Kindesentführung nach Russland: Nicht ohne ihre Tochter
Ein Mann entführt seine Tochter aus der Ukraine. Zwei Jahre sucht die Mutter nach ihnen. Dann entscheidet ein deutsches Gericht.
A n einem grau bewölkten Morgen im Mai hält Valeriia O. ein letztes Mal Ausschau nach dem Mann und dem Mädchen, denen sie seit zwei Jahren hinterherjagt. So lange hat sie ihren Ex-Freund und ihre gemeinsame Tochter gesucht, in der Ukraine, in Russland, in Deutschland. O. ist feindlichen Soldaten entkommen, sie hat Raketeneinschläge überlebt, sie hat ihr Leben in Russland aufs Spiel gesetzt.
An diesem Freitagmorgen steht sie im Amtsgericht von Wipperfürth, Nordrhein-Westfalen – 21.112 Einwohner, Hallenbad, Schwarzpulvermuseum –, umklammert mit beiden Armen einen Ordner voller Dokumente und starrt durch ein Fenster auf den Parkplatz vor dem Gebäude. Heute wird ein Richter in diesem Amtsgericht entscheiden, ob Valeriia O. ihr Kind von ihrem Ex-Freund zurückbekommt. Aber dafür müssen Vater und Tochter hier unbedingt erscheinen.
Um neun Uhr beginnt die Verhandlung. Um 8.46 Uhr sind weder der Mann noch das Mädchen zu sehen.
„Das ist gar nicht gut“, sagt eine Frau, die Valeriia O. zu diesem Prozess begleitet und die ihr geholfen hat, ihre Tochter in Deutschland zu finden. O.s Anwältin ist ebenfalls hier, sie versucht die beiden Frauen zu beruhigen. „Punkt 9 wird er kommen“, sagt sie. Die Anwältin hat dafür gesorgt, dass Valeriia O. vor ihrer Tochter im Gericht ist. Damit die beiden sich vor der Verhandlung auf jeden Fall sehen.
Vier Minuten später, vielleicht sind es auch fünf, sieht Valeriia O. ihr Kind tatsächlich auf dem Parkplatz vor dem Gericht. Sie trägt Jeansjacke, Turnschuhe und auf dem Rücken einen kleinen Rucksack, die langen dunkelblonden Haare sind zu einem Zopf gebunden. Sie läuft an der Hand eines Mannes durch die Sicherheitsschleuse ins Gericht. Dieser Mann ist nicht ihr Vater. Es ist ihr Verfahrensbeistand, so etwas wie ein Anwalt für das Kind. In dem Sorgerechtsstreit soll er das Beste für Valeriia O.s Tochter durchsetzen. Die lächelt ihrer Mutter verhalten zu, hebt steif die rechte Hand und winkt. Langsam läuft sie auf ihre Mutter zu. O. nimmt das Mädchen in den Arm und küsst es. Erst einmal, dann immer schneller, fünf, zehn, zwanzig Mal.
Der Verfahrensbeistand nimmt das Kind wieder an die Hand und führt es zu einer Bank. Kurze Zeit später betritt auch der Vater das Gerichtsgebäude, ein großer Mann mit breitem Kreuz und unbewegter Miene. An der Seite seiner Anwältin läuft er an der Mutter vorbei, ohne sie anzusehen.
Der Richter öffnet die Tür zum Gerichtssaal und bittet herein.
In den kommenden drei Stunden wird dieser Richter versuchen, die Frage, bei wem die Tochter von Valeriia O. und ihrem Ex-Freund künftig leben soll, wie einen ganz normalen Sorgerechtsstreit zu behandeln. Wie einen von tausenden, die deutsche Gerichte jährlich beschäftigen. Es wird ihm nicht ganz gelingen. Denn erstens ist dieser Streit ein besonders hässlicher – Valeriia O. wirft ihrem Ex-Freund Kindesentführung vor, der behauptet hingegen, er habe seine Tochter vor einem Krieg retten wollen. Und zweitens berührt dieser Fall einen der bedeutsamsten Konflikte der Gegenwart, den Versuch Russlands, die gesamte Ukraine einzunehmen.
Die Geschichte von Valeriia O. handelt von ihrer Suche nach der Tochter durch drei Länder – erst in der Ukraine, später in Russland, zuletzt in Deutschland. Es ist eine Geschichte darüber, wie diejenigen, die ihr eigentlich helfen sollen – die ukrainische Polizei und der Grenzschutz – erst zulassen, dass der Vater sich mit dem Kind versteckt und dann mit ihm das Land verlässt.
Es ist eine Geschichte darüber, wie schwierig es für deutsche Richter:innen sein kann, das Kindeswohl zu definieren – die zentrale Kategorie, nach der Gerichte hierzulande entscheiden, welchem Elternteil das Sorgerecht zugesprochen wird. Was bedeutet Kindeswohl in einem Krieg?
Wer darf bestimmen?
Und nicht zuletzt geht es hier um eine Frau, die es gewohnt ist, zu organisieren, die Kontrolle zu haben und der diese Kontrolle über ihr eigenes Leben genommen wird. Valeriia O. leitet seit Jahren eine Hilfsorganisation, die ukrainische Frontstädte mit Shampoo, Brot und Plätzen für Kinderbetreuung versorgt. Sie arbeitet mit dem Europarat, den Vereinten Nationen und der Botschaft der USA. Am Ende ihrer zweijährigen Suche ringt O. mit den deutschen Richtern darum, wo sie und ihr Kind leben, und wer darüber bestimmen kann.
Valeriia O. ist 29 Jahre alt, als der Krieg Ende Februar 2022 ihre Stadt Tokmak im Südosten der Ukraine erreicht. Eigentlich lebt sie mit ihrer Tochter zusammen. Von deren Vater hat sich O. vor Jahren getrennt. Er hatte ein kriminelles zweites Leben, nur durch Zufall hatte sie davon erfahren. Es gab einen ukrainischen Haftbefehl gegen ihn, darin steht etwas von organisiertem Diebstahl und dass er sich den Ermittlungen entzog. Ab und an sehen sich Vater und Tochter jedoch, und vor Russlands Großinvasion machen sie zusammen Urlaub am Asowschen Meer.
Als russische Truppen Tokmak am 26. Februar angreifen, flieht O. mit ihrem Lebensgefährten in ein Haus, das Freund:innen gehört. Zu siebt sind sie dort mit zwei Neugeborenen. Ein Foto zeigt Valeriia O. mit einem der Babys im Arm, sie lächelt in die Kamera. Meist verstecken sie sich im Keller, zwischen Gläsern mit eingekochtem Essen. Über sich hören sie, wie Ukrainer und Russen miteinander kämpfen, die Kalaschnikows, die Panzer. Immer wieder fällt der Strom aus, es gibt kein Wasser. Per Telefon vereinbart sie mit ihrem Ex-Freund, dass er mit der gemeinsamen Tochter nach Norden fährt, nach Saporischschja. Die russische Armee ist nicht bis zu der Großstadt vorgedrungen und er hat eine Wohnung dort. Valeriia O. will so bald wie möglich nachkommen, das ist der Plan. Es wird zwei Jahre dauern, bis sie ihr Kind wiedersieht.
O. erzählt von diesen Tagen in einem Berliner Café, an einem verregneten Morgen im März 2024. Zu dieser Zeit weiß sie bereits, dass ihre Tochter nun in Deutschland lebt, in Nordrhein-Westfalen. Sie weiß auch, dass sie um ihre Tochter kämpfen muss, vor einem deutschen Gericht. Deswegen ist sie nach Bonn gezogen. Berlin ist an diesem Tag nur ein Zwischenstopp. Nach dem Treffen fährt sie weiter in die Ukraine, nach Saporischschja, ein paar Angelegenheiten für ihre Hilfsorganisation regeln, neue Kleidung holen. Drei Tage wird sie mit dem Zug dorthin unterwegs sein. Nach einer Woche wird sie zurück nach Deutschland kommen.
Valeriia O. hat den Kampf um ihr Kind lückenlos dokumentiert. In einem dicken Ordner trägt sie Papiere mit sich herum: Gerichtsurteile, Mails, Anwaltsschreiben, Pässe, Screenshots von Chatnachrichten, verschriftlichte Telefonanrufe. Auf diesen Dokumenten basiert diese Recherche, ebenso wie auf Gesprächen mit Valeriia O., mit ihrem Umfeld und mit Menschen, die an den Geschehnissen der vergangenen zweieinhalb Jahre beteiligt waren. Nicht alle wollen in diesem Text zitiert werden. Diejenigen, die Valeriia O. bei ihrer Suche geholfen haben, sehen sich großen Gefahren ausgesetzt. Auch Valeriia O. fürchtet, dass es für sie gefährlich werden könnte, wenn dieser Artikel über sie erscheint. Ihr Nachname ist deswegen in diesem Text abgekürzt. Der Ex-Freund von Valeriia O. lehnt ein Gespräch ebenso ab wie seine Anwältin. Seine Sichtweise lässt sich aus Dokumenten und Gesprächen mit Beteiligten der Gerichtsverfahren rekonstruieren.
Von Charkiw nach Russland
Drei Wochen verbringt Valeriia O. nach der russischen Invasion im Februar 2022 in dem Keller im Haus ihrer Freund:innen. Dann kann sie sich einem Konvoi anschließen, der Menschen aus der belagerten Stadt Mariupol nach Saporischschja bringt. Die russischen Besatzungssoldaten lassen den Konvoi auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet passieren und Valeriia O. findet eine Wohnung in Saporischschja. „Ich wusste nicht, ob ich dort bleiben oder gehen sollte. Ich wusste nicht, was richtig und falsch ist. Ich wusste nur, dass ich meine Tochter wiederhaben will“, sagt sie Mitte März im Berliner Café.
Sie bittet den Vater damals, ihr die Tochter zurückzubringen. Der ignoriert sie, geht nicht ans Telefon. Er „hindert sie mit allen Mitteln daran, das Kind zu sehen“, schreibt das Bezirksgericht Saporischschja gut ein Jahr später, im April 2023, über diese Zeit in einem Urteil. Valeriia O. sucht in der ganzen Stadt nach ihrer Tochter. Sie erstattet Anzeige gegen den Vater. Die Polizei verpflichtet den Mann, sich regelmäßig zu melden. Einmal erscheint er mit der Tochter auf der Polizeistation. Dafür, dass die Mutter ihr Kind zurückbekommt, sorgt die Polizei nicht.
Im Juni 2022 reicht Valeriia O. Klage ein, vor dem Bezirksgericht in Saporischschja. Sie will das Sorgerecht erstreiten, das Recht, ihr Kind zu sehen und zu entscheiden, wo es lebt. Von der Polizei bekommt sie regelmäßig Nachrichten: Das Kind lebe nun in Charkiw mit dem Vater.
Charkiw, die Millionenstadt im Nordosten der Ukraine, liegt nur 40 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Sie ist seit Beginn der Invasion einer der gefährlichsten Orte des Landes. Laut Amnesty International sterben bei den Versuchen Russlands, die Stadt einzunehmen, bis zum Juni 2022 mehr als 600 Zivilisten, Hunderttausende fliehen. Zwar erobert die ukrainische Armee im Mai 2022 das Umland zurück, aber auch danach beschießt das russische Militär die Stadt weiterhin von Norden. Im September verpflichtet das Gericht in Saporischschja den Vater dazu, die Tochter jede zweite Woche der Mutter zu geben. Doch dazu kommt es kein einziges Mal.
Im November dann bekommt Valeriia O. eine ungeheuerliche Nachricht. Eine Person, die sie nicht kennt, ruft sie an. Ihr Kind sei in Russland, behauptet diese Person. „Das ist unmöglich, habe ich geantwortet. Meine Tochter ist in Charkiw, ich habe ein Papier von der Polizei“, sagt O. im März 2024 in Berlin, und immer noch, fast anderthalb Jahre später, kann man den Unglauben in ihrem Gesicht sehen. Die Person aus Russland schickt Beweise. O. fragt die ukrainischen Behörden, ob ihre Tochter das Land verlassen hat. Wenige Tage später erhält sie einen Brief der Grenzpolizei: Der Vater und das Kind haben am 7. September 2022 um 19:26 Uhr die ukrainisch-polnische Grenze überschritten. Außerdem steht dort, sie als Mutter habe ihre Zustimmung gegeben.
Auf Facebook schreibt O. damals: „Mein kleiner Sonnenschein, meine Tochter, meine Welt wurde entführt und nach Russland verschleppt.“
„Ich war so naiv“, sagt sie in Berlin. „Ich hatte wirklich geglaubt, dass die ukrainische Polizei meinen Fall löst. Ich war dumm.“
Kindesentführung nach Regime Muster
Was der Tochter von Valeriia O. passiert, berührt einen für viele Ukrainer:innen besonders schmerzhaften Aspekt des Krieges: die Entführung ukrainischer Mädchen und Jungen in das Land des Angreifers, nach Russland. Über 19.500 Kinder sollen russische Behörden aus der Ukraine deportiert haben, diese Zahlen veröffentlicht die Regierung in Kyjiw und aktualisiert sie regelmäßig. Recherchen internationaler Medien, darunter BBC und New York Times, haben viele dieser Entführungen bestätigt. Der russische Präsident Wladimir Putin und seine Kinderrechtskommissarin Maria Lvova-Belova behaupten, sie würden ukrainische Kinder retten. Gegen beide erließ der Internationale Strafgerichtshof im Jahr 2023 einen Haftbefehl.
Der Ex-Freund von Valeriia O. ist kein russischer Beamter. Aber was er tut, folgt dem Muster der von Putins Regime organisierten Kindesentführungen. Er bringt die gemeinsame Tochter in ein Land, das die Mutter nur unter großer Gefahr betreten kann. Und er rechtfertigt das damit, das Kind zu schützen.
Valeriia O. bittet das ukrainische Justizministerium um Hilfe. Dort schreiben sie ihr bis zum Ende des Krieges gebe es „keine postalischen und diplomatischen Kanäle“ zum Aggressor. O. könne sich als Privatperson an Russland wenden. Es existiert ein internationales Abkommen für Fälle wie ihren. Das soll regeln wie ein Kind, das ohne die Zustimmung seines zweiten Elternteils in ein anderes Land gebracht wurde, wieder zurückkommt. Mehr als 100 Staaten haben das „Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung“ unterzeichnet, auch Russland. Das ukrainische Justizministerium schickt Valeriia O. eine Liste von russischen Anwält:innen, die sich mit dem Haager Vertragswerk auskennen.
Und O. schreibt an Russland. Briefe, Emails, Anträge. Sie schreibt dem Beauftragten für Kinderrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation, an das Sozialschutzamt in Moskau, an das russische Bildungs- und das Innenministerium. Sie stellt Strafanzeige gegen den Vater des Kindes, und reicht Klage ein bei einem russischen Gericht. Und einige, denen sie schreibt, antworten auch. Nach ein paar Monaten bekommt sie eine Adresse in Moskau, von der sie glaubt, dass ihre Tochter dort lebt. Der Direktor einer Schule schreibt ihr per Chatnachricht, dass das Mädchen bei ihm lernt.
Im April 2023 spricht das Bezirksgericht in Saporischschja, Valeriia O. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihr Kind zu. Weder der Vater, noch sein Anwalt erscheinen zu der Verhandlung. Im Urteil heißt es: „Der Beklagte entführte buchstäblich das Kind.“
Das bringt Valeriia O. ihre Tochter nicht zurück. Aber sie hat jetzt ein offizielles Papier. Einen Beweis, dass ihr Kind zu ihr gehört. Damit will sie nach Russland fliegen und das Mädchen zurückholen. Allein.
Gefahr und Hilfe aus Russland
Sie weiß, wie gefährlich das ist. In den Folterkammern der ehemals von Russland besetzten Gebiete sind Ukrainer:innen schon wegen ein paar Tattoos verschwunden. Valeriia O. beliefert Menschen an der Front mit Hilfsgütern. „Ich hatte riesige Angst“, sagt sie im März 2024 in Berlin und reißt die Augen weit auf. „Mir war klar: In Russland kann mir das Schlimmste passieren.“
Ihr Plan: Sie will rein formal argumentieren. Keine politische Auseinandersetzung, nur eine Familienzusammenführung. Mutter sucht Kind. Mit der Entscheidung des Gerichts in Saporischschja möchte sie die russischen Behörden überzeugen, ihr ihre Tochter zu geben. Valeriia O. kauft ein Ticket bei Turkish Airlines: Mai 2023, Istanbul–Moskau.
Sie landet in Moskau, aber schafft es nicht, den Flughafen zu verlassen. Sie wird in Gewahrsam genommen. Nach 24 Stunden wird sie entlassen und nach Istanbul zurückgeschickt. Darüber, was in diesen Stunden passiert, spricht sie mit der taz. Aber veröffentlicht will sie es nicht sehen, sie hat Angst, dass es noch gefährlich werden könnte.
Drei Wochen später erhält Valeriia O. einen Brief vom russischen Inlandsgeheimdienst, dem FSB. Darin steht, dass ihr „die Einreise in die Russische Föderation nicht gestattet wurde“ und man ihr keine schriftliche Begründung dafür schuldig sei. O. hat Glück, dass ihr nicht mehr passiert ist. Aber ihr Kind scheint unerreichbarer denn je.
Und wieder hilft ihr jemand, den sie nicht kennt, jemand aus Russland. Im Januar 2024 erhält sie eine Nachricht auf Instagram. Darin steht eine deutsche Mobilnummer. Das sei die Nummer ihrer Tochter. Und: „Sie ist in Berlin“.
Die Person erzählt Valeriia O. noch ein paar weitere Details über ihre Tochter. „Ich war so erleichtert, als ich das gehört habe“, sagt Valeriia O. im März 2024. „Deutschland ist der Westen, Deutschland ist Zivilisation. Ich dachte, jetzt wird es schnell gehen, dass ich mein Kind bekomme“.
Valeriia O. spricht kein Deutsch, aber die ukrainische Zivilgesellschaft ist weltweit vernetzt. Über ihre Kontakte findet sie einen Verein für Frauen und Mädchen in Berlin, „MigrantInnen in Marzahn“. Sie schreibt eine Mail, ohne Anrede, ohne Grüße. Sachlich und chronologisch erzählt sie, was passiert ist. Sie fügt ihre Dokumente an. Sie schreibt: „Ich ergreife jetzt Maßnahmen, um meine Tochter nach Hause zurückzubringen, und nutze dabei alle rechtlichen Möglichkeiten“.
Tetiana Goncharuk liest diese Mail. Goncharuk, braune Locken, Brille, stammt selbst aus der Ukraine und hat den freundlich-skeptischen Blick einer Menschenrechtsexpertin, die nicht verzweifelt, an dem was sie tut. Sie leitet den Frauentreff bei „MigrantInnen in Marzahn“. Sie hat schon viele grausame Geschichten gehört – Kriegstraumata, häusliche Gewalt, gefährliche Ehemänner. Auch mit Kindesentführungen hatte sie zu tun. Aber der Fall von Valeriia O. ist besonders. „Weil er so viele Fragen berührt“, erzählt Goncharuk im Mai 2024. „Weil er ohne den Krieg nicht denkbar wäre, weil hier so viele Behörden beteiligt waren und Valeriia so viel Unrecht passiert ist.“
Am richtigen Ort
Im Januar 2024 treffen sich die beiden Frauen das erste Mal in Berlin. Valeriia O. erstattet Anzeige bei der Polizei in Berlin. „Verdacht Kindesentziehung“, steht auf dem Papier, Datum: 30. 1. 2024.
Aber dieses Mal will sich Valeriia O. nicht mehr allein auf die Polizei verlassen. Sie und Tetiana Goncharuk binden sich Kopftücher um, damit O.s Ex-Freund sie nicht erkennt, sollten sie ihm begegnen. Mit einem Bild der Tochter laufen die beiden Frauen die Berliner Flüchtlingsunterkünfte ab. Sie sprechen mit Bewohner:innen, Kindern, Sicherheitsleuten. Niemand hat das Mädchen gesehen.
Wenige Tage später erhält Tetiana Goncharuk einen Anruf von der Polizei: Das Mädchen lebe mit seinem Vater in Hamm. Später soll es in Bochum sein, dann in Köln, dann in Radevormwald, einer Kleinstadt bei Wuppertal. Valeriia O. reist dorthin und geht direkt ins Jugendamt. Die vier Menschen, die dort arbeiten, dürfen ihr nicht sagen, wo ihre Tochter lebt. Datenschutz. Aber sie sagen, sie sei hier richtig. Sie fühlt sich ernst genommen, sie schöpft Hoffnung, sagt sie im Frühjahr 2024 in Berlin.
Tetiana Goncharuk organisiert ein Zimmer für Valeriia O. bei Bekannten in Bonn. Von dort aus braucht O. gut zwei Stunden mit dem Zug nach Radevormwald. Das Haus, in das sie im Februar 2024 einzieht, steht am Ende einer Straße, es ist bunt angemalt. Innen ist es hell, viel Holz, an den Wänden hängen Bilder und Fotos. Im Mai 2024 blüht vor dem Haus ein wilder Garten.
Valeriia O. lebt hier inzwischen seit drei Monaten. In einem Zimmer im ersten Stock. Die Wände sind leer, auf dem Bett liegt ihr Laptop, das ist ihr Büro. Sie schiebt gerade zwei neue Projekte an. In den Städten an der Front fehlen Seife und Shampoo. „Ich starte meinen Tag mit Arbeit, und ich beende ihn mit Arbeit“, sagt sie. Sie schreibt Mails an das Jugendamt und andere Behörden. Sie lässt sie im Internet vom Ukrainischen ins Deutsche übersetzen und wieder zurück. Valeriia O. will keine Fehler machen.
Sie nimmt sich eine Berliner Anwältin. Mit ihrer Hilfe will sie sich endlich ihre Tochter zurückholen. Die beiden Frauen planen, am Amtsgericht Köln zu klagen. Das ist zuständig für das internationale Abkommen bei Kindesentführungen. Doch dafür braucht Valeriia O. Geld. Sie beantragt Verfahrenskostenhilfe. Und erleidet den nächsten Rückschlag. Das Amtsgericht lehnt ab. Die nächste Instanz, das Oberlandesgericht, ebenfalls. Begründung: In der Ukraine herrscht Krieg. Es sei dem Kind nicht zuzumuten, mit seiner Mutter nach Hause zurückzukehren.
Valeriia O. hat sich auf solche Argumente vorbereitet. Sie will mit ihrem Kind nach Poltawa ziehen, in die Zentralukraine, weit weg von der Front. Doch am Oberlandesgericht haben sie die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes gelesen und die Nachrichten. In ihrem Beschluss zählen die Richter:innen auf, wie russische Drohnenteile in Poltawa eine Stromleitungen zerstört haben, wie nach einer Attacke eine Raffinerie brennt, im August 2023 sterben drei Menschen. Am Gericht befürchten sie, „dass im Fall einer Rückführung bezogen auf das Gebiet Poltawa gerade im Hinblick auf die dort häufigen Luftangriffe für das betroffene Kind die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen und seelischen Schadens besteht.“
Es ist nicht das erste Mal, dass ein deutsches Gericht ein ukrainisches Kind nicht zurück in die Ukraine fahren lässt. Rund 450 Verfahren nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen Abkommen laufen jährlich vor deutschen Gerichten, die meisten behandeln Fälle aus der Türkei und Polen. Aber seit Kriegsbeginn ist auch die Ukraine ein Thema. Die Oberlandesgerichte in Hamm und Stuttgart haben ähnlich geurteilt, wie das Gericht im Fall von Valeriia O.: Es entspricht nicht dem Kindeswohl, wenn ein Kind in ein Kriegsgebiet zurückgebracht wird.
Klingt logisch, aber diese Aussage ist nicht ganz ehrlich. Wenn es darum geht, Abschiebungen, auch von Kindern, zu ermöglichen, dann diskutiert man in Deutschland und der Europäischen Union immer wieder, ob manche Gebiete in gefährlichen Ländern wie Syrien nicht doch sicherer sind als andere. Und selbst das Oberlandesgericht Köln urteilte bereits einmal, manche Gegenden in der Ukraine seien sicher genug für ein Kind – und schickte ein Kind zurück zu seinem Vater in die Ukraine, nachdem die Mutter es entführt hatte.
Kämpfen mit deutschem Recht
Valeriia O. kämpft mit diesen Misserfolgen. Dass sie keine Verfahrenskostenhilfe vom Gericht bekommt, sehen sie und ihre Anwältin als klaren Hinweis: Sie haben keine Chance, dieses Verfahren nach dem Haager Abkommen zu gewinnen. Also lässt sich O. etwas Neues einfallen. Wieder einmal. Sie zieht ihre Klage in Köln zurück. Sie meldet sich in Deutschland als Geflüchtete an. Sie reicht eine neue Klage ein – vor dem kleinen Amtsgericht Wipperfürth. Das ist für die Stadt zuständig, in der ihre Tochter nun lebt.
Valeriia O. kämpft nun nicht mehr vor dem Hintergrund des russischen Krieges und mithilfe eines internationalen Abkommens. Sie kämpft als eine nach Deutschland geflüchtete Frau mit deutschem Recht um ihre Tochter.
Doch auch aus diesem Verfahren lässt sich der Krieg kaum heraushalten. Die Anwältinnen von Mutter und Vater schicken Schriftsätze hin und her. Die Anwältin von Valeriia O. wirft dem Vater vor, das Kind in das „Land des Aggressors“ entführt zu haben. Die Anwältin von O.s Ex-Freund antwortet, der Vater habe das Kind vor dem Krieg schützen wollen. In ihrem Schreiben rechnet sie Tokmak, die Stadt, in der O. und ihre Tochter bis zum russischen Angriff zusammen gewohnt haben, der Russischen Föderation zu. Das ist die Sicht der Regierung in Moskau.
Dann scheint es für Valeriia O. endlich besser zu laufen. Das Jugendamt nimmt dem Vater das Mädchen weg und gibt es in eine deutsche Pflegefamilie. Eine solche Inobhutnahme können die Ämter veranlassen, wenn es Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls gibt. Das vermindert die Gefahr, dass O.s Ex-Freund sich mit seiner Tochter in ein neues Land absetzt. Und noch etwas veranlasst das Jugendamt: Valeriia O. darf ihr Kind zum ersten Mal sehen. Nach zwei Jahren.
Aber selbst dieser Moment ist nicht ungetrübt. Das Jugendamt gestattet der Mutter nur den begleiteten Umgang mit ihrer Tochter, das bedeutet, sie muss das Mädchen unter der Aufsicht von Sozialpädagogen und einem Dolmetscher treffen, der jedes Wort übersetzt. Begleiteten Umgang ordnen die Jugendämter sonst eigentlich nur an, wenn es schwerwiegende Probleme gibt: drogenabhängige Eltern, zum Beispiel, Missbrauch, sexualisierte Gewalt. Valeriia O. hat sich nichts davon zu schulden kommen lassen. Aber es macht ihr erst einmal nichts aus. „Ich habe verstanden, dass es für das Jugendamt eine schwierige Situation war – eine internationale Kindesentführung, oh mein Gott!“, erzählt sie im März 2024 in Berlin.
Ihr erstes Treffen mit ihrer Tochter ist da gerade einmal wenige Tage her. Für sie zählt der Erfolg: Sie ist ihrem Kind so nahe wie lange nicht mehr. Vielleicht läuft es mit der neuen Strategie auch vor Gericht gut für sie. Alles scheint möglich.
Doch dann gibt das Jugendamt dem Vater das Kind zurück.
Die Mutter erfährt das nicht vom Jugendamt in Radevormwald. Sie erfährt es nicht einmal aus Deutschland. Sie erfährt es, während sie per Videostream einem Gerichtsprozess in der Ukraine zuschaut. Knapp ein Jahr nachdem das Bezirksgericht Saporischschja Valeriia O. das Sorgerecht für ihr Kind zugesprochen hat, klagt ihr Ex-Freund dagegen. Und in dieser Verhandlung sagt der Anwalt des Vaters den entscheidenden Satz: Das Jugendamt in Radevormwald hat dem Vater die Tochter zurückgegeben.
„Wie kann das sein?“, schreibt sie Tetiana Goncharuk in einer SMS. „Lera, das ist schrecklich“, antwortet die. Valeriia O. versteht die Entscheidung nicht. Sie versteht nicht, warum sie davon aus der Ukraine erfährt.
Sie habe große Angst, dass ihr Ex-Freund sich wieder absetzt, sagt Valeriia O. nach dieser Verhandlung. Angst, dass er ihr Kind in eine andere Stadt mitnimmt, in ein anderes Land vielleicht, und für sie alles wieder von vorn losgeht.
Das Jugendamt schreibt ihr später, der Kindsvater habe das Kind in der Stadt angemeldet, es gehe dort zur Schule. Die Pässe des Vaters und Kindes seien sichergestellt. „Somit ist aus hiesiger Sicht eine Ausreise nicht zu erwarten.“
Keine Hoffnung auf Menschlichkeit und Empathie
Ihre Anwältin reicht eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Leiter des Jugendamts beim Bürgermeister ein. Sie beklagt eine „erhebliche Ignoranz und Gleichgültigkeit“. Tetiana Goncharuk, die Menschenrechtlerin aus Berlin, schreibt an das Jugendamt und die Stadtverwaltung, die Rückgabe des Kindes habe dessen Entführung „legalisiert, normalisiert und belohnt“. Der Amtsleiter will sich zu solchen Vorwürfen nicht äußern. Er dürfe es nicht, aus Gründen des Datenschutzes.
Valeriia O. sieht ihr Kind weiterhin einmal in der Woche, immer noch unter Aufsicht. Knapp zwei Stunden ist sie zu diesen Treffen mit der Bahn unterwegs. Sie fädelt mit ihrer Tochter Perlen und Papierrosen auf einen Haarreif. Die beiden kleben sich Glitzersteinchen ins Gesicht. Fotos zeigen sie Arm in Arm, sie lachen, küssen sich. Einmal fährt O. zum verabredeten Termin, aber ihre Tochter ist nicht da. Es gab wohl ein Missverständnis bei der Planung.
„Ich kann nicht erklären, wie ich fühle“, schreibt sie danach in einer SMS. „Ich suche seit zwei Jahren nach meiner Tochter, ich habe mein Leben riskiert, als ich nach Russland geflogen bin. Ich bin nach Deutschland gekommen, habe mein Leben geändert. Und die können nicht mal in den Kalender gucken und machen so dumme Fehler? Ich habe meine Hoffnung auf Professionalität verloren. Aber Hoffnung auf Menschlichkeit und Empathie habe ich auch nicht mehr.“
An dem grauen Morgen Mitte Mai, an dem sich also endlich entscheiden wird, ob Valeriia O. ihr Kind bekommt, sitzt sie still vor einem Teller Rührei in der Lobby ihres Hotels in Wipperfürth. Geschlafen hat sie nicht, sagt sie, „keine Minute“. Sie fühle sich wie an dem Tag, als sie nach Russland geflogen ist. „Andere Leute entscheiden über mich und mein Leben. Das fühlt sich nicht gut an“, sagt sie. Sie könne nicht mehr glauben, dass sie ihre Tochter zurückbekommt.
Dann geht sie los, ihre Anwältin und Tetiana Goncharuk begleiten sie.
Zum Prozess kommen mehr Menschen als sonst üblich. Drei Mitarbeiter aus dem Jugendamt sind da. Ein Übersetzer. Jemand vom ukrainischen Konsulat. Der Krieg lässt sich nicht heraushalten. Nur Presse ist im Gerichtssaal nicht erlaubt. Familienrechtsverfahren sind nicht öffentlich.
Was passiert, lässt sich trotzdem rekonstruieren, wenn man vor dem Saal sitzen bleibt und mit genügend Menschen redet.
Valeriia O.s Tochter sagt ganz am Anfang aus, nur kurz. Ihr Verfahrensbeistand, ihr Anwalt, ist bei ihr. Er wird in dem Saal bleiben, den das Mädchen nach kurzer Zeit wieder verlässt. Mitarbeiter des Jugendamtes und Justizbeamte bringen sie in einen sicheren Raum im Gericht.
Der Verfahrensbeistand hat in den Wochen vor dem Verfahren sowohl das Kind getroffen als auch die beiden Eltern. Er hat sich ein Bild von dem Mädchen gemacht. Sein Bericht umfasst 25 Seiten – viel für einen Sorgerechtsstreit. Er beschreibt das Kind von Valeriia O. und ihrem Ex-Freund als offen aber stark verunsichert. Die Interaktionen zwischen Mutter und Tochter nennt er liebevolle Begegnungen. Der Vater hingegen, habe ein „Regime zwischen Gehorsam und Verwöhnung“ aufgebaut. Er kommt zu dem Schluss, dass das Kind „umgehend und schnellstmöglich“ zu seiner Mutter wechseln sollte. Dieser Bericht wird wichtig sein für diesen Richter, für diesen Prozess.
Drei Stunden dauert die Verhandlung. Als sich die Tür öffnet, kommt die Anwältin von Valeriia O. als Erstes heraus. Sie lächelt. Der Richter hat ihrer Mandantin das Sorgerecht zugesprochen. Sie bekommt ihr Kind. Sofort. Der Vater darf die Tochter regelmäßig sehen. Zunächst unter Aufsicht, später dann unbegleitet. Valeriia O. hat dem zugestimmt. Im Gegenzug wird ihr Kind Deutschland für ein Jahr nicht verlassen dürfen. Das war die Bedingung des Vaters.
Als Valeriia O. aus dem Gerichtssaal kommt, umklammert sie noch immer ihren Hefter mit den Dokumenten. Tränen steigen ihr in die Augen, sie versucht zu sprechen, aber ihre Stimme bricht.
Wenige Minuten später kommt ihre Tochter. Valeriia O. wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Coucou“, ruft sie dem Mädchen zu. Das Kind lacht, läuft schneller, rennt und springt der Mutter in der Arme.
Der Verfahrensbeistand nimmt das Mädchen noch ein letztes Mal an die Hand und führt es nach draußen. Vor dem Gericht steht der Vater. Er hebt das Mädchen vor sein Gesicht, die beiden reden kurz miteinander. Dann lässt er sie hinunter, sie rennt zurück zu ihrer Mutter.
Hand in Hand laufen Mutter und Tochter zurück zu dem Hotel, in dem Valeriia O. in der letzten Nacht geschlafen hat. Sie holen ihren Koffer und steigen in ein Taxi.
Ein letztes Telefonat mit Valeriia O., drei Wochen nach der Entscheidung am Amtsgericht Wipperfürth. Wie geht es ihr jetzt? Gut, sagt sie. Sie fühle sich endlich sicher, denn – Valeriia O. stockt. Sie atmet tief ein. Sie hat Deutschland verlassen, sagt sie. Und: „Ich konnte nicht riskieren, mein Kind wieder zu verlieren.“ Sie habe Angst gehabt, dass der Vater das Kind wieder kidnappen könnte, weil er für die Entführung nicht bestraft worden sei.
Valeriia O. lebt mit ihrer Tochter nun wieder in der Ukraine.
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