Jugendproteste nach Unfällen: Verlorene Zukunft
Zwei junge Menschen sind in Italien bei Praktika gestorben. Schüler:innen protestieren. Das ist verständlich, die Problemlage ist allerdings komplex.
Lorenzo Parelli hatte keine Chance. Das von oben herabstürzende Doppel-T-Eisen, 150 Kilo schwer, traf ihn direkt am Kopf. Am Unfallort, in einer Metallbaufirma in der norditalienischen Provinz Udine, konnten die herbeigeeilten Sanitäter nur noch den Tod des 18-Jährigen feststellen. Jener Freitag im Januar war, so berichteten es Italiens Medien, der letzte Tag im Praktikum des jungen Mannes.
Auch Giuseppe Lenoci hatte keine Chance. Er saß auf dem Beifahrersitz des Lieferwagens einer Firma für Heiz- und Klimatechnik in Fermo, an Italiens Adriaküste. Als das Fahrzeug am letzten Montag auf der Rückfahrt von einem Kundeneinsatz von der Straße abkam und gegen einen Baum prallte, wurde es auf der Beifahrerseite völlig zerquetscht – der 16-Jährige starb noch am Unfallort.
Eines eint diese beiden tragischen Fälle: Weder Lorenzo noch Giuseppe gehörten zum regulären Personalstamm der Firmen, als sie während der Arbeitszeit den Tod fanden. Sie absolvierten Praktika, die Teil ihrer Ausbildung waren.
Ebendies löste den zornigen Protest Zehntausender italienischer Schüler*innen aus. In Mailand, in Rom, in Neapel und vielen anderen Städten gingen sie am 28. Januar auf die Straße statt zum Unterricht, um gegen die „Alternanza scuola- lavoro“ – den verpflichtenden Wechsel zwischen Schule und Arbeitspraktikum – zu demonstrieren; in Turin, in Rom, in Neapel kam es zu rabiaten Schlagstockeinsätzen der Polizei. Seit der im Jahr 2015 durchgezogenen Schulreform gibt es an allen italienischen Oberschulen (die die Jahrgangsstufen 9 bis 13 abdecken) Pflichtpraktika in der Arbeitswelt. Für Gymnasiast*innen stehen in den letzten drei Schuljahren insgesamt 90 Stunden auf dem Plan, in den berufsorientierten Oberschulen werden es 180 Stunden.
Plausibel und surreal
Auch an diesem Freitag sind wieder Proteste angesagt, befeuert durch den zweiten Todesfall binnen weniger Wochen. „Diese Praktika sind weder Schule noch Arbeit, sondern Ausbeutung zum Nulltarif“, brachte eine Vertreterin des überregionalen „Schülernetzwerks“ ihre Sicht der Dinge auf den Punkt, sie gehörten deshalb abgeschafft. Sie trifft damit den vorherrschenden Ton: Auch auf den Demos dieses Freitags wird mit Plakaten wie „Blut klebt an euren Händen“ wieder die Streichung der Praktika für Oberschüler*innen gefordert werden.
So plausibel dieser Protest erscheint, so surreal ist er auch. Denn weder Lorenzo noch Giuseppe besuchten eine Oberschule, weder der eine noch der andere leistete deshalb eines der sogenannten „Alternanz“-Kurzpraktika ab. Beide absolvierten mehrjährige berufsvorbereitende Kurse, in denen – ähnlich wie in der dualen Berufsausbildung in Deutschland – Phasen des Schulunterrichts und Phasen praktischer Ausbildung im Betrieb einander ablösen.
Doch in der öffentlichen Auseinandersetzung, geführt von den Organisationen der Schüler*innen, von den Medien, auch von den Gewerkschaften der Lehrer*innen, wurden nicht etwa diese berufsvorbereitenden Kurse zum Thema, sondern die „Alternanz“ an den Oberschulen. Wer möchte, kann die Debatte deshalb einfach unter dem Titel „groteskes Missverständnis“ abtun und beiseitelegen.
Das aber wäre zu kurz gesprungen. Ernst nehmen sollte man die Welle des Protestes durchaus: als Ausdruck des tiefen Unbehagens, der Ängste auch, die Italiens Schüler*innen umtreiben, wenn sie an ihre Zukunft denken, vorneweg an ihre berufliche Zukunft.
Glücklich mit 5 Euro pro Stunde?
Die Aussichten für heute 18-Jährige sind in der Tat alles andere als rosig. Bei den sogenannten NEETS („Neither in Employment, Education or Training“ – „weder in Beschäftigung, noch schulischer oder beruflicher Ausbildung“) schlägt Italien mit über 2 Millionen jungen Menschen alle europäischen Rekorde. Glücklich dürfen sich diejenigen fühlen, die überhaupt einen Job finden, und sei der Vertrag noch so prekär, die Entlohnung – irgendwo bei 5 Euro pro Stunde – noch so miserabel.
Das hat viel zu tun mit einem Land, dessen Ökonomie seit Jahrzehnten stagniert, viel mit einem durchflexibilisierten Arbeitsmarkt (ganz ohne Mindestlohn), der es Unternehmen erlaubt, junge Menschen zu noch so miesen Konditionen anzuheuern – viel aber auch mit einer Schule, die ihren Bildungsauftrag völlig abgekoppelt von der Arbeitswelt wahrnimmt.
Einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten: dies wollte die Schulreform von 2015 mit der Einführung der Praktika in der Arbeitswelt. Die Schüler*innenorganisationen geißeln jetzt eben diesen Beitrag als „Vorbereitung auf die Ausbeutung“ – und wer wollte es ihnen verdenken angesichts der realen Perspektiven, die junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt haben?
Das Ihre tat die Regierung seinerzeit bei der Einführung der „Alternanza“, als sie stolz verkündete, die McDonald’s-Filialen im ganzen Land seien bereit, Praktikant*innen aus den Schulen aufzunehmen, ganz so, als öffne das einwöchige Grillen von Burgern ganz neue Blicke auf einen vielversprechenden Berufsstart.
Ob Lorenzo Parelli und Giuseppe Lenoci Opfer der Profitgier wurden, wie es auf den Demonstrationen heißt, steht vorerst dahin; die Ermittlungen laufen noch. Dass sie zum Symbol landesweiten Protestes werden konnten, hat dennoch seinen guten Grund: Eine ganze Generation fürchtet, auf dem Altar des Profits geopfert zu werden.
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