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Kirchenasyl in GefahrEs braucht zivilen Menschenrechtsgehorsam

Gastkommentar von Andreas Lipsch

Die Praxis des Kirchenasyls ist fundamental gefährdet. Gemeinden müssen dieses und andere bedrohte Grundrechte verteidigen.

Foto: Igor Soban/imago

D as Kirchenasyl hat in den vergangenen Jahren einen besorgniserregenden Wandel erfahren. Dabei geht es nicht nur um die zunehmenden Räumungen, die verstärkten Abschiebungsandrohungen und die neu entfachte Debatte über das Kirchenasyl. Die Veränderungen sind fundamentaler: Sie betreffen die Praxis, die Funktion und die grundlegende Bedeutung des Kirchenasyls.

Lange Zeit wurde das „Kirchenasyl“, das natürlich kein Asyl im rechtlichen Sinne ist, als ein Dazwischentreten verstanden. Eine Kirchengemeinde tritt zwischen eine schutzsuchende Person und eine Behörde, wenn die begründete Befürchtung besteht, dass den Betroffenen durch eine Abschiebung schwerwiegende Gefahren für Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit drohen. So eröffnen Kirchengemeinden einen Schutzraum und sorgen für einen zeitlichen Aufschub, damit Behörden und eventuell Gerichte die Situation der betroffenen Personen noch einmal sorgfältig prüfen können.

Mit dem Dublin-Verfahren begann eine neue Phase des Kirchenasyls. Nun ging es nicht mehr „nur“ um Abschiebungen in Herkunftsländer, sondern auch – und bald mehrheitlich – um drohende Überstellungen in andere europäische Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang verabredeten das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und die Kirchen im Jahr 2015 eine neue Vorgehensweise.

Die Kirchen sagten zu, dass ihre Gemeinden ein Kirchenasyl im Dublin-Fall nicht leichtfertig gewähren, sondern in jedem Fall gewissenhaft prüfen würden, ob tatsächlich ein Härtefall vorliegt. Das Bamf versprach im Gegenzug, Einzelfälle nach Vorlage eines detaillierten Dossiers sorgfältig zu prüfen. Gemeinsames Ziel war es, Kirchenasyle möglichst zu vermeiden. Anfangs funktionierte diese Vereinbarung gut, und das BAMF beschied etwa 80 Prozent der Härtefalldossiers positiv, wodurch Betroffene ihr Asylverfahren in Deutschland durchlaufen konnten.

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Bald darauf änderte das Bamf das vereinbarte Verfahren einseitig und mehrfach. Immer seltener wurden Härtefälle als solche anerkannt. Von Januar bis Oktober 2024 hat das Bamf kein einziges Härtefalldossier mehr positiv beschieden. Wird ein Dossier abgelehnt, fordert das Bamf die Gemeinde zur Beendigung des Kirchenasyls binnen dreier Werktage auf. Dies steht in krassem Widerspruch zur nach wie vor menschenrechtswidrigen Behandlung Schutzsuchender in vielen europäischen Transitländern.

Was, wenn Grundrechte nicht ernst genommen werden?

Die aktuelle Praxis des Bamf wirft eine ­grundlegende Frage auf: Wie sollen Kirchengemeinden reagieren, wenn auf die vorgebrachten Argumente und Fakten gar nicht mehr eingegangen wird und detaillierte Dossiers mit standardisierten Textbausteinen beantwortet werden?

Ein besonders erschütternder Fall verdeutlicht die Problematik: Kroatische Grenzbeamte zwangen eine schutzsuchende Familie, sich zu entkleiden, verbrannten ihre Habseligkeiten inklusive Dokumenten und stießen ein Kind ins Feuer, das dadurch Brandverletzungen erlitt. Trotz Dokumentation der Verletzungen und Berichten über systematische Gewalt in Kroatien verharmloste das Bamf die Grausamkeiten als „Gefahrenabwehr, die durch die Grenzschützer gegebenenfalls auch unter Zwangs- und Gewaltanwendung erfolgen darf“. Die Kirchengemeinde stand damit vor der Frage: Das Kirchenasyl beenden und zulassen, dass die Familie ihren Peinigern ausgeliefert wird?

In solchen Fällen halten Kirchengemeinden das Kirchenasyl aufrecht. Weil die im Grundgesetz als „unantastbar“ definierte Menschenwürde immer wieder verletzt wird, betrachten sie es als ihre Pflicht, diese Würde zu achten und zu schützen. Wie wäre eine solche Praxis richtig beschrieben? Mit dem Konzept des „zivilen Ungehorsams“ haben sich die evangelischen Kirchen immer schwergetan.

„Ich kann für den Normalfall überhaupt keinen Konflikt mit dem Recht erkennen“, konstatierte 1994 Jürgen Schmude, ehemaliger Justiz- und Innenminister und von 1985 bis 2003 Präses der EKD-Synode. Solange der Staat über den Aufenthaltsort der Geflüchteten informiert sei, könne er eingreifen – das gilt auch heute noch.

Die Rechtswissenschaftlerin Samira Akbarian eröffnet eine neue Perspektive. Sie beschreibt zivilen Ungehorsam als „Verfassungsinterpretation“, als reflexive und praktische Kritik an Gesetzen und Behördenhandeln, die nach Überzeugung der Ungehorsamen nicht im Einklang mit den Grundwerten der Verfassung stehen. Damit ist die aktuelle Praxis und Funktion des Kirchen­asyls präzise beschrieben.

Es spricht also einiges dafür, Kirchenasyl als eine Form zivilen Ungehorsams zu verstehen. Treffender noch wäre der Begriff ziviler Menschenrechtsgehorsam. Denn beim Kirchenasyl geht es gar nicht um Ungehorsam im Sinne einer Rechtsverletzung, sondern um Treue zu verfassungsmäßig garantierten Grund- und Menschenrechten.

Das Grundgesetz verteidigen

Immer wieder wird der Vorwurf laut, das Kirchenasyl gefährde den Rechtsstaat. Die eigentliche Bedrohung liegt in einer Politik, die Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien offen infrage stellt. Besonders alarmierend ist dabei die schleichende Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs. Nicht wenige meinen heute, Rechtsstaat bedeute eine schlagkräftige Exekutive und schärfere Gesetze. Das Gegenteil ist richtig: Sinn des Rechtsstaates ist gerade, die Exekutive zu kontrollieren. Sein erster und wichtigster Auftrag ist die Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte.

Wir durchleben einigermaßen finstere Zeiten. Ziviler Menschenrechtsgehorsam ist heute wichtiger denn je – nicht nur in Gestalt des Kirchenasyls. Er legt den Finger in die Wunde, die zwischen Menschenrechten und staatlichen Interessen klafft. Statt diejenigen zu diffamieren und zu kriminalisieren, die darauf hinweisen, sollten alle gemeinsam daran arbeiten, sie zu schließen und zu heilen.

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24 Kommentare

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  • Die Kirche sollte dann aber auch 100% der Kosten auf Lebenszeit übernehmen müssen.

  • Die Tatsache das sich Kirchen über geltendes Recht stellen ist ein Unding und es ist richtig dies zu unterbinden.



    Völlig losgelöst davon ist die unmenschliche Rechtssprechung und Willkür die Behörden da zu pflegen scheinen.



    Dagegen muss protestiert und demonstriert werden.







    Ich finde sogar die Betreffenden Kirchen müssten dafür vor Gericht gestellt werden.



    Zumal diese Kirchgemeinen ebenfalls willkürlich und nach ermessen entscheiden bei wem sie sich über das Gesetz hinweg setzen.



    So mies die Situation ist: man kann nicht der Kirche solche Sonderrechte geben nur weil sich niemand drum kümmert das Gesetz menschlicher zu gestalten.



    Übrigens höre ich keine Kritik der Kirche den Drahtziehern mal das "C" zu entziehen wenn da solche Uneinigkeit herrscht.



    Auch wenn ich Kirche und Christentum trenne, die meisten machen das nicht.

  • Kirchenasyl ist kein Grundrecht sondern eine althergebrachte Anmaßung der im Niedergang begriffenen christlichen Institutionen.

  • Das Asylrecht ist voll von Ermessensentscheidungen der Ausländerämter. Wenn diese daneben liegen, ist das Kirchenasyl ein notwendiges Korrektiv im Rechtsstaat. Wer das nicht möchte, muss die Ermessensspielräume beschneiden. Mein persönlicher Eindruck ist:: Jung, hübsch intelligent und fleißig darf im Ermessen bleiben, die anderen werden schikaniert bis sie selbst gehen oder abgeschoben werden. Das Kirchenasyl ist dann ein Notanker für gut vernetzte Menschen oder für Menschen die schlicht in Ungnade gefallen sind…

    • @mwinkl02:

      Und die Kirche entscheidet nicht nach Ermessen und Gutdünken?



      Ein Asylrecht nur für Leute mit der richtigen Religion ist genauso widerrechtlich.

  • Ich muss noch eine Lanze brechen für



    @ benwolf.



    Es ist, ausser mir, der Einzige hier in der (bisherigen) Runde, der die Menschenrechte im Blick hat.

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Menschenrechte fangen schonmal da an, dass alle Menschen gleich sind.



      Vor dem Gesetz, nicht vor der Kirche.

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Na Na …you never walk alone



      …anschließe mich



      & euch Eiferern



      Menschenrechtsgehorsam - eine Wendung - die frauman nehmen kann - zieht euch doch den Putzlappen unter den Stiebeln wech! Woll

      unterm——aus dem Skat



      Euch Empörer sind mir gut vertraut - mal dess:



      Als “Bäckchen“ Behrens frischgebackener JuMi NRW eine “Gnadenkommission“ einrichtete hatten einige meiner Kollegen aber schwer Schaum vorm Mund “…wenn ich das doch so entschieden habe!“ bei bis zu 5 Kammern für Türkei/Asyl zuständig - wagte ich die Frage ob es nicht sein könne - daß andere vllt anders entschieden hätten & vor allem, ob wg Zeitablauf im Nachhinein neues anders andere Umstände etc vorliegen könnten & was es verschlüge daß unabhängig davon gleichsam von außen & wg Kirchenasyl nochmals drüber geguckt würde?!

      kurz - Rechthaberei & Punktum!! - stehen einem den Menschen&Grundrechten verpflichteten Gemeinwesen - vorweg dem Staat der Exekutive - schlecht zu Gesicht •

  • Von extremen Ausnahmen abgesehen kann Kirchenasyl in Dublinverfahren nicht legitim sein. Bei Dublinverfahren geht es schließlich nur darum, welches der EU-Länder für das Asylverfahren zuständig ist. Wenn man die europäische Einigung bejaht, kann man nicht einfach pauschal unterstellen, daß Flüchtlinge in anderen EU-Ländern nicht korrekt behandelt werden.



    Deshalb kann es nicht akzeptabel sein, wenn ein Großteil der Kirchenasylfälle Dublinfälle sind.

    • @yohak yohak:

      Es kann in keinen Fall akzeptabel sein, dass die Kirche über das Asyl entscheidet.



      Welche rechtliche Grundlage hat diese Institution und warum wird hier nicht das gleiche Strafmaß angewandt wie bei jeden Anderen Bürger der illegal Unterkunft gewährt?



      So sehr ich mich über jeden Fall freue wo Menschen vor diesen unmenschlichen System geschützt werden, es muss gleiches Recht für alle gelten.

    • @yohak yohak:

      Sie meinen sicherlich - legal - & damit hat‘s der Zivile Ungehorsam bekanntlich ja nich so mit! Gellewelle - 🙀🥳💐

  • ...wird Widerstand zur Pflicht!



    Man muss die Kirche auch was gutes tun lassen.

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Willi - keep 😎



      Die brüten 🐣 noch ⛓️ 🙀🥳

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      Wenn man meint die Kirche könnte entscheiden was "gut" ist, ist man da gut aufgehoben.



      Die meisten zweifeln jedoch an der Institution, der sie, mal nebenbei, eine Stellung über geltenden Recht einräumen.

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      …anschließe mich

  • Das Kirchenasyl ist - anders als dargestellt - kein Grundrecht. Es fehlt ferner an einer rechtlichen Grundlage. Keiner Institutionen sollte ermöglicht werden, in ein staatliche geregeltes Verwaltungsverfahren einzugreifen.

    • @DiMa:

      Doch, wenn die Menschenrechte nicht beachtet werden, sollten Institutionen eingreifen können. Es gehört zu den Grundrechten, wenn die Unantastbarkeit der Menschenwürde geachtet wird.

      • @benwolf:

        Glaubensfreiheit, Freiheit sexueller Ausrichtung und Geschlechtergleichheit sind auch Grundrecht.



        Inwiefern achtet die Kirche diese?

      • @benwolf:

        Die angebliche Nichtbeachtung von Menchenrechte. wird dabei stets nur behauptet. Die Prüfung obliegt den Gerichten.

  • Welches "Grundrecht" bitte? Das Kirchenasyl hat absolut null rechtliches Standing.

    "Eine Kirchengemeinde tritt zwischen eine schutzsuchende Person und eine Behörde, wenn die begründete Befürchtung besteht, dass den Betroffenen durch eine Abschiebung schwerwiegende Gefahren für Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit drohen"

    Wohlgemerkt, das ist alles nur ideell. Die Gemeinde übernimmt keinerlei finanzielle Garantien, und alle laufende Kosten für den in Schutz Genommenen werden dem Staat aufgebürdet. Bei endgültiger Nichtanerkennung des Anspruchs nach erneuter rechtlicher Prüfung (ein sehr großer Teil der Geschützten - Kirchengemeinden haben eine besondere Schwäche für Dubliner) gibt es keinerlei Belastungen für die Gemeinde. Da kann man locker und ohne aufwendige Prüfung routinemäßig intervenieren.

    • @TheBox:

      Sorry, es stimmt nicht, was Sie schreiben: die Kirchengemeinde übernimmt während des Kirchenasyls alle Kosten.

      • @benwolf:

        Nur endet das Kirchenasyl halt recht schnell nach Ablauf der Fristen und alle Kosten ab dem Beginn des Asylverfahrens trägt der Steuerzahler. Insoweit wäre in solchen Fällen eine Kostenentlastung des Fiskus über den Beginn des Asylverfahrens hinaus richtig und wichtig.

      • @benwolf:

        Während des Kirchenasyls schon, aber Ziel ist es ja, dass die Dublin-Frist verstreicht und der Asylant auf Dauer in Deutschland bleibt. Und diese fortlaufenden Kosten nach dem Kirchenasyl werden natürlich von den Steuerzahlern und nicht von der Kirche getragen.