Kanzlerkandidatur und Bundestagswahl: Mehr Utopie wagen
Bloß nicht WählerInnen überfordern, lautet die Devise im Wahlkampf. Diese Ängstlichkeit hat etwas Lähmendes.
D ieser Wahlkampf ist kurios. Armin Laschet, eigentlich Chef beim „Team Stillstand“, geht in die Offensive, weil er muss. Das führt schon nach den Gesetzen der Logik zu gewissen Widersprüchen. Auf der anderen Seite, wo eigentlich „Team Vorwärts“ Tempo machen müsste, steht Olaf Scholz bewegungslos da und schaut zu, wie Annalena Baerbock den Endspurt versucht, wenn auch mit angezogener Handbremse.
Ginge es um nichts, wäre es vielleicht das Beste, sich mit bitterem Lachen abzuwenden, den Ausgang der Bundestagswahl für irrelevant zu erklären und – grundsätzliche Sympathien für „Team Vorwärts“ vorausgesetzt – ausschließlich auf außerparlamentarischen Druck für eine politische Wende zu setzen.
Tatsächlich ist ja davon auszugehen, dass auch eine fortschrittliche Regierung allenfalls dann entschieden genug handeln würde, wenn starke gesellschaftliche Bewegungen ihr Beine machen. Aber es ist nicht egal, wer regiert. Das Ergebnis dieser Wahl wird darüber entscheiden, ob sich Spielräume öffnen für die ökologisch-ökonomisch-soziale Transformation, die wir brauchen.
Doch das Niveau der politischen Auseinandersetzung in diesem Wahlkampf ist den krisenhaften Veränderungen der Gegenwart bei Weitem nicht angemessen. In unterschiedlichen Abstufungen begehen die drei Parteien, deren Spitzenleute sich um einen Platz im Kanzleramt bewerben, denselben Fehler. Statt an den notwendigen Veränderungen orientieren sie sich an einer vermeintlichen Stimmung bei den Wählerinnen und Wählern, die sie ständig selbst reproduzieren und verstärken.
ist Journalist und Publizist und lebt in Frankfurt am Main. 2019 erschien von ihm das Buch „Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft“ im Westend Verlag.
Die Mitte, der magische Ort
Mit anderen Worten: Aus „Angst vorm Wähler“, die ihnen nach dem ersten Triell bei RTL selbst Günther Jauch bescheinigte, verzichten die Kandidatin und die Kandidaten auf den Versuch, die gesellschaftliche Hegemonie für größere Ziele zu erkämpfen. „Die Menschen“, so ist oft zu lesen, hätten Angst vor allzu radikalen Reformen. Deshalb müsse sich mit utopischem Überschuss zurückhalten, wer viele von ihnen mitnehmen wolle.
So entsteht jene Ideologie des Pragmatismus, die mit Robert Habecks Satz „Wir sind pragmatisch und spielen nicht Wünsch-dir-was“ hinreichend umschrieben ist. Darin drückt sich ein Mangel aus, den der Literaturwissenschaftler Jürgen Link „Antagonismuslosigkeit“ nennt: Die notwendige Artikulation grundsätzlichen Widerspruchs geht im Normalismus einer Politik verloren, die sich an einer imaginären Mitte orientiert.
Dass die Angst vor politisch gesteuerter Transformation in der Gesellschaft oft größer ist als die Angst vor den immer noch als abstrakt wahrgenommenen Folgen des Klimawandels, den globalen Ausbeutungsverhältnissen und internationalen Konflikten – das mag sogar stimmen. Auf den vertrauten Routinen des Alltagslebens zu beharren, ist ja verständlich.
Aber wer sagt, dass diese Stimmung eine unwandelbar feste Größe ist? Wer sagt, dass sie nicht zu wenden wäre durch eine entschlossene Kampagne des Aufbruchs? Wer will wissen, ob mit einem erkennbaren Kampf um neue Perspektiven nicht auch Stimmen zu gewinnen wären? Es hat ja lange niemand mehr probiert.
Alltag und Alternativen
Die Hegemonie im kollektiven Bewusstsein verändern zu wollen, bedeutet keineswegs, dass Politik vorschreiben soll, wie die Leute zu denken und zu leben haben. Natürlich soll sie „Menschen nicht umerziehen“, wie Habeck es einmal formulierte. Aber allzu leicht wird dabei vergessen, dass Politik auch die Aufgabe haben kann, für Ideen zu werben, die im Lebensgefühl der Mehrheit noch nicht verankert sind. Dass erst das Benennen von Alternativen den Einzelnen Denkräume eröffnen kann, in denen letztlich auch ein besseres Leben im Alltag aufscheint.
Dass gerade jetzt die Häufung unterschiedlicher Krisen von Corona über Klimafolgen bis Afghanistan für Verunsicherung sorgt, wird jede und jeder an sich selbst und in vielen Gesprächen spüren. Immer deutlicher wird vielen Menschen, dass es so wie bisher nicht weitergehen wird.
Aber das heißt: Wenn heute etwas alternativlos sein sollte, dann wäre es eigentlich der Versuch, deutlich zu machen, dass es besser ist, jenes noch unbestimmte Andere, das folgen wird, selbst in die Hand zu nehmen, als festgeklammert an Routinen auf die Katastrophe zu warten.
Mit anderen Worten: Der befreiende Gedanke, aus den Krisen der Gegenwart heraus den Weg zu einer klimaschonenden, nicht mehr „imperialen“, weniger gehetzten Lebensweise zu finden, wird immer drängender. Wenn Politik hier keine radikalen Anstöße gibt, gibt sie dem Gefühl noch Nahrung, sich ängstlich hinter den Palisaden eines noch leidlich funktionierenden Alltags verstecken zu müssen. Damit lässt sie diejenigen, die Auswege aus der Festung suchen, mit ihrem Engagement allein.
Aus Mutti sollte Onkel werden
Jürgen Link hat die Kritik an der chronischen Unterversorgung mit Utopie so zugespitzt: „Man sagt, man muss die Leute dort abholen, wo sie sind. Ich auch. Aber man soll sie nicht wieder dahin zurückbringen, wo sie waren.“
Der Vorwurf des vorauseilenden Gehorsams gegenüber vermeintlichen Stimmungen (und Koalitionsoptionen) trifft Sozialdemokraten, Union und Grüne nicht gleichermaßen. Es gibt, trotz utopischer Unterversorgung bei allen, Unterschiede.
Am einfachsten ist die Sache bei der CDU/CSU und Armin Laschet. Sie machen eigentlich einen konsistenten Wahlkampf: Der Mangel an Reformbotschaften passt zu ihrem politischen Programm. Es war deshalb folgerichtig, dass Laschet zunächst versucht hat, die bewährte Strategie Angela Merkels zu kopieren. Er versuchte, der „Antagonismuslosigkeit“ eine Stimme zu verleihen: Fürchtet euch nicht, nichts wird verboten, alles bleibt, wie es ist – nur aus „Mutti“ wird „Onkel“, das war die unausgesprochene Devise.
Sie folgte dem Handbuch der „asymmetrischen Demobilisierung“. Dessen wichtigste Regeln lauten: Leg dich nicht fest, biete keine Angriffsflächen, spiele den „Für alle da“-Politiker, narkotisiere die Öffentlichkeit – dann ist die Chance am größten, dass die potenziellen Wähler*innen der Konkurrenz zu Hause bleiben.
Es gehört zu den guten Nachrichten dieses Wahlkampfs, dass Laschet damit gescheitert ist. Für die Glaubwürdigkeit als erfahrener, leutseliger Verwalter der bestehenden Verhältnisse hat die Landesvaterrolle in Nordrhein-Westfalen nicht gereicht, schon gar nicht nach Laschets erratischer Coronapolitik. Hinzu kam Markus Söder, der die Einschläferungsstrategie von Anfang an bekämpft hat. Und angesichts der diversen Krisen dürften die einschläfernden „Weiter so“-Botschaften selbst bei manchen derjenigen lächerlich gewirkt haben, die gerne daran glauben würden.
Scholz, der Narkosespezialist
Nun hat Armin Laschet zwar vom Ton her auf Angriff geschaltet, aber an der Politik des Stillstands, für die er wirbt, ändert das nichts. Und sollten Inhalte noch irgendeine Rolle spielen – wenigstens bei Megathemen wie dem Klimaschutz –, wird ihn die neue Aggressivität auch nicht mehr retten. Es sei denn, die alte Leier von der „Linksrutsch“-Gefahr würde doch noch einmal funktionieren.
Schade nur, dass Olaf Scholz nun ziemlich erfolgreich in die Rolle des Anästhesisten geschlüpft ist. Was er als derzeitiger Führungsmann des „Teams Vorwärts“ anstellt, wäre mit kontrollierte Offensive schon beschönigend beschrieben. Klimaschutz kommt bei dem SPD-Kandidaten fast nur als industriepolitisches Projekt vor.
„Keine Verbote!“, Selbstlob für die Evakuierungen aus Kabul ohne halbwegs angemessener Demut gegenüber den schuldhaft nicht Geretteten, das fast schon eindeutige Nein zu einer Koalition mit der Linkspartei – das sind unüberhörbare Botschaften. Da ist es fast erstaunlich, dass Olaf Scholz die Forderung nach einem höheren Mindestlohn und höheren Steuern auf Spitzeneinkommen überhaupt noch erwähnt. Mit Merkelismus gegen Merkels Partei, das ist die Devise.
Auch bei der Abgrenzung von der Linkspartei spielt sich Erstaunliches ab. Fast begeistert stürzen sich Scholz wie Laschet auf die Behauptung, die Linksfraktion habe den Evakuierungseinsatz in Kabul im Bundestag „abgelehnt“ (Laschet). Das haben zum einen nur wenige ihrer Abgeordneten getan – 7 von 69. Zum anderen ist es zynisch, wenn diejenigen, die noch im Juni eine großzügige Ausreiseregelung für Ortskräfte ablehnten, jetzt einer Oppositionspartei vorwerfen, mit ihren Minderheitsvoten die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen zu haben.
Annalena Baerbock kann für sich in Anspruch nehmen, dass der Vorwurf des Zynismus sie in dieser Sache nicht trifft. Schließlich hatten die Grünen seit Langem und fast schon verzweifelt eine Lösung für die Ortskräfte gefordert. Aber auch Baerbock ließ es sich nicht nehmen, den Vorgang zu einer ziemlich rigiden Abgrenzung von der Linkspartei zu nutzen.
Wo bitte geht es hier zur Ampel?
Diese Abgrenzungsmanöver machen eine Ampelkoalition mit den knochenharten Marktliberalisten der FDP immer wahrscheinlicher. Das sind schlechte Aussichten für eine Regierung der Transformation. Warum aber die in der Tat unberechenbare Außenpolitik der Linkspartei ein zwingender Hinderungsgrund für eine Koalition sein soll, die diametral entgegengesetzten Ansichten der FDP zu staatlicher Regulierung aber nicht – das fragt indes kaum jemand.
Ansonsten stehen die Grünen mit Annalena Baerbock unter den drei favorisierten Parteien in Sachen Veränderungsbereitschaft am ehesten vorn. Die Kanzlerkandidatin redet wenigstens von Aufbruch, und der geht bei ihr in Richtung Transformation. Wahrscheinlich haben sogar die meisten Menschen längst vergessen, wie der Programmparteitag alle Wünsche nach einem schärferen Profil etwa in der CO2-Bepreisung abgebügelt hat.
Aber reicht das, um Laschet („Wir stehen im Wind der Veränderung“) eine Botschaft entgegenzusetzen, die nach Rückenwind für den Wandel klingt? Bisher eher nicht. Jene, die sich selbst zum „Team Vorwärts“ rechnen, sollten es mit einem abgewandelten Zitat von Willy Brandt versuchen: „Mehr Utopie wagen.“
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