Kindergrundsicherung und Armut: Der Wert von Kindern
Die Koalition streitet, wie viel Geld sie für die Grundsicherung bereitstellt. Aber Kinderarmut wird sie mit ihrem Vorhaben sowieso nicht beseitigen.
Lisa Paus ist Mitte August mit ihrem Parteikollegen Tarek Al-Wazir unterwegs, es ist Wahlkampf in Hessen, sie besuchen eine Sprachkita in Offenbach. Die Familienministerin interessiert sich für die Sprachen in den Kinderbüchern und staunt über Stifte, die wie Aufnahmegeräte funktionieren – aber sie fragt meist die Erwachsenen, mit den Kindern scheint sie nicht recht anzubandeln.
Selbst als sie mit den Kindern Seifenblasen pustet, bleibt sie bei der Sache: „Nimm mal das hier“, sagt sie und reicht dem Kind neben sich ein anderes Stäbchen zum Pusten. Die effiziente Finanzpolitikerin in der Familienministerin, sie kommt immer wieder zum Vorschein.
Vielleicht ist Lisa Paus deshalb genau die Richtige für diesen Job. Schließlich geht es den Grünen in der aktuellen Legislatur darum, Kinderarmut mittels Kindergrundsicherung zu beseitigen. Das war ihr Versprechen im Wahlkampf, jetzt ist vom „wichtigsten sozialpolitischen Projekt“ die Rede. Nicht schlecht, wenn da eine sitzt, die gerne rechnet und bei der Sache bleibt.
Laut Linkspartei sind 26 Milliarden Euro nötig
Vergangene Woche, wenige Tage nach ihrem Besuch in der Sprachkita, hat Paus das sogenannte Wachstumschancengesetz, ein Vorhaben von Finanzminiser Christian Lindner (FDP), blockiert, um Druck aufzubauen in Sachen Kindergrundsicherung. Sie will Zusagen, es geht ums Geld, 2 bis 7 Milliarden Euro im nächsten Haushalt. Bis Redaktionsschluss war unklar, auf welche Zahl sich die Koalition einigen wird. Doch egal, wie das Ergebnis sein wird, es bleiben Fragen: Ist es realistisch, die Kinderarmut durch eine Kindergrundsicherung von 2 bis 7 Milliarden Euro zu beseitigen?
In der Opposition ist man naturgemäß skeptisch: Während die Union die Kinderinfrastruktur stärken, also etwa Schulen und Kitas besser ausstatten und die Eltern der Kinder in Erwerbsarbeit bringen will, geht der Linkspartei die Forderung von Lisa Paus nicht weit genug.
Nach einem im März vorgestellten Konzept müsste die Kindergrundsicherung laut Linkspartei 26 Milliarden Euro jährlich kosten, um Kinderarmut tatsächlich zu beseitigen. Vergleicht man das mit dem Vorschlag von Paus, klingt das utopisch: Noch Anfang dieses Jahres forderte sie 12 Milliarden Euro. Als wahrscheinlich gilt, dass sich die Koalition auf 3,5 Milliarden einigen wird.
Dabei gibt es Berechnungen von verschiedenen Wissenschaftler_innen, die von ähnlich hohen Summen wie die Linkspartei ausgehen. Die Grünen selbst hatten vor der Wahl das ifo Institut mit einer Studie zum Thema beauftragt. Das Ergebnis: Je nach Modell kostet die Kindergrundsicherung zwischen 17 und 25 Milliarden Euro.
Alle Modelle eint, dass sie verschiedene Leistungen bündeln wollen.Nach derzeitigem Vorhaben des Familienministeriums bekommen alle Eltern einen Grundbetrag und je nach Einkommen einen Zusatzbetrag. Wem wie viel Zusatzbetrag zusteht, soll die Familienkasse anhand von Steuerdaten überprüfen und mitteilen. Anhand eines vereinfachten Formulars soll der Betrag dann beantragt werden können.
Momentan herrscht Behördenchaos
Heute müssen alle Leistungen an ganz unterschiedlichen Stellen beantragt werden. Der Zusatzbetrag soll das bündeln. Klar ist, dass dazu der Kinderzuschlag, der Kinderfreibetrag und Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch gehören. Nicht einig ist man sich in der Koalition darüber, ob das Bildungs- und Teilhabepaket in die Kindergrundsicherung einfließen soll. Die FDP ist dagegen.
Eigentlich soll auch das Existenzminimum neu berechnet werden, wovon Kinder in Familien profitieren würden, die Bürgergeld beziehen – doch das ist Sache des Arbeitsministeriums von Hubertus Heil (SPD). Die SPD hatte bereits angekündigt, hierauf im Notfall zu verzichten, um die Kindergrundsicherung jetzt beschließen zu können.
Dabei ist allein deshalb mit Mehrausgaben von circa 5 Milliarden Euro zu rechnen, weil viele Leistungen im jetzigen System nicht beansprucht werden. So schätzt es zumindest das Familienministerium selbst. Zwar ist in letzter Zeit die Zahl derjenigen gestiegen, die den Kinderzuschlag bekommen, im Januar aber ging das Ministerium von 1,5 Millionen Kindern aus, die zwar leistungsberechtigt sind, deren Eltern den Zuschlag aber nicht beantragen.
Ein Problem in der Debatte über die Kindergrundsicherung ist, dass Paus zwar Kosten von 12 Milliarden Euro ankündigte, aber öffentlich nie recht begründen konnte, wie sie auf die Zahl kommt. Vom Finanzminister wurde zunächst ein Platzhalter von 2 Milliarden Euro anberaumt. Bei der FDP war man überzeugt, dass die Kindergrundsicherung vor allem ein Digitalisierungsprojekt sei und die Summe dafür schon ausreichen werde. Ein Klein-Klein, wenn man bedenkt, wie gering der Anteil im Gesamthaushalt ist; vorgesehen sind derzeit 445,7 Milliarden Euro.
Über wen wird hier gesprochen?
Bei alldem gerät eines schnell aus dem Fokus: Worum geht es hier eigentlich? Konkret geht es darum, dass Paul und Paula genug Geld haben, um mit ihren Kindergartenfreund_innen den Ausflug ins Schwimmbad zu machen, Mesut genug, um zum Kindergeburtstag der Freundin ein Geschenk mitzubringen. Und darum, dass die Eltern von Leila, Kim und Victor nach der Arbeit nicht aufwendige Formulare in Behördendeutsch ausfüllen, sondern ein paar Klicks machen, um das Geld zu bekommen. Zeit, in der sie ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen oder mit ihnen spielen könnten. Kurzum: Es geht um Teilhabe, wie Expert_innen so schön sagen, die ihnen nach UN-Kinderrechtskonvention zusteht.
Statistisch gesehen geht es um 2,9 Millionen Kinder, die laut Bertelsmann Stiftung armutsgefährdet sind, deren Eltern weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verdienen; vor allem Kinder, die zwei oder mehr Geschwister haben, sowie Kinder von Alleinerziehenden.
Doch es gibt nicht nur moralische und rechtliche Gründe, die Kinderarmut abschaffen zu wollen, sondern auch kühle finanzielle. Der Schaden, der durch Kinderarmut entsteht, ist in jedem Fall höher als der Betrag, den die Einführung einer Kindergrundsicherung kosten würde. Das ist ein Ergebnis, zu dem das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einem Gutachten kam, das von der Diakonie beauftragt wurde.
Dabei wurden Bürokratiekosten für die Bearbeitung von zukünftigen Sozialleistungsanträgen berücksichtigt, die Kosten für den Gesundheitssektor und andere indirekte Maßnahmen, die oft mit Armut zusammenhängen. Armut hat für Betroffene Auswirkungen auf das gesamte Leben – so verschleppt sich Armut oft über Generationen hinweg, weil die Wahrscheinlichkeit steigt, weniger zu verdienen, wenn die Eltern schon Geringverdiener_innen waren. Diakonie und DIW stützen sich dabei auf eine OECD-Studie, wonach diese Folgekosten über 100 Milliarden Euro betragen würden.
Diakonie fordert 20 Milliarden Euro
Bestärkt diese Rechnung das Vorhaben von Lisa Paus? Zumindest lässt sich die Familienministerin von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie beraten und griff auch die Ergebnisse des Gutachtens auf. Lilie jedoch fordert von der Familienministerin mehr als 7 Milliarden Euro – mindestens 20 Milliarden pro Jahr seien für die Kindergrundsicherung angemessen.
Das reiht sich ein in die anderen Forschungsergebnisse und wird auch den drei Finanzpolitiker_innen Paus, Lindner und Scholz eigentlich klar sein. Doch in der Koalition scheinen alle Regierungsmitglieder zu sehr mit ihren eigenen Anliegen beschäftigt zu sein. Die Fernsicht fehlt, verdeckte Kosten sind dabei leicht zu ignorieren.
Das Bündnis Kindergrundsicherung schlägt vor, zur Finanzierung eine „moderate Vermögenssteuer“ einzuführen, die Erbschaftsteuer anzuheben, eine Börsenumsatzsteuer oder einen „Kinder-Soli“ auf große Vermögen einzuführen. Zum Vergleich: Für das Ehegattensplitting entstehen jährlich Kosten von etwa 20 Milliarden Euro.
Am Dienstag trifft sich das Kabinett zur Klausur auf Schloss Meseberg. Davor soll es zu einer Einigung in Sachen Kindergrundsicherung kommen. Selbst wenn sich Paus mit 3,5 Milliarden Euro für den nächsten Haushalt durchsetzt – der große Aufschlag gegen Kinderarmut wird das nicht sein.
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