Tunesien deportiert Migrant:innen: In die Wüste verschleppt
Tunesien setzt Migrant:innen im Grenzgebiet zu Libyen aus. Menschen in der Region machen entsetzliche Funde, wie neue Videos und Fotos zeigen.
Immer am Nachmittag entdeckt Rizq in weiter Ferne eine Gruppe Menschen, erst nur kleine Punkte am Horizont. Viele Stunden dauert es, bis man sie in der vor Hitze flimmernden Wüstenlandschaft besser erkennen kann. Wie in Zeitlupe schleppen sie sich zur Grenze.
Manchmal folgen den Vertriebenen in großem Abstand Jeeps der tunesischen Nationalgarde, um sie von der Rückkehr in die tunesischen Küstenstädte Sfax oder Zarzis abzuhalten. Wasser, so sagt es ein libyscher Grenzbeamter der taz, bekommen sie nicht.
„Schande für Tunesien und Europa“
In einem anderen Video stehen plötzlich drei ausgemergelte Gestalten vor Rizq. Sie berichten den libyschen Beamten, in Sfax gelebt und gearbeitet zu haben. Vor drei Wochen seien sie von einem Mob mit Gewalt aus ihren Wohnungen auf die Straße getrieben worden. Dann habe man sie mit Hunderten weiteren Menschen in einen Bus getrieben und an der 400 Kilometer entfernten Grenze zu Libyen rausgeworfen.
„Kommt niemals zurück“, habe ein tunesischer Uniformierter ihnen hinterhergerufen, erzählt ein erschöpfter Mann aus der Elfenbeinküste in dem ersten Video. Auf dem Arm hält er ein Baby, mit einem Tuch notdürftig vor der Sonne geschützt. Mehrmals pro Woche begegnen den libyschen Grenzwächtern völlig entkräftete Migrant:innen. Sie bringen sie in ein provisorisches Lager in der libyschen Stadt Zuwara.
Empfohlener externer Inhalt
Rizq hält die Koordinaten seines GPS-Empfängers in die Kamera und wendet sich direkt an die Verantwortlichen in Tunis und Brüssel. „Wir finden fast täglich verdurstete Migranten. Sie wurden ohne Wasser in den Tod geschickt. Das ist eine Schande für Tunesien und Europa.“
Es ist nicht das erste Mal, dass Migrant:innen mit Gewalt aus Tunesien vertrieben werden. Präsident Kais Saied hatte im Februar die aus Libyen nach Tunesien Geflohenen oder ohne Visum aus Westafrika nach Tunesien Eingereisten der Verschwörung gegen die arabische und islamische Kultur des Landes bezichtigt. Die illegale Migration müsse beendet werden, sagte Saied damals. Viele der Menschen hielten sich seitdem in Sfax auf, das bis vor kurzem als Zufluchtsort galt.
Die aktuellen Deportationen aus der tunesischen Hafenstadt hatten Anfang des Monats begonnen und hängen offenbar auch mit dem Tod eines Tunesiers zusammen, der bei einer Auseinandersetzung mit drei Kamerunern Anfang Juli ums Leben kam. Ohne Absprache mit den algerischen und libyschen Behörden setzt Tunesien die Menschen seitdem in Grenzgebieten aus und überlässt sie dort sich selbst.
Von Mobs vertrieben
An der libyschen Grenze bei Ras Jadir trafen die libyschen Grenzbeamten Anfang Juli plötzlich auf Hunderte Menschen, die an einem Strandabschnitt ohne Wasser oder medizinische Hilfe ausharrten. Einige von ihnen waren von den Mobs in Sfax nicht nur vertrieben, sondern auch verwundet worden.
Mindestens zwanzig Leichen sollen die libyschen Patrouillen in dem Grenzgebiet bereits gefunden haben. Auch Bewohner der Wüstenoase Tataouine entdeckten offenbar mehrere Menschen, die an Erschöpfung gestorben waren. Ein von einem libyschen Offizier aufgenommenes Foto von Fati Dosso aus der Elfenbeinküste, die zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter Marie verdurstete, führte in Libyen zu einer Welle der Empörung. Arm in Arm lagen Mutter und Tochter im Sand.
Empfohlener externer Inhalt
In Libyen fragen sich nun viele, warum die tunesischen Behörden direkt vor dem Abschluss eines Migrationsabkommens mit der EU Migrant:innen nach Libyen abschieben will. Am 17. Juli hatte Tunesien mit Brüssel vereinbart, die in diesem Jahr drastisch gestiegene Zahl der Abfahrten von Schlepperbooten zu reduzieren, und erhofft sich dafür Zahlungen von über einer Milliarde Euro.
„Wir haben selbst 700.000 Migranten in Libyen“, sagt ein Beamter der Behörde gegen illegale Migration in der Hafenstadt Zuwara der taz. „Stellen Sie sich vor, wir würden Tunesiens Beispiel folgen und anfangen, tausende Migranten an der Grenze auszusetzen. Es wäre ein Desaster für Libyens Nachbarländer. Diese unmenschlichen Deportationen müssen sofort enden.“
Nach Berichterstattung des Fernsehsenders Al Jazeera über die Deportationen lenkte Tunesien zunächst ein und evakuierte die Ausgesetzten wieder aus dem Grenzgebiet. Die weltweite Kritik am Vorgehen der tunesischen Behörden hat die Regierung wohl aufschrecken lassen. Wichtige Kredite schienen in Gefahr.
Ein Sprecher der Organisation Roter Halbmond behauptete, man habe alle Migrant:innen gerettet. Die Videos der libyschen Grenzbeamten deuten allerdings auf einen Strategiewechsel Saieds hin: Die Menschen werden nun in unauffälligeren kleineren Gruppen durch die Wüste nach Libyen geschickt. Berichte über die gefundenen Toten bezeichnete der tunesische Präsident auf einer Konferenz in Rom am vergangenen Sonntag als Propaganda.
Auf dem von der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni einberufenen Treffen hatten rund zwanzig teilnehmende Staaten am Sonntag bekräftigt, beim Thema Migration künftig enger zusammenarbeiten zu wollen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bemerkte bei der Gelegenheit, dass das eine Woche zuvor mit Tunesien unterzeichnete Abkommen als Vorbild für die Kooperation der EU mit den Ländern der Region dienen solle.
Brüssel will trotz der Deportationen aus Sfax über eine Milliarde Euro an die tunesische Regierung überweisen und bei der Beendigung der Wirtschaftskrise helfen. Tunesien verpflichtet sich im Gegenzug, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen und stärker gegen Schleppernetzwerke vorzugehen.
„Wir müssen ihr zynisches Geschäftsmodell zerstören“, sagte von der Leyen in Rom und versprach, mit neuen Ansätzen die steigende Migration über das Mittelmeer zu reduzieren: „Die Eröffnung neuer legaler Routen zwischen den Kontinenten kann eine sichere Alternative zu den gefährlichen Seereisen sein.“
Gewerkschaft UGGT auf brutalem Kurs
Das einzige sichtbare Resultat des Abkommens der EU mit Tunesien sei, „dass wir Migranten nun ständig auf der Flucht sind“, klagt ein Mann in Sfax gegenüber der taz. „Die Wege nach Süden gen Libyen und nach Norden gen Tunis sind für uns versperrt, also bleibt nur der Weg mit dem Boot nach Europa.“
In Tunesien schließen sich offenbar nun auch die Gewerkschaften dem brutalen Kurs gegen Migrant:innen an. Bei einer Fahrt durch Vororte der Grenzstadt Ben Guerdane stieß die taz auf mehrere Gruppen von Migrant:innen, die nachts aus der Grenzregion geflohen waren. Die dort vom Roten Halbmond eingerichteten Notquartiere sollen nach Protesten der Bevölkerung und der Gewerkschaft UGGT wieder geschlossen werden.
Trotzdem kommen aktuell wieder mehr Menschen in Sfax an. In tagelangen Fußmärschen bringen sie sich vor der Willkür libyscher Milizen in Sicherheit. „Überall trifft man auf verzweifelte Menschen“, berichtet ein Mann in Ben Guerdane der taz. Weil sich die Lage in Sfax seit Anfang Juli etwas beruhigt hat, scheinen auch wieder mehr Boote in Richtung der italienischen Insel Lampedusa abzulegen.
Omnia aus Khartum bestätigt das. Die 25-jährige Sudanesin arbeitet auf dem Kleidungsmarkt am Bab-Jebli-Platz, auf dem sich allabendlich Hunderte obdachlose Migrant:innen aufhalten, um auf den Bürgersteigen und Rasenflächen des Kreisverkehrs zu übernachten. Tunesier:innen dürfen seit Februar, dem Beginn der Kampagne Kais Saieds gegen illegale Migration, Menschen ohne offizielle Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis weder beschäftigen noch unterbringen.
Seitdem die Deportationen aus Angst vor negativer Medienberichterstattung nur noch im kleineren Maßstab stattfinden, hat sich das Verhältnis der Bewohner:innen von Sfax und den Migrant:innen wieder etwas normalisiert. Eine Bürgerinitiative verteilt Wasser an die Obdachlosen, heimlich vermieten Wohnungsbesitzer:innen auch wieder an die mehreren Tausend Migrant:innen in der Stadt.
„Dafür sind die Schlepper nun brutaler“, sagt Ali aus Khartum. „Einer von ihnen hat uns in einem Garten vor der Polizei versteckt. Für den schattigen Platz unter einem Baum mussten wir fünf Dinar am Tag zahlen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf