Karlsruher Urteil zu EU-Schulden: Klüger, als das Recht erlaubt
Es ist ein Gebot juristischer Klugheit, bei der Auslegung der EU-Verträge großzügiger zu sein als bei der Auslegung des Grundgesetzes.
D as Bundesverfassungsgericht akzeptiert, dass die EU Schulden machen darf – zwar nur für bestimmte Zwecke, befristet und in der Höhe beschränkt. Aber immerhin. Vor einigen Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass Karlsruhe so etwas durchgehen lässt. Die Zeitenwende ist offensichtlich auch am Bundesverfassungsgericht angekommen. Alle müssen alte Gewissheiten beiseitelegen.
Welchen Sprung das Verfassungsgericht hier gemacht hat, versteht man schnell, wenn man das Minderheitsvotum von Verfassungsrichter Peter Müller liest, der als Einziger an der alten strengen Karlsruher Linie festhält: Die Verträge sehen keine Kreditaufnahme durch die EU vor, also kann auch ein Mega-Ereignis wie die Coronapandemie hieran nichts ändern. Wer einmal eine Ausnahme zulässt, lädt nur dazu ein, neue Ausnahmen zu erfinden, so Müllers Argumentation.
Zwar räumen auch Kritiker des schuldenfinanzierten EU-Corona-Fonds ein, dass es hierfür gute politische Gründe gebe. Aber wenn etwas vertraglich nicht vorgesehen ist, müssten eben die EU-Verträge geändert werden. Juristisch ist das logisch.
Doch wer so argumentiert, macht die EU kaputt. Denn die Hürden für eine Vertragsänderung sind ungleich höher als innerstaatliche Hürden für eine Verfassungsänderung. Das Grundgesetz kann mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat an neue Anforderungen angepasst werden. Einer Änderung der EU-Verträge muss dagegen jeder einzelne der 27 EU-Staaten zustimmen, auch Problemstaaten wie Polen und Ungarn. Vor allem aber sind in vielen EU-Staaten Volksabstimmungen erforderlich, die oft von Populist:innen für ihre Zwecke gekapert werden.
Es ist daher ein Gebot juristischer Klugheit, bei der Auslegung der EU-Verträge großzügiger zu sein als bei der Auslegung des Grundgesetzes. Auch die EU muss sich neuen Bedürfnissen anpassen können. Sie ist zwar kein Staat, sondern „nur“ ein Staatenverbund. Aber ohne EU wären die 27 Mitgliedstaaten politisch irrelevant. Die Mehrheit des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht hat dies wohl erkannt. Sie hat den von allen EU-Staaten mitgetragenen kreditfinanzierten EU-Corona-Fonds deshalb trotz großer juristischer Bedenken nicht beanstandet.
Es ist eine Ironie dieses Urteils, dass es ausgerechnet von dem Ex-Politiker Peter Müller abgelehnt wird, obwohl er doch ins Verfassungsgericht gewählt wurde, um dort politisches Denken fruchtbar zu machen. Doch nun argumentiert Müller wie ein stockkonservativer Rechtsprofessor, während die tatsächlichen Professor:innen und ehemaligen Bundesrichter:innen zeigen, dass auch Jurist:innen politisch denken können und manchmal klüger sind, als das Recht erlaubt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!