Kinder im Straßenverkehr: Ach-du-Scheiße-Zeitlupen-Momente
Es sind Augenblicke, in denen sich die Zeit zu dehnen scheint. Etwa wenn das Kind auf die Straße rollt, während man um sein Leben brüllt.
H alt an! Halt an!!! HALT AN!!!! Ich bin zu weit weg. Ein Meter fehlt. Und ich hab meine kleine Tochter hinten auf dem Fahrradsitz. Ich kann nicht nach der Großen greifen. Ich kann sie nicht festhalten. Und so muss ich dabei zusehen, wie sie auf ihrem kleinen Fahrrad auf die Straße rollt und wie von links der Kombi angefahren kommt und wie sie gar nicht zu realisieren scheint, was da gerade passiert.
Es ist einer dieser wenigen Momente im Leben, in denen die Zeit sich zu dehnen scheint. Obwohl es nur Sekunden sind, erscheinen sie ewig lang und ich erlebe sie übertrieben bewusst. Das letzte Mal hatte ich so einen Moment, kurz bevor ich den Wagen meiner Eltern gegen die Mauer unseres Vorgartens setzte. In der halben Sekunde vor dem Zusammenstoß hatte ich viel zu viele klare Gedanken. Der klarste war: „Ach du Scheiße, jetzt gleich fahr ich gegen die Mauer, das gibt Ärger, aber ich kann jetzt auch nichts mehr machen, also bremsen, zurücklehnen und genießen.“
Und jetzt tritt meine Tochter in die Pedale. Also brülle ich: „HALT AN!!!!“ Der Autofahrer macht eine Vollbremsung. Meine Tochter merkt wohl auch noch, dass was nicht stimmt. Und dann steht sie da. Ihr Vorderrad ein paar Zentimeter neben der Beifahrertür. Die Beifahrerin fährt das Fenster runter, fragt meine Tochter, ob alles okay sei. Ganz lieb. Keine Schuldzuweisung. Doch meine Tochter ist starr. „Alles gut“, sage ich. Und: „Tut mir leid.“
Die Wut auf der anderen Straßenseite
Wir überqueren die Straße. Alles noch mal gut gegangen. Wie meistens im Leben. Mein Dilemma beginnt auf der anderen Straßenseite. Ich bin froh. Und wütend zugleich – auf meine Tochter und mich. Wertschätzend soll man ja immer erst mal sein. Habe ich gelesen. Doch was soll ich Wertschätzendes sagen? „Richtig toll, wie du es geschafft hast, nicht überfahren worden zu sein, aber …“
Ich will ihr deutlich machen, wie schön es ist, dass es ihr gut geht, liebevoll sein, trösten. Und ich will meiner Tochter klarmachen, dass sie aufpassen muss. Und ich darf den Ärger über mich selbst, dass ich sie nicht genug beschützt habe, nicht an ihr auslassen. Und ich darf das alles auf keinen Fall miteinander vermengen.
Ach, und eine Sache noch: Ich will das Ganze noch vor der Kita besprechen, denn ich glaube, dass eine unmittelbare Reaktion für Kinder nachvollziehbarer ist.
Ich hab’s nicht geschafft. Glaube ich. Meine Wut überwog. Die Chance, es besser zu machen, kommt hoffentlich und leider bald. Hoffentlich, weil es bedeutet, dass dann wieder einmal alles gut gegangen sein wird. Und leider, weil ich auf diese Ach-du-Scheiße-Zeitlupen-Momente gut verzichten könnte.
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