Klimaforscherin über Kipppunkte: „Die Bauklötze stürzen ein“
Klimaforscher:innen reden von unterschiedlich vielen Kipppunkten. Ricarda Winkelmann erklärt, warum das so ist, und räumt mit Unklarheiten auf.
taz: Frau Winkelmann, was sind „Kipppunkte im Weltklimasystem“?
Ricarda Winkelmann: Das Überschreiten von Kipppunkten gehört zu den größten Risiken des menschengemachten Klimawandels. Denn zentrale Teile des Klimasystems – wie etwa die Eisschilde von Grönland und der Antarktis, die atlantische Ozeanzirkulation oder der Amazonas-Regenwald – können höchst nichtlinear reagieren: Wenn diese Systeme sich erst einmal in einem kritischen Zustand befinden, also nahe ihres Kipppunktes, reicht eine kleine Störung, wie zum Beispiel eine kleine Änderung in der Temperatur, aus, um weitreichende, teils unumkehrbare Folgen auszulösen. Man kann das auch mit einem Turm aus Bauklötzen vergleichen: Noch ein Klotz oben drauf und noch einer – das geht lange gut. Doch irgendwann fängt der Turm an zu wackeln und schließlich stürzt er ein.
37, ist Professorin für Klimasystemanalyse an der Universität Potsdam.
Wann wurden solche Kippelemente im Klimasystem entdeckt?
Tatsächlich gab es bereits im vergangenen Jahrhundert ein tiefes Verständnis für Kippelemente und die Mechanismen, die selbstverstärkenden Änderungen im Klimasystem führen können. In einer Studie im Jahr 2008 wurden dann erstmals systematisch eine ganze Reihe solcher potenzieller Klima-Kippelemente identifiziert. Seitdem sind zahlreiche Studien erschienen, die sowohl aus Beobachtungsdaten lange zurückliegender Zeiträume als auch mit immer ausgefeilteren theoretischen Methoden und Modellen die Existenz solcher Kippelemente immer weiter bestätigt haben.
Eine Gruppe von Kippelementen sind Arktis und Antarktis. Was genau kann dort kippen und warum wäre das unumkehrbar?
Beide Eisschilde haben über die letzten Jahrzehnte zunehmend an Masse verloren. In Grönland ist eine der Hauptursachen hierfür verstärktes Schmelzen an der Eisoberfläche – dieses kann ab einem bestimmten Punkt eine selbstverstärkende Dynamik auslösen. Den Mechanismus dahinter kennen wir vom Bergsteigen: Wenn man vom Gipfel ins Tal hinabsteigt, wird es immer wärmer um einen herum. Genauso ist es bei der Eisoberfläche. Durch das Schmelzen kann auch diese in tiefere Lagen und damit wärmere Schichten gelangen, dadurch kommt es zu weiterem Schmelzen, die Eisoberfläche sinkt weiter ab – und so weiter und so fort. Ab einem bestimmten Punkt lässt sich diese Rückkopplungsschleife vermutlich kaum noch aufhalten. Doch wichtig ist: Auch wenn der Eisverlust auf langen Zeitskalen geschieht, die entsprechende Menge von CO2 in unserer Atmosphäre, die diesen Prozess anstößt, könnten wir schon in naher Zukunft erreichen. Unser Handeln heute entscheidet daher darüber, wie sich das Gesicht unseres Planeten über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende verändert.
Was gibt es noch für Kippelemente?
Zu den Kippelementen gehören neben den Eisschilden auch wichtige Ozean-Strömungssysteme wie die Atlantikzirkulation und Teile der Biosphäre, wie zum Beispiel der Amazonas-Regenwald. Ein großer Teil des Niederschlags dort stammt aus dem Wasser, das über dem Wald verdunstet. Sterben Teile des Regenwalds – durch Hitze und Dürre oder durch Abholzung –, können auch hier selbstverstärkende Prozesse in Gang gesetzt werden. Schlussendlich kann dies dazu führen, dass diese für uns alle so wichtige Kohlenstoffsenke zu einer Kohlenstoffquelle wird, also der Amazonas-Regenwald den gespeicherten Kohlenstoff wieder freigibt. Das heizt den Klimawandel weiter an.
Sind die einzelnen Kippelemente in sich geschlossene Klimasysteme oder hängt alles miteinander zusammen?
Das Klimasystem ist höchst interaktiv, die einzelnen Teile stehen in ständiger Wechselwirkung miteinander. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn große Teile des grönländischen Eisschildes schmelzen und das Schmelzwasser in den Ozean gelangt, kann dies die Atlantikzirkulation verlangsamen. Diese Zirkulation versorgt Europa wie eine Wärmepumpe mit Energie aus der Karibik. Eine Abschwächung der Atlantikzirkulation hätte damit direkte Konsequenzen auch für unser Klima hier in Deutschland.
Die Wissenschaft benennt mal 16 Kippelemente im Weltklima, mal 17, dann wieder 19. Wie viele sind es denn nun?
In einer unserer letzten Studien zum Thema identifizieren wir 16 Kippelemente. Sie sind unterteilt in globale Kippelemente, deren Veränderung sich auf das gesamte Weltklimasystem auswirkt, und in regionale Kippelemente, wie etwa das Korallensterben oder der Verlust von Gebirgsgletschern. Ob man insgesamt einige Kippelemente mehr oder weniger zählt, hängt im Detail von der jeweils verwendeten Definition ab.
Die Studie, an der Sie mitgeforscht haben, hat für recht viel Aufsehen gesorgt. Was war das Ergebnis?
Unsere Studie zeigt, dass die Begrenzung auf zwei Grad Temperaturanstieg nicht ausreicht, um alle Kippelemente stabil zu halten. Insbesondere für die Eisschilde, die Korallen und den Permafrost könnte das schon zu viel zu sein.
Ein Grad mehr, zwei Grad mehr oder drei Grad mehr – woher wissen wir, bei welcher Temperatur ein Kipppunkt liegt?
Ganz genau können wir die kritischen Schwellenwerte zwar noch nicht abschätzen, klar ist jedoch: Jedes Zehntelgrad mehr erhöht das Risiko, dass einzelne Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden. Insbesondere deuten erste Risikoanalysen darauf hin, dass die Gefahr von möglichen Klima-Domino-Effekten, bei der ein Kipppunkt einen anderen auslöst, bereits im Temperaturbereich des Pariser Klimaabkommens zwischen 1,5 und 2 Grad deutlich zunimmt.
Ist das Pariser Klimaabkommen mit dem Beschluss, dass die globale Durchschnittstemperatur nicht mehr als „möglichst 1,5 Grad“ ansteigen darf, auch ein Erfolg für die Wissenschaft?
Es ist ein entscheidender Anfang. Wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreicht werden, können die schlimmsten Konsequenzen vermutlich noch abgewendet werden. Doch dafür müssen wir unsere gemeinsamen Anstrengungen drastisch verstärken, um die Treibhausgasemissionen bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren und bis 2050 netto null zu erreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid