zur Streikfortsetzung ins Werk, verhinderten aber auch zum Teil militant, dass Beschäftigte das Werk verlassen konnten.
Warum hat sich der Ford-Konzern nicht auf Verhandlungen eingelassen?
Ford war nicht an einer Verständigung interessiert, sondern wollte den Protest mit allen Mitteln brechen. Dazu gehörte die Isolierung der aktiv Streikenden von der Restbelegschaft durch faktische Aussperrung, die Aufhetzung der deutschen gegen die migrantischen Beschäftigten und eine mediale Propagandakampagne, wo dann in Zeitungen vom „Türkenterror“ zu lesen war.
Das kulminierte in der heimlichen Organisation einer Gegendemonstration von leitenden Angestellten, Meistern, Werkschutz und zivilen Polizeikräften am Streikdonnerstag. Die führte zu einer wilden Schlägerei, die die erwünschte Legitimation für den Polizeieinsatz lieferte, der den Streik schließlich gewaltsam beendete.
Was waren die Folgen des Streiks?
Die unmittelbare Folge des Streiks war eine unglaublich harte Spaltung zwischen den deutschen und den türkischen Arbeitern. Die ersten Vollversammlungen der gewerkschaftlichen Vertrauensleute nach dem Streik prägte die tiefe Enttäuschung der türkischen Beschäftigten, dass sich die Deutschen an der Fabrikbesetzung nicht beteiligten, passiv abwarteten oder sich sogar offen entsolidarisierten. Wieder zusammen zu finden, war nicht leicht.
Trotz des desasterhaften Endes führte der Ford-Streik jedoch auch zu einer neuen Sicht auf die „Gastarbeiterfrage“ und zu einem anderen Umgang mit den Arbeitsmigranten, bei einem Konzern wie Ford ebenso wie in den Gewerkschaften. 1978 wurde mit Salih Güldiken der erste türkeistämmige Arbeiter für die IG Metall in den Aufsichtsrat von Ford berufen.
Wie ist es denn heute um das Verhältnis zwischen den deutschen und den migrantischen Beschäftigten bei Ford bestellt?
Das ist eine völlig andere Welt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die nachfolgenden migrantischen Generationen eine Berufsausbildung gemacht haben und nach und nach auch in die qualifizierten Arbeitsbereiche hineingekommen sind. Heute sitzt im Ford-Aufsichtsrat ein türkeistämmiger Betriebsrat einer türkeistämmigen Vertreterin der Arbeitgeberseite gegenüber. Da geht es also nicht mehr um die Frage der Herkunft, sondern ausschließlich um die unterschiedlichen Interessen zwischen Arbeit und Kapital.
Ende gut, alles gut?
Nein, sicher nicht. Ethnische Spaltungen, rassistische Diskriminierungen, heterogene Interessen und Erfahrungen in immer neuen Branchen und Unternehmen müssen thematisiert und solidarisch überwunden werden. Die Aufarbeitung von Erfolgen und Niederlagen in solchen Kämpfen ist dafür unverzichtbar.
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