Judentum in Hamburg: Liberale wollen gleiche Rechte
Hamburgs liberales Judentum fühlt sich benachteiligt. Die Gemeinde fordert mehr Respekt, die Rückgabe eines Grundstücks und eine eigene Synagoge.
Einen konkreten Vorschlag für die Zukunft der geschichtsträchtigen Immobilie hat Hamburgs liberale jüdische Gemeinde gemacht: einen Wiederaufbau. Und stellte am gestrigen Montag gleich eine Machbarkeitsstudie vor.
Dass es schlecht stehe um ihre Gemeinde, das wollten Galina Jarkova und Eike Steinig gar nicht behaupten, als sie per Videokonferenz vor die Presse traten: Nein, die Gemeinde wächst, davon erzählten die beiden Vorstandsvorsitzenden: 342 Mitglieder hat der „Israelitische Tempelverband“ derzeit.
Auf 2.300 beziffert die größere jüdische Einheitsgemeinde die Zahl ihrer Gläubigen. Jüdische Menschen indes gibt es in Hamburg bis zu 10.000, da bilden also nicht mal beide Gemeinden zusammen auch nur annähernd das Ganze ab.
Grundstück ist nicht gleich Grundstück
„Beide jüdische Gemeinden müssen gleichberechtigt und gleichwertig behandelt und gefördert werden“, unterstrichen Jarkova und Steinig nun. Das betrifft auch die Ruine in der Hamburger Neustadt: Seit 2020 gehört das Areal in der Poolstraße der Stadt, die es aber „entwickelt“ sehen möchte; der Tempelverein verweist auf Aussagen des Hamburger Finanzsenators Andreas Dressel (SPD), wonach sich das ganze „wirtschaftlich selbst tragen müsse“.
1817 Aus der Reformbewegung heraus gründen 65 jüdische Hausväter den „Neuen Israelitischen Tempelverein“. Erste Gottesdienste reformierten Typs dann 1818, noch in der Ersten Brunnenstraße, Hamburg-Neustadt.
1819 Den Streit mit den Orthodoxen darüber, wer berechtigt ist Hamburgs Jüdinnen und Juden zu vertreten, schlichtet der Senat, indem er eine Trennung der jüdischen Gemeinde verbietet. Es gibt nun eine Deutsch-Israelitische Gemeinde mit mehreren Kultusverbänden – das „Hamburger Modell“.
1844 Der Tempel in der Poolstraße wird fertiggestellt. Eigentümer ist der liberale Tempelverein, was erst seit kurzem möglich ist. Zuvor mussten das Privatpersonen sein.
1931 Einweihung der liberalen Synagoge in der Oberstraße im Stadtteil Harvestehude: Hier finden 1.200 Gläubige Platz, das ist vergleichbar mit der orthodoxen Synagoge auf dem Bornplatz.
1937 Zwangsverkauf der Synagoge in der Poolstraße.
1938 Verwüstung und Schließung der Synagoge Oberstraße, die nach 1942 zwangsweise verkauft wird, 1953 erwirbt sie der NDR.
Jarkova und Steinig beklagten am Montag, dass der Senat den liberalen Jüdinnen und Juden nach wie vor echte Anerkennung vorenthalte. Das meint etwa die Einstufung der Gemeinde als Körperschaft öffentlichen Rechts, was allerlei Vorteile hätte. Derzeit als Verein, also privatrechtlich organisiert, hat die Gemeinde Mitte 2021 einen Antrag auf „Statusfeststellung“ gestellt. Der liegt seither beim Senat.
Gut möglich, dass mit einer öffentlich-rechtlich verfassten liberalen jüdischen Gemeinde anders umgegangen worden wäre, seit der rot-grüne Senat im Herbst 2019 sein Herz für die Vielfalt jüdischen Lebens entdeckte: Sichtlich unter dem Eindruck des antisemitischen Attentats in Halle kam damals ein Synagogenbau gleich neben dem Universitätscampus auf die Agenda, da, wo bis 1939 Norddeutschlands größte – orthodoxe – Synagoge stand. Inzwischen haben Stadt und Bund rund 130 Millionen Euro für einen Neubau bewilligt.
Freude darüber haben die liberalen Gemeindevertreter:innen immer wieder bekundet. Aber auch darauf hingewiesen, dass sie nie mit an den Tisch gebeten werden. In Sachen Bornplatz spricht die Stadt vielmehr exklusiv mit der größeren Einheitsgemeinde. Die wiederum nimmt gern für sich in Anspruch, das Hamburger Judentum in seiner ganzen Breite zu repräsentieren: Immerhin hat sie ja auch einen reformierten Flügel.
Ruf nach Rückgabe
Echte Gleichbehandlung, das hieße aus Sicht der liberalen Jüdinnen und Juden aber die Restitution des 1937 unter Zwang verkauften Grundstücks – so wie die Stadt auch am Bornplatz Grund zurückgegeben hat an die Einheitsgemeinde. In der Poolstraße könnte für vergleichsweise wenig Geld ein neuer Tempel entstehen, respektive der einst dort bestehende rekonstruiert werden.
Konkrete Entwürfe, wie das aussehen könnte, präsentierte nun der Berliner Architekt Jost Haberland, der gerade ein vergleichbares Synagogenprojekt in Potsdam zu Ende gebracht hat. Neben der religiösen Nutzung erwähnt das Konzept unter anderem einen liberalen Kindergarten, einen jüdischen Buch-, Souvenir- und Lebensmittelladen sowie ein koscheres Besucher:innencafé. „Die kalkulierten Gesamtkosten“ heißt es da, beliefen sich auf knapp unter 20 Millionen Euro.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja