Kluger Umgang mit Migration: Grüne sind nicht der Gegner
Die EU-Migrationspolitik sollte reale Alternativen zur Abschreckung ins Auge fassen. Das heißt: zirkuläre Mobilität aus Afrika zu erlauben.
Z u Recht wird derzeit massive Kritik an der geplanten EU-Asylreform geübt, ist doch eine abermalige Verschärfung der ohnehin dramatischen Situation auf den Migrationsrouten zu befürchten. Dies umfasst nicht nur die nahezu täglichen Bootsunglücke oder Folterlager in Libyen.
Auch die Situation in der Wüste wird immer prekärer, vor allem im Niger, dem wichtigsten Transitland für Migrant:innen aus West- und Zentralafrika: Dort wurde auf Druck der EU 2015 ein Gesetz verabschiedet, das die bis dahin völlig legalen Dienstleistungen für Migrant:innen unter Strafe stellt: Viele der über Nacht zu Kriminellen erklärten Transporteure, Hostelbetreiber:innen oder Händler:innen büßten ihre Existenzgrundlagen ein, die Wüstendurchquerung wurde lebensgefährlich, und in Agadez hat sich die Bevölkerung durch hängengebliebene und rückgeschobene Migrant:innen binnen weniger Jahre mehr als verdoppelt.
Im Zentrum der Debatte stehen paradoxerweise die Grünen, obwohl sie die Einzigen im etablierten Parteienspektrum sind, die erklärtermaßen eine andere Vorgehensweise bevorzugen würden, sollten dies die politischen Mehrheitsverhältnisse in Europa hergeben. Charlotte Wiedemann etwa meinte an dieser Stelle, dass eine „universalistische Ethik der Gerechtigkeit“ bei den Grünen „keine Heimat mehr“ hätte. In der Tat, die EU-Pläne sind abgründig, doch die Fokussierung auf die grüne Partei lässt die Frage (unfreiwillig) in den Hintergrund treten, worin denn eine reale Alternative zur Abschreckungspolitik bestehen könnte.
Die Logik wird komplett verkannt
Olaf Bernau
ist bei Afrique-Europe-Interact aktiv und hält sich regelmäßig in Mali und Niger auf. 2022 ist bei C. H. Beck sein Buch „Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte“ erschienen.
Eine generelle Antwort gibt es nicht, dafür sind die Migrationsdynamiken aus den einzelnen Weltregionen viel zu unterschiedlich. Erforderlich ist vielmehr ein geografisch ausdifferenzierter Blick, etwa auf Westafrika, wozu Länder wie Nigeria, Mali oder die Elfenbeinküste gehören.
Von dort kommen zwar nicht die meisten Migrant:innen, aber die südliche Außengrenze spielt in der öffentlichen Debatte seit jeher eine prominente Rolle. Gleichzeitig tritt dort die Widersprüchlichkeit europäischer Migrationspolitik offen zutage. Denn die Logik westafrikanischer Migration wird umfassend verkannt. Migration hat hier eine jahrhundertelange Geschichte, sie ist schon immer eine Überlebensstrategie, allerdings keine, die als negativ empfunden würde.
Im Gegenteil: Migration ist Teil des Lebenszyklus, mancherorts müssen junge Männer sogar temporär migrieren, um heiraten zu können – meist innerhalb Westafrikas, selten bis nach Europa. Migration wird hier gemeinhin als zirkulär gedacht, ein Sprichwort in Mali besagt, dass Migration bedeutet, vom ersten Tag der Migration an die Rückkehr vorzubereiten. Die Leute gehen, um etwas zu lernen oder um ihre Familien unterstützen zu können. 2019 machten Rücküberweisungen in Nigeria 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, in Mali 5,5 Prozent und in Gambia 14,9 Prozent.
Und noch etwas ist wichtig: Migration ist eine Antwort auf schmerzlich erlebte Perspektivlosigkeit, die sich nicht durch Zäune steuern lässt, wie die Aussage eines jungen Senegalesen in der lesenswerten UN-Studie „Scaling Fences“ deutlich macht: „Am Ende wollen wir alle das Gleiche im Leben: Gesundheit, gute Jobs und die Freiheit, für uns und unsere Familien das Beste rauszuholen. Und weil viele Leute das Gefühl umtreibt, diese Möglichkeiten in Afrika nicht zu haben, gehen sie nach Europa.“
Angesichts solcher Erfahrungen wird begreiflich, warum die EU-Migrationspolitik einem moralischen Bankrott gleichkommt. In Westafrika ist Migration normal, umzukehren ist undenkbar, wer mit leeren Händen nach Hause kommt, gilt als Versager. Repression kann zwar die Wege teurer, länger und gefährlicher machen, nicht aber Menschen aufhalten. Das zeigen auch Zahlen, die seit der Jahrtausendwende teils höher, teils niedriger sind, jedoch nie verebben.
Was ebenfalls nicht ausreicht, ist die viel zitierte Fluchtursachenbekämpfung. Diese spielt zwar eine wichtige Rolle, gerade mit Blick auf Perspektivlosigkeit. Wer sich freilich erhofft, so Ankunftszahlen drücken zu können, verkennt das in der Wissenschaft schon lange als „Migrationsbuckel“ bekannte Phänomen, wonach die meisten Migrant:innen nicht aus den ärmsten, sondern etwas besser situierten Ländern wie Mexiko oder Ägypten kommen. Was also tun?
Die Grünen dürften die EU-Asylreform nur um den Preis blockieren können, dass sie an den Urnen abgestraft würden, was aber mit Blick auf die Klimapolitik nicht wirklich zu hoffen ist. Zielführender scheint es, für echte Fluchtursachenbekämpfung sowie einen schrittweisen Rückbau des Grenzregimes zu werben, also die zirkuläre Migration zuzulassen, die ohnehin der historische Normalzustand ist.
Es gibt schon wichtige Traktate, die sich dafür aussprechen. Aber häufig wird vor allem menschenrechtlich argumentiert, ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass es in Regionen wie Westafrika bis heute normal ist, zu kommen und zu gehen. Nur wenn Menschen die Möglichkeit haben, geregelt zu wandern, werden sie auf gefährliche Wege verzichten. Denn dann können sie erfolgreich sein und mit vollen Händen zurückkehren.
Konkreter: Migrationswillige müssen bereits zu Hause Zugang zu Sprachkursen und berufsvorbereitenden Maßnahmen erhalten. Rückkehrwillige sollten robuste finanzielle Unterstützung erfahren, vor allem dürfen sie nicht zur Rückkehr gedrängt werden. Denn eine Existenzgründung ist nie einfach, auch hierzulande scheitern 80 von 100 Unternehmen in den ersten 5 Jahren. Insofern muss auch das Recht bestehen bleiben, wieder nach Europa zurückzukehren – egal aus welchen Gründen. Denn wer seinen Aufenthaltsstatus aufgeben muss, um Rückkehrunterstützung zu erhalten, wird sich nicht auf das Wagnis der zirkulären Migration einlassen, die nicht nur in Westafrika zum ökonomischen, sozialen und kulturellen Erbe gehört.
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