Kinderheime in Berlin: Die bessere Alternative
Heime haben ein mieses Image. Aber solche Schutzräume sind wichtig für Kinder und Jugendliche mit familiären Problemen. Ein Beispiel aus Berlin.
W enn Thorsten* von Familie spricht, dann meint er nicht die Mutter, mit der er die ersten sieben Jahre seines Lebens verbracht hat. Nicht den abwesenden Vater und auch nicht die Geschwister, zu denen er kaum Kontakt hat. Thorsten spricht von einer Einrichtung, die man landläufig als Kinderheim bezeichnet, von seiner Wohngruppe und vor allem von den drei jungen Frauen, die zwölf Jahre lang seine Bezugserzieherinnen waren und die ihm auch heute noch – ein Jahr nach seinem Auszug – Spaghetti bolognese kochen, über sein frisch gestochenes Tattoo schimpfen und mit ihm Weihnachten und Geburtstag feiern.
Empfohlener externer Inhalt
Thorstens Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist auch ein Blick hinter das Stigma Kinderheim und hinter die Türen seines einstigen Zuhauses.
Kinderheim – das klingt so anachronistisch. Nach Zeiten, in denen Kinder zu Kriegswaisen wurden oder Eltern so arm waren, dass sie ihre vielen Kinder nicht durchbrachten. Nach einer Vergangenheit, in der der Staat missliebige Eltern mit Kindesentzug bestrafte und renitente Jugendliche in Verwahranstalten steckte. Es klingt nach Missbrauchsskandalen: lange vergangenen wie den systematischen Kindeswohlverletzungen in DDR-Kinderheimen und sehr aktuellen wie den entwürdigenden Maßnahmen in den Brandenburger Haasenburg-Einrichtungen, die inzwischen schließen mussten. Wenn in den Medien über Kinderheime berichtet wird, dann in der Regel negativ.
Wie aber funktioniert die gute und moderne Kinder- und Jugendhilfe? Sind wir nicht längst weg von stationären Einrichtungen? Sollten nicht Kinder mit so viel Unterstützung wie nötig zu Hause leben können und – wenn es denn gar nicht anders geht – dann doch wenigstens in Pflegefamilien ein Zuhause finden? Bedeutet ein Platz im Kinderheim nicht eine verlorene Zukunft mehr? Endstation Kinderheim?
In der Coronazeit eskalieren Konflikte
Die Coronazeit wirft ein Schlaglicht auf häusliche Gewalt, auf Gewalt gegen Kinder. Durch die Medien geht die Sorge, dass inmitten der Beschränkungen Familienkonflikte eskalieren – weil Entlastung durch externe Betreuung fehlt, weil Existenzängste Eltern belasten, weil Kontaktbeschränkungen eine explosive Enge erzeugen. Immer wieder müssen Jugendämter und Familienrichter entscheiden, dass Kinder nicht mehr zu Hause leben können, auch jetzt während der Coronapandemie.
Nicht alle dieser Kinder und Jugendlichen können in eine Pflegefamilie. Manchmal ist das auch gar nicht sinnvoll. In Berlin lebten Anfang März rund 8.500 Kinder und Jugendliche in 230 stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Für sie bedeuten die üble Verheißung, die über dem Begriff Kinderheim schwebt, die alten und die neuen Bilder ein teils lebenslanges Stigma.
„Wenn wir in den Anfangsjahren zum Geburtstag eines unserer Kinder eingeladen haben, kam manchmal kein einziges Kind“, sagt Josefa Dangelat, die Leiterin der Einrichtung Kinder- und Jugendwohnen in Lichtenrade, in der Thorsten aufgewachsen ist. Viele sehen uns als die Resterampe der Jugendhilfe“, sagt Dangelat. Es liegt an solchen Vorurteilen, dass sie die Türen ihrer Einrichtung für Besucher*innen öffnet. Sie habe mit ihrem Team Schulen besucht, mit Lehrer*innen gesprochen, die Eltern eingeladen. „Alle einzeln.“
Auch Familienrichter hat Dangelat durch die Einrichtung geführt. Richter, die immer wieder darauf beharrten, dass Kinder und Jugendliche auch in schwierigstem familiärem Umfeld verbleiben. Alles ist besser als ins Heim? „Sie müssen es sich einfach mal anschauen“, sagt Josefa Dangelat.
Wir fahren weit in den Süden Berlins, in den äußersten Zipfel von Tempelhof-Schöneberg, nach Lichtenrade. In den Vorgärten der Einfamilienhaussiedlung sind die Magnolien verblüht, stattdessen blühen Flieder und Apfelbäume, Hirtentäschel steht an den Wegrändern. Ist es das grau geklinkerte Haus oder vielleicht das gelb getünchte? Das mit dem Holzanbau oder das mit dem Trampolin im Garten?
Fünf Häuser hat die Gesellschaft für erzieherische Hilfen Berlin-Tempelhof, ein kleiner gemeinnütziger Träger, hier angemietet, fußläufig im Viertel verteilt. Sie fügen sich ein in die gleichförmige Verschiedenheit der Einfamilienhäuser und beherbergen derzeit 44 Kinder und Jugendliche in kleinen Gruppen.
„Die meisten bezeichnen uns tatsächlich als Kinderheim“, sagt Leiterin Josefa Dangelat. In der Behördensprache heißt es stationäres Kinder- und Jugendwohnen. „Wir bevorzugen aber den Begriff Wohngruppen.“ WG – das gefalle auch den Kindern besser, sagt Dangelat.
Josefa Dangelat ist noch jung, 34 Jahre gerade erst geworden, und hat doch schon einige Kinder großgezogen. Darunter auch Thorsten, einen ihrer ersten Schützlinge. Seit fast 12 Jahren, nahezu ihr ganzes Erwachsenenleben, arbeitet Dangelat hier in Lichtenrade. Die Frau mit dem langen braunen Haar, buntem Schal, den Strassohrringen und dem breiten Lächeln hat angefangen als Praktikantin, wurde dann Erzieherin, später pädagogische Koordinatorin, seit vergangenem Jahr ist sie die Leiterin der Einrichtung mit den fünf Einfamilienhäusern und drei Wohnungen.
Nach der Ausbildung – „erst mal was Praktisches“ – hat Dangelat studiert und nebenbei weiter hier gearbeitet. „Ich fahre nach Hause“ – das sagte Josefa Dangelat zu dieser Zeit auch, wenn sie auf dem Weg zu ihrer Wohngruppe in Lichtenrade war.
Von den Jugendämtern der Stadt bekommt ihre Einrichtung in normalen Zeiten eine Anfrage pro Woche. „Gerade sind es deutlich mehr, um die sieben“, sagt Dangelat. Das jüngste Kind, das sie im Auftrag des Jugendamts einziehen lassen sollten, war noch keine acht Monate alt. „Das mussten wir ablehnen, das können wir nicht leisten.“ Die meisten Neuzugänge sind um die vier Jahre alt. So wie das Mädchen, das nun mit einem Schnuffeltuch im Arm in der Tür eines der Häuser steht. „Das ist unsere Clearing-Stelle“, sagt Dangelat und meint damit die Gruppe für neu aufgenommene Kinder.
Ankommen in der Clearing-Stelle
Die Clearing-Stelle ist der Ort der Ungewissheit. Manche der Kinder, die hier ankommen, hat das Jugendamt direkt aus der Schule abgeholt oder aus verwahrlosten Wohnungen. „Clearing“ steht für Klärung, denn noch ist unklar, ob die Eltern sich dauerhaft oder nur zeitweise nicht kümmern können. Vielleicht sind sie im Krankenhaus, in der Psychiatrie oder im Gefängnis.
Fünf Kinder zwischen 4 und 13 Jahren leben im Moment in der Clearing-Gruppe. In drei hellen Zimmern mit bunter Bettwäsche, Familienbildern an den Wänden und Bilderbüchern in den Regalen, mit Puzzles auf dem Boden und Barbies im Bett. Im Bad rotieren kleine Jeans in der Waschmaschine, auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Matheheft. „Kleiner, größer oder gleich“, die Seite ist aufgeschlagen und die Erzieherin erklärt einem siebenjährigen Mädchen mit dunklen Locken, wann die Dinge gleich und ungleich sind.
Die ganz Kleinen spielen indes Verstecken. Die Vierjährige mit dem Schnuffeltuch hat sich das Knie gestoßen und weint. Die Erzieherin holt Wundspray und Pflaster, versorgt vorsichtig die äußerlich kaum sichtbare Schramme. Es ist genau die Erzieherin, die vor dreizehn Jahren auch Thorsten in Empfang nahm – mit einem Geschenk auf dem Bettchen. Daran erinnert sich Thorsten heute noch.
Eines Tages sei er mit dem Taxi von zu Hause abgeholt und nach Lichtenrade gebracht worden. Nur den Rucksack mit seinem Gameboy hatte er dabei. Thorsten war da gerade mal sieben Jahre alt und hat quasi nicht gesprochen. „Ich habe die Welt nicht verstanden“, erinnert er sich bei einem Treffen in der Wohnung von Josefa Dangelat. Was genau in seinem ersten Zuhause, mit der alleinerziehenden Mutter, vorgefallen war: Thorsten weiß es nicht und will sich auch nicht erinnern. „Was ich sagen kann, ist, dass meine Mutter nicht gesund ist.“ Um den Jungen zu schützen, durfte sie ihn damals ein Jahr lang nicht sehen, nicht wissen, wo er war.
„Wir wissen nie genau, was die Kinder alles erlebt haben“, sagt Dangelat. Manchmal erfahren es die Erzieher*innen nach und nach, manchmal nie. Manche Kinder lassen sich nicht duschen, sprechen wie Thorsten kein Wort. Es gibt Kinder, die ihr eigenes Erbrochenes essen mussten, die massive Gewalt oder die Last der Verantwortung für psychisch erkrankte Eltern verarbeiten müssen. Es sind Kinder aus akademischen und aus sogenannten bildungsfernen Haushalten, ohne und mit Migrationshintergrund. „Auch Kinder aus dem Menschenhandel hatten wir schon hier“, sagt Dangelat.
Das Mädchen mit dem Schnuffeltuch, das zurzeit in der Clearing-Stelle lebt, hat aufgehört zu weinen und winkt mit den anderen zum Abschied. Die Siebenjährige mit den Matheaufgaben wird uns mit ihrem rosa Fahrrad noch ein Stück durch die Spielstraße der Siedlung begleiten.
Ein festes Team pro WG
Es gibt sie auch heute noch, die großen Einrichtungen mit vielen Kindern in einem Haus und einem Schild vor der Tür. Die zwei Frauen, die vor 17 Jahren das Kinder- und Jugendwohnen in Lichtenrade begründeten, „wollten das anders machen, familiärer“, erzählt Dangelat. Sie fanden ein Einfamilienhaus zur Miete, mit einer Gruppe von sechs Kindern ging es los. Dann kam noch ein Haus dazu und noch eins und weitere. Jedes gefundene Haus bedeutete einen Vermieter, der „uns eine Chance gab“. Und Nachbar*innen, „die wir von Anfang an mit eingebunden und überzeugt haben, dass wir gute Nachbarn sind“.
„Gerade bei Kindern, bei denen noch regelmäßiger Kontakt zu den Eltern besteht, ist eine Einrichtung wie unsere manchmal die bessere Alternative zu Pflegeeltern“, sagt Dangelat. Zu jeder der fünf Intensivgruppen, in die die Kinder nach dem Clearing kommen und in denen sie rund um die Uhr betreut werden, gehört ein festes Team von mindestens vier Erzieherinnen und Erziehern. Da sei die Zusammenarbeit zwischen Eltern und neuem Zuhause oft leichter als in einer Pflegefamilie. „Wenn es mit einem der Erzieher nicht passt, sind noch drei andere da.“ Für die Eltern bedeutet das weniger Bedrohung, weniger Feindbild. Für das Kind bedeutet es weniger Loyalitätskonflikt und weniger Stress.
Wir entfernen uns von dem Haus mit der Clearing-Gruppe, laufen durch die Spielstraße hindurch an einem Spielplatz vorbei, Anwohner grüßen. Das Haus, bei dem wir jetzt ankommen, liegt versteckt in zweiter Reihe. „Das ist unser Schmuckstück“, sagt Josefa Dangelat auf der kleinen Treppe zum Eingang.
Die fünf Kinder, die im „Schmuckstück“ wohnen, sind schon keine mehr. Drei Mädchen, zwei Jungs – alle zwischen 13 und 14. Zwei Ältere sind gerade umgezogen in eine Jugendwohngruppe des Trägers, in der sie nur noch stundenweise betreut und begleitet werden. Die drei Mädchen sitzen am langen Esstisch aus dunklem Holz, lernen Französisch und Englisch. Auf dem Tisch stehen Wasser und Gebäck. Die Erzieherin sitzt am Kopfende und macht die Abrechnung.
„Hier stimmt was nicht, es ist zu viel Geld in der Kasse“, stellt sie fest. „Hat noch jemand einen Bon in der Tasche?“ Die Mädchen verneinen. In der Ecke steht ein Klavier, über dem Kamin hängen Bilder von gemeinsamen Ausflügen. Einer der Jungen steckt den Kopf zur Terrassentür herein, er sucht in dem kleinen Garten nach Käfern für den Naturwissenschaftsunterricht. „In 20 Minuten ist Hofpause“, sagt die Erzieherin und grinst. Auch hier herrschen Homeschooling-Bedingungen.
Im Obergeschoss die Jugendzimmer: Sportplakate an den Wänden, selbst gemalte Bilder auf dem Boden, ein Schminktisch an der Wand, Wäscheständer voller Klamotten. Jeder Jugendliche richtet sein Zimmer selbst ein. Und wäscht seine Wäsche eigenständig. In der Clearing-Gruppe, dort wo wir am Anfang die ganz Kleinen getroffen haben, bleiben die Neuankömmlinge bis zu fünf Monate. In einer festen Gruppe wie dieser hier verbringen sie dann häufig ihre restliche Kindheit und Teile ihrer Jugend. So wie Thorsten.
„Das war dann mein Zuhause“, sagt der heute 20-Jährige. Das kleine Kind im Hintergrund sei er am Anfang gewesen. Er, der schlecht hörte und kaum sprach. Bloß nicht auffallen. Und dann sei das entstanden, was er heute als Familie bezeichnet: Zusammenhalt, Vertrauen, miteinander lachen, auch mal Mist machen und trotzdem gemeinsam positiv in die Zukunft schauen. „Ich wurde so respektiert, wie ich bin“ – von den anderen Kindern, von seinen Erzieher*innen. Aus dem stillen Jungen im Hintergrund wurde nach und nach der Aufgeschlossene und Hilfsbereite, der große Bruder, manchmal auch der Pausenclown.
Wenn Thorsten anderen heute erzählt, dass er in einer Einrichtung groß geworden ist – „Heim klingt so negativ“ –, dann sagt er auch: „Ich will aber kein Mitleid, ich hatte es gut.“ Mit seiner Wohngruppe ist er in die Türkei, nach Schweden und Griechenland gereist. Dank einem Programm für Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen hat er fünf Jahre lang immer wieder die Ferien bei einer niederländischen Gastfamilie verbracht. „Mit denen habe ich heute noch Kontakt.“
Muster durchbrechen
Häuser mit Klavier, Kamin und eigenem Garten, einträchtiger Heimunterricht, Reisen ins Ausland – fast vergisst man, dass es sich um Menschen mit schwierigen Biografien handelt, die hier aufwachsen. „Das täuscht jetzt ein bisschen“, sagt Dangelat, als wir die Intensivgruppe wieder verlassen. Einfach seien ihre Schützlinge gewiss nicht. „Gerade in dieser Gruppe gab es gestern erst eine Prügelei.“
Aber die betonte Familiarität in den Gruppen, die gutbürgerliche Ausstattung der Häuser, die intensive Begleitung der Kinder und Jugendlichen, sie ist Ausdruck des Glaubens, dass man den zerstörerischen Mustern der Eltern etwas anderes, ebenso Wirkungsstarkes entgegensetzen muss. „Die Muster durchbrechen“, sagt Dangelat. Das kostet auch Geld.
„Wir gehören sicher nicht gerade zu den günstigen Einrichtungen“, sagt die Leiterin. Jeder Träger verhandelt mit dem Landesjugendamt seinen Kostensatz – je nach Ausstattung. Aber den Jugendämtern der Bezirke, die die Einrichtungen bezahlen, steht jedes Jahr nur ein bestimmtes Budget zur Verfügung. Im Zweifel bedeute das, so Dangelat: Entscheidung nach den Kosten und nicht nach dem Bedarf des Kindes. Ob Kinder und Jugendliche in gut ausgestattete und vergleichsweise teure Einrichtungen wie diese kommen, hängt auch von dem Bezirk ab, in dem sie leben. Einige Jugendämter, so erzählt es Josefa Dangelat, würden aufgrund des enormen Kostendrucks gar nicht mit ihrer Einrichtung zusammenarbeiten. Bei anderen seien sie dagegen dafür bekannt, dass viele ihrer Schützlinge Abitur machten. „Wir hören immer wieder, dass das für stationäre Einrichtungen sehr ungewöhnlich ist.“
Als Thorsten kam, hat er nicht gesprochen – elf Jahre später hat er den Mittleren Schulabschluss geschafft, in diesem Jahr will er seine Ausbildung beenden. Er hat schon lange eine Freundin, träumt von einem „guten Job und einem guten Auto, irgendwann auch Familie“. Zu seiner Herkunftsfamilie hat er kaum Kontakt, er weiß sich zu schützen vor dem, was er „das Negative“ nennt. „Aber verlassen fühle ich mich nicht, ich habe ja meine Wohngruppe.“ Ob er sich fragt, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht nach Lichtenrade, in die Einfamilienhaussiedlung, zu Josefa Dangelat und den anderen gekommen wäre? „Nicht das, was ich heute bin“, sagt er schlicht.
„Er hat es allen gezeigt“
„Er hat es allen gezeigt, hat immer mitgezogen.“ Josefa Dangelat ist sichtbar stolz, ein Lebensweg wie der von Thorsten ist auch ihr Erfolg. Selbstverständlich ist er nicht. „Die Erzieher, die mit großen Utopien kommen, die alle retten wollen, die bleiben oft nicht lange.“ Denn immer gibt es auch die Kinder, bei denen es nicht gelingt, die großen Belastungen, die zerstörerischen Muster der Eltern zu überwinden. Bei denen sich die Geschichten von Sucht, Kriminalität und Beziehungsabbruch wiederholen. Kürzlich ist das Kind einer ehemaligen Bewohnerin eingezogen. Und einer ihrer Schützlinge hat, genau wie einst ihre Mutter, sehr früh ein Kind bekommen.
„Gerade bei denen, die recht spät zu uns kommen“, sagt Dangelat, heiße pädagogischer Erfolg manchmal einfach, „dass sie als Erwachsene nicht auch im Gefängnis landen oder in der Psychiatrie“. Es gebe Kinder und Jugendliche, die sie weiterschicken müssen, weil „wir mit unseren Mitteln nicht weiterkommen und sie vielleicht woanders noch eine Chance haben“.
Auf einem der kleinen Siedlungswege in Lichtenrade zeigt Josefa Dangelat noch einmal auf eines der versteckten Häuser. Es gibt eine Unsichtbarkeit, die sie hier wollen, in den Häuschen ohne Schilder am Eingang – um ihre Kinder vor dem Stigma Kinderheim zu schützen. Und es gibt eine fatale Unsichtbarkeit, bei der Einrichtungen wie diese genau hinter dem Stigma verschwinden. Auch jetzt in der Coronazeit.
„Uns gibt es bei allen Danksagungen und Prämien nicht“, sagt Dangelat. Und auch nicht in den Überlegungen zu Quarantäne und Mitarbeiterschutz der Gesundheitsämter. Dabei seien die Anforderungen an die Erzieher*innen in stationären Kinder- und Jugendeinrichtungen besonders hoch: Die 44 Kinder und Jugendlichen in Lichtenrade sind noch immer die meisten Tage zu Hause statt in der Schule oder im Kindergarten. Bei sechs Kindern pro Gruppe sind die Erzieher*innen schnell nur noch mit Heimunterricht beschäftigt.
Sie müssen aber auch die Eltern auffangen, die ihre Kinder zunächst nur noch per Videochat sehen konnten und selbst jetzt nur mit Abstand. Und die Kinder, die in diesen ersten Wochen „unheimlich viel Nähe brauchten“. Einem Vierjährigen, sagt Dangelat, „dem kann ich nicht erklären, was Corona ist, der sieht nur, dass Mama nicht wie sonst zweimal in der Woche kommt“.
Die Erzieherin aus der Clearing-Gruppe arbeitet fast jeden Tag statt sonst an drei Tagen in der Woche, der Mann versorgt das eigene Kind. Die alleinerziehenden Mitarbeiterinnen hätten teils ihre Kinder mitgebracht, viele verzichteten auf angemeldeten Urlaub und Übertage. Auch die älteren kämen ohne Unterlass zum Dienst.
Es ist ähnlich wie in anderen stationären Einrichtungen und doch anders: „Bei uns können keine Fremden übernehmen, wir arbeiten mit Kindern.“ Weil das so ist, in Coronazeiten wie auch sonst, „könnten wir nicht mal für unsere Belange streiken“, sagt Dangelat, die sich auch im Vorstand der Interessenvertretung der freien Kinder- und Jugendhilfeträger Berlins engagiert. Mit Blick auf die Sparzwänge der Nach-Corona-Zeit befürchtet sie, dass es sich bei ihnen, den Unsichtbaren, dann auch leichter kürzen lässt.
Fehlende Anerkennung
Doch trotz fehlender Anerkennung, trotz der Negativbilder, trotz der hohen Anforderungen: „Ich kann mir nichts anderes vorstellen“, sagt die Erzieherin der Clearing-Stelle. Auch wenn sich ein Feierabend um 12 mal bis 16 Uhr hinziehen könne, weil man bei einem Konflikt nicht einfach „Ich geh dann mal“ ruft. „Unsere Arbeit muss man leben.“ Die Hälfte des Teams ist wie sie und Dangelat schon seit mindestens 10 Jahren dabei, „die haben gefälligst auch bis zur Rente zu bleiben“, Dangelat lacht. Und meint es doch ganz ernst: „Die Kinder haben doch schon so viele Beziehungsabbrüche erlebt.“
So wie Thorsten haben all ihre einstigen Schützlinge ihre Handynummer. Thorsten ruft an, wenn er Rat braucht – zu seiner Beziehung, der Ausbildung, dem Umgang mit der Mutter. Dangelat war dabei, als er zum ersten Mal seinen Vater wiedersah, er besucht sie in ihrem Zuhause und sie ihn in seinem. Es ist eine Vermischung von Arbeit und Privatleben, bei der jeder seine eigene Grenze finden dürfe und müsse, sagt die Leiterin des Kinder- und Jugendwohnens in Lichtenrade. „Aber wenn ich zehn Jahre lang ein Kind erziehe, dann sage ich am Ende nicht: Tschüss und komm klar!“ Bei Josefa Dangelat klingt das ganz selbstverständlich.
* Thorsten heißt eigentlich anders und hat sich diesen Namen ausgesucht, um seine Geschichte zu erzählen.
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