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Klassikfestival in SotschiLost in Andante

Unser Autor, dem Russisch und Mozart fremd sind, war zu Gast bei einem Klassikfestival in Sotschi. Dort hat er Bratschen gesehen und Putin verpasst.

Die Schießbuden gehören zu den wenigen geöffneten Läden Foto: Michael Brake

Sotschi taz | Beim Einchecken im Fünfsternehotel fragt mich die Frau an der Rezeption, ob ich ein Glas Champagner möchte. „Is it Russian?“, frage ich. – „Sure. From Crimea.“ Cheers.

Zweimal schon stand ich direkt an der russischen Grenze, einmal auf der Kurischen Nehrung und einmal in der Inneren Mongolei. Jetzt bin ich drin. In Sotschi, am Schwarzen Meer. Am Flughafen werde ich zum allerersten Mal in meinem Leben mit einem Namensschild empfangen und traue mich nicht, davon ein Foto zu machen. Bezahlt hat die Reise das „Winter International Arts Festival“, dessen zehnte Ausgabe hier stattfindet.

Warum sie mich eingeladen haben, ist mir schleierhaft, denn ich kann kein Wort Russisch und habe von klassischer Musik, Ballett, Oper und was hier noch so aufgeführt wird, nicht die geringste Ahnung. Aber immerhin bin ich Kulturjournalist und kann im Westen davon berichten, welche hochklassigen Künstler aus der ganzen Welt hier auftreten und wie schön es in Russland ist, wie gut die Hotels, vermutlich reicht das.

Sotschi ist die 52stgrößte Stadt des Landes, aber sie wird als Schaufenster des neuen russischen Reiches aufgebaut, mit Olympischen Winterspielen, Formel-Eins-Rennstrecke, Schach-WM und bald auch als Spielort der Fußball-WM. Vermutlich haben sie Zehntausende Journalisten eingeladen.

Ein Meer wie eine Kulisse

Das Fünfsternehotel hat einen beheizten Außenpool mit Meerblick, eine Infrarotsauna, eine Eierköchin im Frühstücksrestaurant und einen eigenen Strand. Im Zimmer sind die Lichtschalter kleine Konsolen mit vier Einstellungsmöglichkeiten, die sich in den Ursprungszustand versetzen lassen, wenn man die Zimmertür auf die richtige Weise öffnet und schließt. Bevor ich schlafen gehe, brauche ich fünf Minuten, um die Waschbeckenunterbeleuchtung auszukriegen.

Die Zeit bis zum Konzert verbringe ich am Schwarzen Meer. Mit dem Meer fing hier alles an, es lockte Bade- und Kurgäste. Sechs Millionen im Jahr kamen zu Sowjetzeiten, vier Millionen sind es heute noch, fast nur Russen. Sotschi verspricht Glamour. Es ist mit 156 Kilometern der längste Kurort der Welt, gelegen an der Kaukasischen Riviera auf dem gleichen Breitengrad wie Nizza. Partnerstädte unter anderem: Rimini und Baden-Baden. Schon Stalin hatte hier ein Urlaubshäuschen.

Im Februar aber herrscht die gedämpfte Stimmung eines jedes verlassenen Sommerferienorts. Leere Straßen. Ein paar streunende Katzen, überraschend gutes Fell. Nicht mal Fischerboote oder Frachter. Eine Frau begeistert ihren Enkel damit, Tauben beim Füttern auf ihren Armen landen zu lassen. Zwei Jungs machen ein Selfie. Hier und da wird etwas repariert, schweißt jemand, wird ein Bürgersteig ausgebessert. Aber es macht nicht den Eindruck, als wäre im Sommer noch alles heile gewesen oder würde es im nächsten sein.

Die Klamottenläden an der Seepromenade haben auch im Winter geöffnet Foto: Michael Brake

An den Stränden, die aus vielen grauen Steinen bestehen, liegen verrostete kleine Treppen herum. Und dahinter das Schwarze Meer, mit dem etwas seltsam ist: Es sieht aus wie ein Meer, und es hört sich an wie ein Meer. Aber es riecht nicht nach Meer, und es fehlt auch der harte auflandige Wind, den man etwa vom Atlantik kennt. Das Schwarze Meer ist wie eine Kulisse, genau wie der unvermittelt aufsteigende Kaukasus auf der anderen Seite der Stadt.

Eisbär, Leopard und Hase

Geöffnet haben an der Uferpromenade ein paar Restaurants, öffentliche Toiletten, vor denen alte Frauen sitzen, Schießbuden, in denen junge Frauen sitzen und riesige Teddybären, außerdem Klamottenläden. Ein beliebtes Motiv zeigt Eisbär, Leopard und Hase, die drei olympischen Maskottchen, unter dem Slogan „Sochi 2014 – City of the Future“. Und dauernd schaut mich Juri Baschmet an. Er ist der künstlerische Leiter des Winter Arts Festival, einer der wichtigsten Bratschisten der Welt, als Dirigent hat er mit seinen Moskauer Solisten 2008 einen Grammy gewonnen.

taz.am Wochenende

Es läuft und läuft und läuft. Seit 200 Jahren. Warum wir das Fahrrad lieben und warum es mehr Platz braucht, das lesen Sie in der taz.am Wochenende vom 4./5. März. Außerdem: Der Abgasskandal bei Volkswagen könnte kaum größer sein - das Aufklärungsbedürfnis der Politik schon. Und: Die Geschichte eines Mannes, der sein halbes Leben im Wald hauste und die andere Hälfte im Gefängnis war. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Juri Baschmet war auch Fackelläufer vor den Olympischen Winterspielen und hat 2014 mit 500 anderen russischen Kulturschaffenden einen offenen Brief unterschrieben, der Putins Krimpolitik unterstützt. Er ist der Posterboy des Winter-Festivals. Der Maestro.

Ю́рий Башме́т. Jurij Baschmet. Das kyrillische Alphabet hatte ich vor 15 Jahren mal gelernt, und es braucht nicht mehr als eine Stunde Lektüre des Kommersant im Aeroflot-Flugzeug, um es, bis auf einige Feinheiten, wieder hochzuholen. Ich entwickele eine große Begeisterung dafür, alle Schilder, Aushänge, Straßennamen, Verpackungs- und Tankstellenbeschriftungen zu entziffern und freue mich, wenn verständliche Worte herauskommen. Минимаркет:Minimarket, Санаторий Авангард:Sanatorij Awangard, Пансионат:Pansionat.

Die gesprochene Sprache bleibt mir hingegen verschlossen, ich kann mich absolut nicht verständigen. Umgekehrt kann fast niemand Englisch, auch nicht die Garderobieren im Wintertheater, die mir Dinge sagen, als sie meine Jacke nehmen. Immerhin kann ich ihre Namen lesen, Натальяheißt eine. Natalja. Eine andere vermietet winzige goldene Operngläser, und neben den Toiletten hängt ein Parfümautomat. Es ist zwei Minuten vor Vorstellungsbeginn und in der kleinen Bar bestellen sich die Menschen neue Getränke.

Der Maestro und sein Pianist: Juri Baschmet (rechts) und Olli Mustonen Foto: Alexej Molchanowski

Ich sitze nur wenige Meter neben dem Platz, auf dem am Vortag Wladimir Putin saß. Er war wirklich da! Es ist nicht ganz ausverkauft und riecht unerklärlicherweise ein wenig nach Popcorn. Dann kommt Juri Baschmet herein, ein kleiner, geschäftiger Mann. Mit seinem beinahe knielangen schwarzen Hemd und dem großen Medaillon an der goldenen Halskette sieht er aus wie ein New-Age-Guru.

Genau drei Frauen spielen in seinem Orchester, sie haben verschiedenfarbige Kleider an. Die Männer hingegen sind alle gleich gekleidet, schwarzes Hemd, schwarze Anzughose. Wie Fußballer können sie sich nur über ihre Schuhe distinguieren, wobei sie die Varianten mattschwarz und glänzendschwarz zur Auswahl haben.

Kurze Verbeugung, und es wird losgespielt. Und auf einmal bin ich in Oldenburg, im Wohnzimmer hat sich meine Mutter zum Nachmittagsschlaf unter ihre dunkelblaue Decke gelegt und Mozart angemacht, die Ouvertüre der „Hochzeit des Figaro“. Den Namen des Stücks muss ich natürlich im Programmheft nachlesen, und wenn mir die anderen Journalisten nicht helfen würden, hätte ich auch nicht gewusst, dass sie das erste und letzte Stück des Abends getauscht haben.

Mozart, untenrum frei

Fünf Minuten dauert das, Applaus, danach gibt es erst mal Blumen und eine russische Rede vom Bürgermeister. Ich verstehe nur „Putin“, mehrfach „Sotschi“ und „Abramawitsch“. Baschmet antwortet, dieses Mal verstehe ich „Germanija“ und „Schubert“.

Im Laufe des Abends treten mehrere internationale Solisten gemeinsam mit dem Orchester auf, auf deren interna­tionale Auszeichnungen das Programmheft besonders hinweist. Es gibt einen aus dem Orchester, der den Roadie macht, der die Notenständer für die Solisten hinstellt, den Klavierdeckel zumacht und so weiter. Ich frage mich, wie der wohl bestimmt wird. Ist er der Neue? Oder geht das reihum, wie so Putzdienst in einer WG?

Vier Bläser spielen ein Konzert, das ich prototypisch für Mozart halte: alles so verspielt und vertüdelt, neckisch, immer hier noch ein Kringel und da noch ein Hupferl. Ich stelle mir vor, dass Mozart die Partitur komponiert hat, während eine seiner hundert Geliebten da ist, und er springt ab und zu auf und schreibt Noten auf einen Zettel, untenrum frei, aber mit Perücke auf.

Massimo Quarta, ein Italiener, der so klassisch aussieht, wie man sich einen klassischen Musiker nur wünschen kann, mit grauen Haaren, Anzug und Fliege, spielt ein dramatisches Stück von Paganini und guckt superernst dabei. Die Geige klingt metallisch und nicht so rund wie das Orchester.

Nach der Pause steht ein Flügel auf der Bühne. Davor ein Finne: Olli Mustonen. „Seine expressiven Interpretationen zeichnen sich durch heftige Ausbrüche und empfindsame Verhaltenheit aus“, steht über ihn im Internet. Das passt, er schaut während des gesamten Stücks unheimlich ergriffen, mal beseelt, mal leidend, und er macht Sachen mit seinen Händen, wenn er spielt, oder eigentlich: in dem Moment, in dem er sie von den Tasten nimmt. Es sieht aus, wie wenn man eine Marionettenpuppe bewegt, damit das Publikum aus dreijährigen Kindern versteht: Die-se Pup-pe spielt Kla-vier.

Das Notenblatt fällt

Ich bin fasziniert vom Aufwand des Notenumblätterns. Was da alles schiefgehen kann! Man hat zu trockene Finger für die Seite, oder nimmt zwei Seiten, oder alles fällt runter oder, oder!

Einmal dann spielt der Maestro selbst, Bratsche natürlich, in meinen Ohren etwas schief, aber ich habe ja keine Ahnung: Ist das „ein meisterhaftes Spiel der Dissonanzen, eine Offenbarung in Adagio“ oder „Juri Baschmet hatte einen schlechten Tag“? Der vorher so sanfte und gefällige Mozart, war er gut gespielt oder würden Kritiker es als „Biedermeier-Interpretation, vom Blatt gespielt, ohne eigenen Zugang“ bewerten? Es gibt jedenfalls frenetischen Applaus, und viele Frauen rufen „Bravo“, aber nicht sehr lange.

Am Ende noch Mozarts 40. Symphonie, das Ganze geht jetzt seit fast drei Stunden, es reicht auch mal, und dann passiert es: Dem Kontrabassisten, einem Zwei-Meter-Mann mit der Frisur und dem Gesicht des jungen Bill Murray, fällt tatsächlich ein Notenblatt herunter. Er nutzt Spielpausen, um es mit dem Fuß wieder ranzuholen und auf den Notenständer zu legen. Danach knarzt die linke Saite seines Basses.

Beim Sponsorendinner im Ballsaal des Fünfsternehotels höre ich mir die Meinungen der klassikbewanderten Mitjournalisten an. Konsens – wenn auch nur an diesem Abend: ein enttäuschendes Programm. Mozart, Paganini, Brahms, das sind Klassiker für jedermann, ein Greatest-Hits-Gemischtwarenladen, doch ist keine künstlerische Richtung, keine Botschaft erkennbar.

Geradezu peinlich war, dass der Flügel nach dem Klavierkonzert nicht von der Bühne geschoben wurde. Auseinander gehen die Meinungen über die technische Ausführung des Orchesters und über Olli Mustonen, der, immerhin, über jeden Verdacht der Gefälligkeit erhaben ist.

Hier endet Russland. Im Hintergrund die abchasischen Berge Foto: Michael Brake

Am Morgen des nächsten Tages fahren wir nach Adler, wo das Olympiagelände ist. Unser Reiseführer Alexei entschuldigt sich für sein schlechtes Englisch und schwärmt die meiste Zeit der Tour davon, wie schön Abchasien sei und dass wir wiederkommen sollen, damit wir mit ihm nach Abchasien fahren können.

Abchasien gehört zu Georgien, jedenfalls offiziell, aber es ist leichter, von Russland aus dorthin zu kommen, als aus Georgien. Auf dem Olympiagelände selbst liest Alexei einfach den ausgedruckten englischen Wikipedia-Artikel vor. So erfahren wir viermal, wie die Arenen heißen, wofür sie bei Olympia zuständig waren und wie viele Leute Platz in ihnen finden. Auch an die Grenze fahren wir: ein Zaun, der bis ins Schwarze Meer reicht, dahinter die abchasischen Berge. Der Kaukasus. So schön!

Es ist wieder komplett windstill und auf einmal mild wie im Frühling. So sieht es also von der anderen Seite aus.

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