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Justizreform in IsraelDas Land brennt

Judith Poppe
Kommentar von Judith Poppe

Netanjahu hat die Kontrolle über die Ideologen in seinem Kabinett verloren. Der Abbau der Demokratie hat begonnen, verloren ist sie aber noch nicht.

Stimmte der umstrittenen Justizreform zu: Ministerpräsidentr Benjamin Netanjahu Foto: Maya Alleruzzo/AP

W er auch immer noch daran gezweifelt hat: Seit Montag, als die israelische Regierung allen Protesten zum Trotz das erste Kernelement der Justizreform durchgepeitscht hat, dürfte allen klar sein, dass die Regierung es ernst meint mit ihrem Staatsumbau.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat einen Golem erschaffen: sein brandgefährliches Kabinett, bestehend aus bedrohlichen Ideologen und Siedlern, die wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt sind. Groß gemacht hat er diese Leute, um sich vor einer potentiellen Haftstrafe in seinem laufenden Gerichtsprozess in Sachen Korruption zu retten. Nun hat er vollends die Kontrolle über sie verloren.

Das Land brennt, die Hälfte der Israelis ist auf den Straßen, es droht eine gewaltvolle Eskalation der Lage, Un­ter­neh­me­r*in­nen ziehen ihr Geld aus Israel ab, das Verhältnis zu den USA kühlt sich immer weiter ab und mehr als Zehntausend Reservisten verweigern den Dienst – und das in Israel, dem Land, das so sehr auf die Einheit der Armee setzt.

Der einstige Taktiker und Zauberer Netanjahu, das glauben zumindest die meisten, sieht all dies – im Gegensatz zu den Ideologen in seiner Regierung, die glauben, im Auftrag Gottes zu handeln und denen weltliche Steine auf dem Weg zu ihrer Vision egal sind: Ein national-religiöses Regime und ein Groß-Israel, das auch die palästinensischen Gebiete umfasst.

Gestern hat der Abbau der Demokratie mit einem Paukenschlag begonnen. Verloren ist sie noch nicht. Noch stehen einige wichtige Säulen, auf denen sie ruht. Die beeindruckende Protestbewegung, die seit mehr als einem halben Jahr auf den Straßen ist, hat den Prozess des Staatsumbaus erheblich verlangsamt. Ob die Regierung die Zerstörung der Demokratie nach der Sommerpause der Knesset weiterführt, das hängt vor allem von Israels Zivilgesellschaft ab.

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Judith Poppe
Auslandsredakteurin
Jahrgang 1979, Auslandsredakteurin, zuvor von 2019 bis 2023 Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Gebiete.
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12 Kommentare

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  • "Das Land brennt, die Hälfte der Israelis ist auf den Straßen..."

    Die Hälfte der Israelis ist auf den Straßen? Das scheint mir doch eine absurde Übertreibung. Selbst wenn ich die im Artikel genannten Zahlen auf 300.000 Protestierende hochrunde, ist hier nicht im Ansatz "die Hälfte" auf den Straßen (Israel hat laut Wikipedia rund 9.1 Millionen Einwohner:innen).



    Heute morgen gab es ein Interview mit Moshe Zimmermann im Deutschlandradio (Kultur), der beklagte, dass es leider nur hundertausende Demonstranten - und eben nicht Millionen - seien. Er geht davon aus, dass eben auch ein wesentlicher Teil der Israelis diese Reformen mitträgt. Nicht zuletzt hat ein wesentlicher Teil der Wähler:innenschaft für Netanjahu gestimmt.

  • Die ultrarechte Siedlerbewegung, die Palästinenseren das Existenzrecht in den besetzten Gebieten abspricht, sind genau diejenigen, die jetzt auch die Axt an einen demokratischen Staat Israel legen. Wenn die israelische Demokratiebewegung diesen Zusammenhang begreift, könnte darin auch der Schlüssel zu einer friedlichen Koexistenz von Palästinensern und Juden liegen.

    • @Rinaldo:

      Die Besatzungs- und auch die Besiedlungspolitik Israels in der Westbank -- so völkerrechtswidrig sie sein mag -- ist nicht der Grund für den Konflikt, sondern ein Resultat dessen. Deswegen ist der Rückschluss, das eine Ende der Besatzung (oder Besiedlung) auch ein Ende des Konfliktes bedeuten würde, nicht nur unsinnig und politisch wie auch historisch falsch, sondern zeugt auch von einem sehr einseitigen, verengtem Blick auf diesen.

      Die offene, pluralistische, demokratische Gesellschaft in Israel (Rechtsruck hin, oder her) wird mit ihren ultra-radikalen Minderheiten fertig werden, denn die meisten Menschen dort teilen schlicht weg weder deren Ideologie noch deren Vision für das Land. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich bereits einmal gegen die Siedlerbewegung durchgesetzt -- und bewiesen das sie und das Land als solches dazu in der Lage ist -- und sie wird es auch ein weiteres mal schaffen. In der autoritären, antidemokratischen und grundsätzlich antiemanzipatorischen, palästinensischen Gesellschaft teilen die meisten Menschen allerdings leider die revisionistischen und revanchistischen Visionen und Weltbilder der Ultra-Radikalen die dort unangefochten regieren. Eine demokratische Opposition ist dort so gut wie nicht existent und wird, da wo sie auftaucht bekämpft und verfolgt.

      Der »Schlüssel für eine friedliche Koexistenz von Palästinenser*innen und Israelis« liegt nicht dadrin, dass der israelischen Demokratiebewegung irgendetwas klar wird, sondern dadrin das das die Palästinenser*innen überhaupt mal auf den Gedanken kommen sowas wie eine Demokratiebewegung zu gründen. Und dadrin das ihren friedensbewegten europäischen Unterstützer*innen genau dieser Zusammenhang mal klar wird und sie entsprechende Forderungen formulieren.

      • @Tim Klabim:

        Den Palästinensern, angesichts der extremistischen fortwährenden Siedlerbewegung, vorzuwerfen, sie seien revanchistisch, ist schon eine dreiste Geschichtsklitterung. Wer Israel kennt, weiss genau, welche Machtposition die Siedler in der israelischen Gesellschaft und nun in der Regierung haben. Nicht von ungefähr wird von faschistischen Tendenzen der Regierung gesprochen. Ich wüsste also nicht, wo oder wann die israelische Gesellschaft diese rechtsextremen Siedler in der jüngeren Geschichte kontrolliert hätten. Die rechtsextreme Regierung Israels sieht ihren Feind nicht nur in der palästinensischen Bevölkerung, sondern auch in einer liberalen israelischen Gesellschaft, die auf Gewaltenteilung und dem internationalen Völkerrecht basiert.

        • @Rinaldo:

          "ist schon eine dreiste Geschichtsklitterung"

          Den Konflikt gab es bereits vor Gründung Israels und der Besatzung. Des Weiteren sind Organisationen wie antisemitische Hamas oder PIJ an einer friedlichen Koexistenz von Palästinensern und Juden nicht interessiert.

  • Benjamin Netanjahu setzt nur um, was er im Wahlkampf seinen Wählern zugesagt hat. Also etwas was sich Kerndemokratie nennt. Das umsetzen was vor der Wahl versprochen wurde.



    Auch die Berichterstattung scheint mehr ein Armageddon sich herbei zu wünschen als es tatsächlich der Fall ist. Die USA unterstützen weiter mit Mrd. Dollars das israelische Militär. Der UN-Sicherheitsrat gibt Israel, egal welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit es begeht, volle Reckkendeckung (d.d. USA und BRD). Die Bundesregierung Scholz hat Israel den größten Rüstungsauftrag aller Zeiten erteilt. Zehntausend Reservisten die gegen Netanjahu protestieren sind im Verhältnis zur Gesamtzahl von Reservisten nur ein kleiner Bruchteil.

    Benjamin Netanjahu wird wie in Vergangenheit munter weiter machen, weil ihn die US-Europäische Wertegemeinschaft uneingeschränkt stützen wird. Joe Biden`s Sprecher hat bereits für dieses Jahr Netanjahu einen herzlichen Empfang in Washington zugesagt. Läuft doch wie geschmiert.

  • "Nun hat er vollends die Kontrolle über sie verloren."

    It's not a bug. It's a feature.

  • Die Politik und auch das Selbstverständnis Israels, insbesondere die Siedlungspolitk, ist seit Jahren bestenfalls als übergriffig zu bezeichnen. Wer das kritisierte, wurde direkt als Antesemit bezeichnet.



    Was jetzt auch der Grund ist, das kaum eine Regierung wirklich kritisiert was dort passiert. In jedem anderen Land in Europa würde sowas tagtäglich kritisiert und angeprangert werden. Für Israel wird dieser Prozess lediglich medial begleitet.

    • @F. Tee:

      Puh. Israelische Politik -- und speziell die Siedlungspolitik -- wird nun wirklich ständig und überall kritisiert. Ich würde behaupten, das kein einziger Tag vergeht an dem Entscheidungen israelischer Regierungen, oder Aussagen israelischer Politiker*innen nicht Gegenstand von sehr kritischen Berichten, Beiträgen oder Kommentaren wären. Und zwar in allen wichtigen (und weniger wichtigen) politischen Zeitungen, Sendern und Seiten in Europa. Und nicht nur Journalist*innen begleiten israelische Politik kritisch: Auch von Vertreter*innen aller Parteien im Bundestag und der Europäischen Union wird israelische Politik ständig kritisch kommentiert.

      Auch die Behauptung das mit jedem Land in Europa anders umgegangen würde, als mit Israel ist haltlos. Es gibt einige Länder in Europa, die politisch in einer ähnlichen, wenn nicht schlimmeren Situation sind wir Israel. Ungarn zum Beispiel. Oder Polen. Oder Italien. Von täglicher Kritik und Anprangerung kann da nun wirklich nicht die Rede sein -- zumindest nicht im direkten Vergleich mit der medialen Präsenz die israelische Politik in der Europäischen Öffentlichkeit hat. Und das, was Polen oder Ungarn mit ihren Rechtssystemen gemacht haben übersteigt das, was die Regierung Netanyahu vor hat bei weitem. Ohne das Kleinreden zu wollen.

      Die allermeisten Kritiker*innen kriegen es darüber hinaus hin, israelische Politik zu kommentieren, ohne sich dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, antisemitische Stereotypen zu bedienen, ein antisemitisches Weltbild zu vertreten, oder zu fördern. Im Zweifel muss man sich halt mal mit modernen Formen von Antisemitismus auseinander setzen. Wenn man da kein Bock drauf hat gibt es auch noch jede Menge andere Regierungen die sich zu kritisieren lohnen.

      Die »Man-würd-ja-wohl-noch-sagen« Empörung über das selbst erfundene Taboo Israel nicht kritisieren zu dürfen, ist genauso durchschaubar wie der Versuch sich vor berechtigter Kritik zu schützen, indem man die »Antisemitismus-Keule« an die Wand malt.

  • Muss jetzt das "Schma Jisrael,...!" umgedichtet werden?



    In "„Höre Israel! Der Ewige, unser Premier, der Ewige ist jetzt?“:-(



    Hmm, ... was geschieht in/mit einer Gesellschaft die verlernt hat, Kompromisse zu finden & sich auch intern immer mehr spaltet?



    Sehr nachdenklich Sikasuu

  • Deutschland sollte seine Beziehung zur Netanyahu-Diktatur überdenken.

    • @Kappert Joachim:

      in der tat, das sollte es.