Ketamin gegen Depression: Eine Dosis neue Hoffnung
Viele kennen Ketamin nur als Partydroge oder Betäubungsmittel für Pferde. Nun wird der Wirkstoff auch gegen Depressionen eingesetzt. Klappt das?
W ährend der ersten Ketamin-Infusion hat Tanja Valet eine Art Vision: Sie liegt in einem Bett der Berliner Charité und sieht sich von hinten, wie sie erhaben auf der Weltkugel steht und sich das Universum vor ihr auftut. „Ich öffnete meine mächtigen, muskulösen Flügel, war endlich wieder stark“, sagt sie. Sie habe sich gefühlt wie in einem wachen Traum, schwebend, auf angenehme Art von der Schwere ihres Körpers befreit. Zugleich habe sie wieder Lust empfunden, das Leben in die Hand zu nehmen.
In letzter Zeit hatte Valet sich schwach gefühlt, abgeschnitten von allem, leer. Das erzählt die 33-Jährige in einem Café in Berlin. Seit diesem Treffen im Frühjahr 2019 begleitet die taz sie. Tanja Valet ist nicht ihr richtiger Name – sie will anonym bleiben, da sie sehr persönliche Dinge schildert.
Früher arbeitete Valet als Sekretärin, in den letzten Jahren wäre das unmöglich gewesen: Selbst Alltägliches wie Einkaufen überforderte sie. „Ich war ohne jede Motivation, geistig und sogar motorisch extrem verlangsamt.“ Eine schwere Depression. Beinahe wäre ihre Ehe daran zerbrochen. Als Mutter machte sie sich Vorwürfe, nicht richtig für ihren Sohn da zu sein. „Ich hatte schon vier Therapeuten und viele Psychopharmaka ausprobiert, darunter fünf Antidepressiva.“ Der Strudel aus Gefühllosigkeit und Selbsthass blieb.
An Menschen wie Tanja Valet richtet sich ein seit über sieben Jahren im Rahmen internationaler Forschungskooperationen laufendes Pilotprojekt am Berliner Campus Benjamin Franklin, dem Universitätsklinikum. Weit über 100 Patient:innen haben hier bereits Ketamin gegen ihre starken, durch andere Behandlungen nicht abklingenden Depressionen bekommen. Es wird per Infusion und als Off-Label-Use verabreicht, innerhalb eines Einsatzgebietes also, für das es so nicht zugelassen ist. Aber hat Ketamin wirklich das Zeug dazu, schwer depressiven Menschen aus der Krise zu helfen?
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Wenige Monate nach Behandlungsbeginn wirkt Tanja Valet zuversichtlich. Sie spricht schnell, klar, auf Englisch mit südafrikanischem Akzent. „Etwa 15 Minuten nachdem der Tropf durchgelaufen war, kam ich zurück auf die Station und konnte in meinem Bett entspannen.“ Sie fühlt sich etwas beschwipst, wackelig, aber so gut wie lange nicht. Die Ärzt:innen und das Pflegepersonal erklären ihr immer wieder, dass es nicht um den „Trip“ selbst gehe. Vielmehr sei entscheidend, wie sie sich in den nächsten Tagen fühle.
Das 1962 erstmalig hergestellte Ketamin ist vor allem als Betäubungsmittel für Pferde und als Partydroge bekannt. Als Letztere wird es meist in Pulverform durch die Nase gezogen und führt zu einer veränderten Wahrnehmung. Die Substanz wurde aber schon im Vietnamkrieg als gut verträgliches Schmerzmittel und Notfallanästhetikum eingesetzt und in den USA 1970 für die Anwendung beim Menschen zugelassen.
Heute wird Ketamin global verwendet, seit 1985 listet es die Weltgesundheitsorganisation als eines der aktuell rund 500 unentbehrlichen Arzneimittel. Für die Narkose wird es auch in Deutschland eingesetzt – und hat als wertvolle Eigenschaft, die Atmung kaum zu beeinträchtigen. Ketamin fällt nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Aber der illegale Handel gilt als Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden.
Zwar hatte man Ketamin schon im Rahmen einer 1975 veröffentlichten Studie per Forced-Swim-Test mit Mäusen auf eine antidepressive Wirkung hin geprüft – indem man schaute, wie lange diese in einem mit Wasser gefüllten Glasgefäß gegen das Ertrinken anschwammen. Die Methode ist unter Tierschützer:innen und Wissenschaftler:innen umstritten und ergab, dass trizyklische Antidepressiva erfolgversprechender seien. Diese nach ihrer chemischen Struktur benannten Stimmungsaufheller werden inzwischen seltener verschrieben – wegen starker Nebenwirkungen wie Übelkeit, Abstumpfung und sexueller Dysfunktion.
In den 1990er Jahren dann machte John Krystal, Psychiater und Professor für Neurowissenschaften an der Yale University, eine unerwartete Entdeckung. Im Zuge biochemischer Forschungen zur Funktionsweise des Gehirns zeigte sich bei einigen Studienteilnehmer:innen, dass Ketamin deutlich gegen depressive Symptome wirkte. Den Effekt konnten immer mehr Forschende bestätigen; seither ist das Interesse groß.
Wenige Tage nach ihrer ersten Infusion soll Tanja Valet einer Gruppe Medizinstudierender von ihrer Depression erzählen. „Ich war ganz überrascht, dass ich plötzlich in der Vergangenheitsform sprach“, erinnert sie sich.
Solche Erfolge freuen auch Isabella Heuser-Collier. Als langjährige Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf war sie für Valets Behandlung zuständig. Die vor der Pensionierung stehende Medizinerin kennt die begleitenden Studien genau. In einem Gespräch in der Klinik, noch vor Corona, berichtet sie von den Ergebnissen: „34 Prozent der therapieresistenten Patienten profitierten deutlich, manche waren sogar symptomfrei. Das ist schon eine ziemliche Hausnummer.“ Wenn das Ketamin wirke, sei es fast wie ein kleines Wunder. Andere Studien zeigen bei manchen Patient:innengruppen gar eine Wirkquote von über 70 Prozent, zumindest temporär – aber durchaus über den während der Infusion spürbaren Effekt hinaus.
Seit Jahrzehnten gab es bei Antidepressiva keine echten Innovationen; Isabella Heuser-Collier bemängelt, dass die Forschung in Deutschland nicht mehr richtig gefördert werde. „Zwar haben wir sehr wirksame und gut verträgliche Psychopharmaka, aber mindestens ein Drittel der Patienten spricht nur ungenügend oder gar nicht auf sie an“, sagt sie. Überhaupt weiß man erstaunlich wenig darüber, was genau die Substanzen mit Patient:innen machen; bei Ketamin ist das nicht anders.
Es ist zwar bekannt, dass es im Gehirn an speziellen Bindungsstellen für den Botenstoff Glutamat wirkt und die Opioidrezeptoren zu aktivieren scheint. „Aber wie das mit der rasch eintretenden antidepressiven Wirkung zusammenhängt, wissen wir nicht genau“, erklärt Heuser-Collier. Ein weiteres Indiz sind Hirnscans, nach denen Ketamin die Verbindung zwischen verschiedenen Gehirnarealen erhöht. „Das scheint ähnlich zu sein wie bei Psychedelika“, sagt Heuser-Collier. Damit bezieht sich die Klinikchefin auf Substanzen wie LSD, Psilocybin und MDMA, die ebenfalls als Drogen bekannt sind und wissenschaftlich auf ihre teils vielversprechende Wirksamkeit gegen psychische Krankheiten untersucht werden.
Ketamin wirkt schnell
Der sich von den bekannten Antidepressiva unterscheidende Wirkmechanismus und vor allem der schnelle Wirkeintritt lassen Ketamin hervorstechen: Manche psychische Leiden lindert es messbar schon nach 40 Minuten, andere Mittel brauchen oft Wochen. Dieser Unterschied könnte gerade bei Suizidgefährdeten entscheidend sein.
„Wenn das Ketamin nicht geholfen hätte, wäre ich beunruhigt darüber, wo ich jetzt stünde“, sagt Tanja Valet bei einem zweiten Treffen einige Monate später. „Suizid war für mich keine Option, aber der Stoff kann zweifellos Leben retten.“ Seit sie mit 19 eine Psychose erlitt, hatte Valet immer wieder ernste psychische Probleme. Damals flog auf, dass ihre Mutter jahrzehntelang die Familie belogen hatte und ein Doppelleben führte. Valets Vertrauen in die Welt war erschüttert; sie konnte nicht mehr erkennen, was real war, und hatte akustische Halluzinationen: „Es war extrem beängstigend.“ Sie bekam Medikamente, wurde depressiv.
Später musste Valet, in Südafrika aufgewachsen, oft umziehen. Zweimal bangte sie um das Leben ihres Mannes, er besiegte seine Krebserkrankung. Als ihre Schwester 2017 unerwartet an einem Hirntumor starb und man bei ihrem Vater zwei Wochen später schweren Lungenkrebs diagnostizierte, wurde ihr alles zu viel. Sie rutschte in einen Abgrund jenseits normaler Trauer. Die Schwere wich auch nach vielen Monaten nicht, wurde immer stärker. Im Herbst 2018 war es so schlimm, dass selbst Gespräche kaum möglich waren: „Ich sah das Leben nur noch als Herausforderung und mich als wertlos und unfähig zu lieben.“ Dabei sei Valet, das sagt sie – und man merkt es ihr an –, ein sehr empathischer Mensch.
Tanja Valet, Teilnehmerin des Ketamin-Pilotprojekts an der Berliner Charité
In der Zeit, als sie Kontrolle und Antrieb völlig an die Depression verloren hatte, merkte sie nicht, wie schwer die Situation auch für ihren Partner war. Bei verzweifelten Recherchen nach Hilfe stießen sie auf die Website der Charité und machten einen Termin mit Heuser-Collier aus.
Die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie schlug nach ausführlicher Anamnese die unkonventionelle Behandlung mit Ketamin vor. Valet hatte noch nie davon gehört. Ihr Mann kannte es nur als Partydroge, schöpfte jedoch Hoffnung. „Ich war ambivalenter, auch weil es schwer ist, nach so vielen Enttäuschungen noch mal an eine Linderung zu glauben“, sagt Valet. Die schnelle Wirkung von Ketamin überzeugte sie aber, den Versuch zu wagen.
Valet wird im Dezember 2018 für etwa drei Wochen stationär aufgenommen. Sie ist nervös. Aber die klaren Strukturen und die medizinische Überwachung beruhigen sie. Sieben Infusionen bekommt sie in dieser Zeit. Der unmittelbare Rauscheffekt schwächt sich von Mal zu Mal ab, ein wattiges Entspannungsgefühl aber bleibt und wirkt lösend. Sie fühlt sich viel besser. Als sie wieder zu Hause ist, sei es erst komisch gewesen, erneut mit schwierigen Erinnerungen und Gefühlen konfrontiert zu werden. Aber es fällt ihr viel leichter, Entscheidungen zu treffen, Pläne zu machen oder ihren Sohn in die Kita zu bringen. Sie fühlt sich nicht mehr so müde und schuldig, sondern normal. Noch viel deutlicher nimmt ihr Partner den Unterschied wahr. „Er fand, ich sei wieder viel mehr ich selbst, fast wie ein anderer Mensch“, erzählt Valet.
Arno Flock hatte eine ähnliche Transformation im Sinn, als er die Charité kontaktierte. Der schlanke Enddreißiger mit Dreitagebart ist im sozialen Bereich tätig; mit Blick auf künftige Arbeitgeber möchte auch er seinen echten Namen nicht offenlegen. Schon vor Jahren hatten bei ihm mehrere Ärzt:innen eine chronische mittelschwere Depression diagnostiziert. Er beschäftigt sich leidenschaftlich mit alternativen Therapieansätzen, Traumaforschung und spirituellen Themen. In einem ersten Gespräch im Sommer 2019 spricht er außer von Studienergebnissen auch von Göttern und Energien.
Flock wurde als Ketamin-Patient von der Charité abgelehnt. Das ist etwa fünf Jahre her, aber er ist noch immer sauer: „Die haben sich nur für ihre Studie interessiert und waren total arrogant.“ Zweimal hatte Flock bereits „mit mäßigen Resultaten“, wie er sagt, Antidepressiva genommen. Man habe ihm aber nahegelegt, erst mal seine Psychotherapie zu beenden. Zwar findet Flock, er habe Glück gehabt mit seinem Therapeuten, weil der sein Ketamin-Vorhaben nicht ablehnte: „Die meisten sind dagegen, denn wenn man mit einer Pille oder einem Pulver das Gleiche erreichen könnte, wäre ihr Job überflüssig.“ Die Therapie habe auch geholfen, „aber nicht genug, ich war in Not“.
Also beschloss er, sich auf eigene Faust Ketamin zu organisieren. Als trockener Alkoholiker mit Hang zur Sucht konnte er es nicht mit sich vereinbaren, die Substanz auf der Straße zu besorgen. Das war auch gar nicht nötig: Im Internet findet man Ärzt:innen, die Infusionen gegen Geld anbieten. „Ich habe mir einen Arzt in Köln gesucht, alles mit ihm abgesprochen und bin hingeflogen. Das war total unkompliziert – zack, das Ding in die Vene.“
Der Ketamin-Hype in den USA
Illegal ist das nicht. Es handelt sich meist um Anästhesist:innen, die sich nicht mit Depressionen, aber gut mit Ketamin auskennen und es verschreiben dürfen. Wenngleich die Zahl der Anbieter in Deutschland wächst, ist sie überschaubar. In den USA nicht, dort gibt es einen regelrechten Hype: Allein das Onlineverzeichnis ketaminedirectory.com hält etwa 200 Adressen bereit. Viele Links führen auf teils schrille Webseiten mit glücklich lächelnden Menschen, betont seriösen Mediziner:innen oder Werbeslogans, die sich nicht nur an Depressive richten. Die Preise pro Infusion schwanken und können auch mal 1.500 Dollar betragen.
„Ich finde das schwierig“, sagt die Chefin der Charité-Psychiatrie und betont die Wichtigkeit einer Fachexpertise. Dass stark Leidende solche Angebote wahrnehmen, kann Heuser-Collier zwar verstehen: „Sie sind verzweifelt, greifen nach jedem Angebot.“ Handele es sich jedoch um psychiatrisch nicht notwendige Behandlungen, sei es richtig, dass diese selbst bezahlt werden. Mit solchen Anbietern stehe die Charité nicht in Kontakt. Manche Expert:innen wittern verantwortungslose Geldmacherei, die ärmere Menschen ausschließt.
Der Arzt, bei dem Arno Flock sein Ketamin in Köln bekam, heißt Frank Mathers. Der 62-jährige US-Amerikaner war wohl der Erste, der Ketamin in Deutschland off-label verabreichte – noch ein paar Jahre vor der Charité. Das erzählt er in lockerem Tonfall, mit ausladender Gestik und breitem Akzent per Zoom. Gleichzeitig betont Mathers nicht ohne Stolz, dass er mit führenden Forscher:innen in Kontakt sei und etwa in Oxford Vorträge über seine Arbeit mit Ketamin halte.
Er bestreitet nicht, dass es unseriöse kommerzielle Anbieter gibt. Auf ihn jedoch treffe dies nicht zu: „Das ist nur ein Zubrot, ich mache mein Geld vor allem als Narkosearzt und Schmerzmediziner.“ Entsprechend der in Deutschland geltenden Gebührenordnung koste eine Infusion bei ihm 220 Euro. Zudem betone er stets, kein Psychiater zu sein: „Ich lege den Leuten eine Nadel, lasse das Medikament reinlaufen und passe dabei anästhesistisch auf sie auf.“ Eine Bedingung dafür sei, dass sie anderswo in entsprechender Behandlung sind, am liebsten auch in Psychotherapie.
Vorsicht bei Psychosen
Überhaupt wähle er genau aus, sagt Mathers. Zunächst müsse es eine psychiatrisch bestätigte Indikation geben. Ein bisschen großzügiger als die Charité sei er wohl schon, aber „wenn einer kommt, weil ihn die Freundin verlassen hat, schicke ich ihn wieder weg“. In den letzten zehn Jahren habe er 1.300 Anfragen bekommen und 360 davon abgelehnt. Darunter seien psychotische Patient:innen gewesen: „Wenn die das Gefühl haben, ihre Hoden werden vom Mond bestrahlt oder sie können fliegen – Ketamin: bad idea, really bad idea.“ Außerdem müsse man bei Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Ähnlichem vorsichtig sein. Nach der Infusion solle man kein Auto fahren, sich ausruhen. Das entspricht auch in etwa der Einschätzung anderer Expert:innen.
Arno Flock, Depressionsbetroffener
Auf Besuch in der Charité führt eine Klinikmitarbeiterin in den Bereich, in dem die Ketamin-Infusionen durchgeführt werden. Mit seinen dröhnenden, rauschenden und summenden Überwachungsgeräten wirkt er wie eine besonders aktive Zelle des riesigen Klinikorganismus. Etwas abseits davon liegt der Aufwachraum, wo auch Tanja Valet damals Ketamin bekam. An den Wänden des Raums hängen Bilder von unwirklich schönen Landschaften; im Kontrast zur technischen Atmosphäre wirken sie etwas skurril.
Was Tanja Valet hier erlebt hat, nennen Fachleute Pseudohalluzinationen – Sinnestäuschungen, die einem als solche bewusst sind – und dissoziative Zustände. Letztere sind typisch für die Wirkung von Ketamin: Man fühlt sich vom eigenen Körper losgelöst, empfindet Raum und Zeit verzerrt und gewinnt eine Art Abstand zu sich selbst. Wohl deswegen ist in der Feierszene der Ausdruck „Urlaub auf Keta“ bekannt. Bei hoher Dosierung kann sich die Dissoziation zu einem sogenannten K-Hole steigern: einem Zustand, in dem man sich völlig losgelöst fühlt von der Realität und die Kontrolle über seinen Körper verliert. Je nach Situation besteht Verletzungsgefahr, bei entsprechender Veranlagung können eventuell Psychosen ausgelöst werden.
Den von Ketamin verursachten Rausch hält Heuser-Collier für eine lästige Nebenerscheinung. Es solle „eigentlich nicht zu irgendwelchen Halluzinationen oder merkwürdigen Gefühlen kommen, auch wenn manche das als angenehm empfinden“. Für eine therapeutische Dosis gegen Depressionen gibt es noch keinen Standard, die American Psychological Association empfiehlt 0,5 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht innerhalb von 40 Minuten.
Die umstrittene Rolle der Dissoziation
„Für mich als Anästhesisten ist das ein Scherz“, sagt Frank Mathers und spielt darauf an, dass die Dosis für eine Narkose deutlich höher ist. Oft gibt er seinen Depressionspatient:innen etwas mehr, spricht das aber individuell ab. Anders als Heuser-Collier sind nach Mathers’ Erfahrung deutliche Dissoziationen entscheidend für den Erfolg. „Leute, die einfach nur einschlafen, entwickeln sich nicht gut“, sagt er. Deswegen nehme er das ältere, günstigere Ketamin, das stärker dissoziativ wirke.
Inzwischen gibt es auch ein Nasenspray mit dem chemisch sehr ähnlichen Esketamin als antidepressivem Wirkstoff. Der US-Pharmariese Johnson & Johnson hält das Patent; die Kosten der empfohlenen Behandlung liegen in den USA pro Monat bei mehreren Tausend Dollar. Auch in der EU ist Spravato seit Ende 2019 zugelassen, aber in Deutschland noch nicht verfügbar. Die Charité plant eine eigene Ambulanz, wo Patient:innen es unter Aufsicht und strengen Auflagen offiziell gegen Depressionen bekommen sollen.
Anderswo wird sogar daran geforscht, ein chemisches Nebenprodukt von Ketamin nutzbar zu machen, das völlig ohne Rausch wirken soll. Der von Mathers und anderen beobachtete Zusammenhang zwischen Dissoziation und antidepressivem Effekt ist noch nicht geklärt: Ein kürzlich im Fachmagazin Nature Communications erschienener Artikel resümiert, dass die Datenlage unklar sei.
Arno Flock gehört auch eher zu denen, die an die Relevanz des Rauschs glauben. Mit dessen Hilfe sei er an Dinge in seiner Psyche herangekommen, die mit der Therapie allein verborgen geblieben wären: „Man kann sich selber wie von außen betrachten und dadurch neue Perspektiven einnehmen.“ Im dissoziativen Zustand habe er einmal den Eindruck gehabt, auf einem Festival zu sein, körperlich besser gebaut, mit einer jungen Frau an seiner Seite. Und gedacht: „So kann es sich also anfühlen ohne den ganzen Ballast.“
Psychotherapie in Verbindung mit Ketaminverabreichung
Um solche Erfahrungen besser nutzbar zu machen, verfolgt eine in Berlin neu eröffnete Praxis für „augmentierte Psychotherapie“ einen interdisziplinären Ansatz, nach dem Substanz und Therapie mehr sein sollen als die Summe aus beidem. Unter Ketamin gewonnene Einsichten sollen psychisch integriert, also therapeutisch besprochen, als Basis eines Lernprozesses begriffen und ins alltägliche Erleben eingeordnet werden.
Zwar empfahl man Tanja Valet an der Charité eine begleitende Psychotherapie, aber sie war zu der Zeit nicht in Deutschland krankenversichert. Hätte sie noch mehr von den Infusionen profitiert, wenn ihre inneren Regungen – nach einer Infusion brach eine große Traurigkeit aus ihr hervor – als Teil der Genesung betrachtet worden wären?
Einige Wochen nach der Infusionsserie kommen Valets Symptome langsam zurück, zuerst Müdigkeit, dann Langsamkeit, bis dann auch das Gefühl, im eigenen Kopf gefangen zu sein, wieder unverkennbar ist. Erst will sie das nicht wahrhaben, dann kontaktiert sie die Charité. „Depressionen neigen dazu wiederzukehren“, erklärt Heuser-Collier. „Der Effekt des Ketamins hält in der Regel nicht besonders lange an.“ Deswegen biete man den Patient:innen etwa alle sechs bis acht Wochen einzelne Auffrischungsbehandlungen an, mittlerweile auch ambulant. Also bekommt Valet weitere Infusionen.
Ketamin ist kein Allheilmittel. Es gibt keine Garantie, dass es überhaupt wirkt. Die Nebenwirkungen und Gefahren gelten im medizinischen Setting als überschaubar. Meist soll es auch keine Dauerlösung sein, sondern Depressive zunächst einmal aus dem tiefsten Loch holen. So kommen sie überhaupt in die Lage, weitere Schritte gehen zu können. Die können eine Psychotherapie sein oder auch andere Medikamente, die parallel eingenommen werden.
Wenn Ketamin aber in kürzester Zeit zu neuem Lebensmut verhilft, liegt dann nicht die Verlockung der Regelmäßigkeit nahe? „Das ist eine absolute Suchtsubstanz“, sagt Frank Mathers, der Anästhesist, „aber mir ist nicht bekannt, dass irgendwer in professioneller Behandlung je eine Abhängigkeit entwickelt hätte“. Ein deutlich höheres Suchtpotenzial haben tatsächlich andere Substanzen – wie die Opiate, die er gegen Schmerzen verschreibt. Wenn auch extrem selten, sei es trotzdem vorgekommen, dass er bei der Anamnese von Ketamin-Patient:innen belogen wurde oder Anfragen wegen Anzeichen einer Sucht ablehnte. Was außerhalb seiner Praxisräume passiere, könne er nicht kontrollieren.
Mögliche Langzeitfolgen nimmt Arno Flock in Kauf
„Ich bekomme jetzt Esketamin auf Privatrezept“, berichtet Arno Flock Ende Februar per Zoom und hält die Ampullen in die Kamera. Er trockne zu Hause deren Inhalt und nehme dann das Pulver. Sein Konsum sei recht häufig geworden, deswegen kaufe er sich inzwischen auch zusätzliches Ketamin. „Ist es riskant? Wahrscheinlich. Und ist es mir wurscht? Ja“, sagt er. Was die kaum erforschten Langzeitfolgen angeht, macht Flock sich keine Sorgen – obwohl es bei regelmäßigen und hohen Dosen über längere Zeit zu ernsten Blasenproblemen kommen kann.
Mit Blick auf die Gefahr, dass das Drogenstigma die Entwicklung neuer Antidepressiva weiter erschwert, sagt Flock: „Ich will keinesfalls, dass mein unrepräsentativer Fall anderen zum Nachteil gereicht.“ Zudem betont er, dass er sich redlich um andere Wege bemüht habe, an Ketamin zu kommen, und es ihm nun viel besser gehe: „Wenn ich dadurch endlich wieder meine Steuererklärung machen kann oder eine schöne Erinnerung an meinen Geburtstag habe, warum darf ich das Risiko nicht in Kauf nehmen?“ Die aktuelle Drogenpolitik kritisiert Flock: „Man ist der böse Junkie, wenn man abends Ketamin nimmt, aber gilt als rechtschaffener Deutscher, wenn man ordentlich Bier trinkt und Psychopharmaka schluckt.“
Wenngleich von ganz anderer Warte, sagt auch Heuser-Collier: „Es gibt natürlich Leute, die von Ketamin abhängig sind, aber das gibt es auch bei Alkohol, Nikotin oder Benzodiazepinen.“ Es spreche also nicht prinzipiell gegen seine Verwendung.
Ihre ehemalige Patientin Tanja Valet hatte nie Angst vor einer Sucht. Entsprechend der herrschenden Fachmeinung hält sie Ketamin im professionellen Setting und seinen Freizeitgebrauch für zwei verschiedene Welten. Ihre letzte Infusion liegt etwa anderthalb Jahre zurück, erzählt sie ebenfalls per Zoom. Sie sei nach wie vor sehr dankbar für die Behandlung, und es gehe ihr gut – obwohl ihr Vater im Dezember einer Corona-Infektion erlegen sei. Sie hatte Angst vor einem depressiven Schub, konnte diesmal aber vorbeugend agieren. Sie kontaktierte eine frühere Therapeutin, hat nun regelmäßige Onlinesitzungen und treibt viel Sport. Beruflich orientiert sie sich neu, will Illustratorin werden. Und seit fast zwei Jahren nimmt sie ein Antidepressivum, ihr sechstes. Das wirke besser: „Ich werde es auf keinen Fall absetzen!“
Der Lockdown sei für den Familienzusammenhalt und für sie persönlich ganz gut: „Das hat den ganzen Druck genommen, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten sein zu müssen.“ So konnte sie sich erholen und eine Routine entwickeln. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Bild, das sie im Internet gefunden hat: Man sieht darauf eine Frau von hinten, einen lockeren Schal um Schultern und Rücken, darauf Flügel aus bunten Federn. Ein Bild ähnlich wie das bei ihrer ersten Ketamin-Infusion. „Es erinnert mich daran, dass ich stark, widerstandsfähig und zugleich verletzlich bin“, sagt sie.
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