Die Legende von der Wiedergutmachung

■ Christian Pross räumt in seiner Veröffentlichung über den „Kleinkrieg gegen die Opfer“ gründlich mit der Vorstellung auf, mit den gewährten Wiedergutmachungen seien von der Bundesregierung beispiellose Leistungen erbracht worden

Im Jahre 1953 meinte ein Mitglied des Bundesratsausschusses für Wiedergutmachung, der Bundesfinanzminister sei offenbar bestrebt, die Wiedergutmachung so lange zu verschleppen, bis der letzte Verfolgte verstorben sei.

Noch immer sind nicht alles NS-Verfolgten gestorben - und noch immer sind viele von ihnen nicht entschädigt worden. Und noch immer wird angehört, an die Ausschüsse verwiesen, die Bundesregierung unterrichtet, im Bundestag diskutiert ergebnislos.

Inzwischen ist einigen Mitgliedern des Unterausschusses des Bundestages zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht der Kragen geplatzt, und sie haben die Auflösung beantragt, falls seine Beschlüsse weiterhin von der Regierung torpediert würden.

Es ging und geht bei diesen Entschädigungsdiskussionen um die vergessenen NS-Opfer, um die, die keine Lobby haben, um Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle, Zwangssterilisierte und Zwangsarbeiter, deren individuelle Bemühungen um Entschädigung bisher meist erfolglos waren. Um von diesem Skandal abzulenken, wird gern auf die generöse Entschädigung für die größte Opfergruppe, für die Juden, verwiesen - „eine in der Geschichte beispiellose Leistung, auf die das deutsche Volk stolz sein dürfe“, so ein Mitherausgeber des Sammelwerkes des Bundesfinanzministeriums über die Wiedergutmachung 1986 vor dem Berliner Abgeordnetenhaus, eine Äußerung, auch dazu angetan, vergessen zu machen, daß der beispiellosen Leistung eine beispiellose Ausplünderung vorausging.

Alibi für die Schädiger

statt Trost für die

Geschädigten

Mit der Vorstellung von der „beispiellosen Leistung“ räumt Christian Pross, Arzt und Medizinhistoriker, in seinem Buch Wiedergutmachung mit dem Untertitel „Der Kleinkrieg gegen die Opfer“ gründlich auf. Die Kernsätze seiner Entstehungsgeschichte der verschiedenen Wiedergutmachungsabkommen lauten: „Die Bundesrepublik zahlte nicht aus moralischer Verantwortung, sondern vor allem aus politischem Kalkül... Das Gegenstück zur Reinstallation der NS-Elite durch die Adenauer-Regierung, mit Billigung der USA, war die Wiedergutmachung: Die Bundesregierung erkaufte sich die Marshall-Plan-Hilfe und die Integration in das westliche Bündnis mit der Wiedergutmachung.“

Pross‘ Buch macht auch deutlich, daß „Wiedergutmachung“ ein trügerisches, wenn nicht betrügerisches Wort ist, mehr Alibi für die Schädiger als Trost für die Geschädigten.

Wie auch immer - es waren die Alliierten, die auf einer bundeseinheitlichen Regelung der Entschädigung für die Verfolgten des NS-Regimes bestanden, als eine der Bedingungen für die Wiedererlangung der Souveränität. Denn außer einer feierlichen Erklärung Adenauers vor dem Bundestag über die Schuld an der Verfolgung und die Pflicht zur Entschädigung war bis Anfang der fünfziger Jahre fast nichts geschehen. Die alliierte Forderung wurde im Überleitungsvertrag von 1952, der das Besatzungsstatut ablöste, festgeschrieben.

Gleichwohl erfolgte die Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) erst 1956.

Die Verhandlungen über die Wiedergutmachung mit Israel und der Jewish Claims Conference führten Franz Böhm und Otto Küsters. Beide waren Befürworter einer „wiederaufrichtenden Gerechtigkeit“ für die Verfolgten. Pross ist nicht nur die Erinnerung an die beiden Verfechter einer die Interessen der Verfolgten wahrnehmenden Wiedergutmachung zu danken, sondern auch der Hinweis, daß beide kaltgestellt wurden zugunsten eines ehemaligen hohen Beamten des Reichsjustizministeriums: Feaux de la Croix, dessen Vorgeschichte ihn besonders für das Amt des höchsten Wiedergutmachungsbeamten qualifizierte: Er war einst in Hans Franks, des NS-Juristen „Akademie für Deutsches Recht“ in einem Unterausschuß für terminologische Angelegenheiten zuständig. Eben dieser in Terminologie Geübte ist auch Autor des dritten Bandes des regierungsamtlichen Sammelwerkes über die Wiedergutmachung, veröffentlicht 1985.

Und man merkt die langjährige Übung, wenn Feaux de la Croix darin vom „Weltjudentum“ schreibt und von den Juden, die die „Weltmeinung lenken“ und nicht locker lassen, wenn's um Geld geht, und auch das Gerücht, daß die „amerikanische Judenschaft“ ihrem Präsidenten gestattet habe, die Bundesrepublik als Partner in die westliche Gemeinschaft aufzunehmen, wird erst liebevoll breitgetreten, um dann als übertrieben gekennzeichnet zu werden, wenn auch ein „wahrer Kern“ darin enthalten sei. Das Buch ist öffentlich zugänglich.

Küster hat in Briefen und Tagebuchnotizen die Stimmung festgehalten, in der die Diskussion über die Wiedergutmachung in den fünfziger Jahren stattfand, und Pross zitiert daran Erinnerungen an den „Geist von Bonn“, der eine Verlängerung desjenigen Geistes sei, „der die Untaten des nationalsozialistischen Regimes ermöglicht habe“. Und ein weiteres Zitat einer Tagebuchnotiz über eine Kabinettssitzung - es ging um Eingliderungskosten von Flüchtlingen in Israel, berechnet nach denen in der Bundesrepublik: „Es beginnt flau und böse; Adenauer fällt Böhm ins Wort, die Zahlen könnten wir uns sparen, die Juden betrögen uns ja doch...“

Vier Jahre vor dem BEG war das 131er Gesetz verabschiedet worden, das die Wiedereinstellung ehemaliger NSDAP -Mitglieder in den öffentlichen Dienst regelte. Eine der Folgen dieses Gesetzes: Vor Gerichten und Gutachterausschüssen, die über Wiedergutmachung zu entscheiden hatten, begegneten sich Opfer und Täter noch einmal und die Rollen waren nicht vertauscht. Pross verweist darauf, wie deutsche Beamte Wiedergutmachungsanträge „mit kriminalistischer Akribie überprüften... und der Antragsteller sah sich in die Lage versetzt, seine Unschuld beweisen zu müssen.“ Das gab den ehemaligen Parteigenossen in Justiz und Verwaltung die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß die Wiedergutmachung nicht zur Anklage gegen sie selber wurde.

Angeblich alters- und anlagebedingtes Leiden

Eine besondere Rolle spielte das bei der Beurteilung von Gesundheitsschäden. Gutachten über Spätschäden aufgrund von KZ-Erlebnissen und Zwangsarbeit waren (und sind) vor allem eine Angelegenheit der „kleinen Leute“, nachdem ehemalige Kapitalbesitzer und Beamte relativ schnell und großzügig entschädigt worden waren. Die ehemals und immer noch weniger Bemittelten brauchten, als sie in die Jahre kamen, Renten, Therapien, Versorgung. Sie mußten sich auf dem langen Weg zu ihrem guten Recht häufig Prozeduren unterziehen, die sie als „zweite Verfolgung“ erlebten. Allzuoft auch lautete der Bescheid, den sie erhielten, ihr Leiden sei anlage- oder altersbedingt, wobei die Vorstellungen ehemaliger Rassehygieniker und die Traditionen deutscher Psychiatrie eine Rolle spielten.

Die hatte schon die seelisch Geschädigten des Ersten Weltkrieges als „Rentenneurotiker“ mit „Begehrensvorstellungen“ abgetan und behaupteten unverdrossen, daß psychisch Geschädigte gesund würden, wenn man ihnen die Rente entzöge.

Als aufgrund ausländischer Studien diese Sicht nicht länger aufrecht erhalten werden konnte und auch eine vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene Studie dies bestätigte, zog man daraus schnell eine geradezu pervers anmutende Schlußfolgerung.

Pross faßt sie so zusammen: „In wissenschaftlich verklausulierter Form erläutert von Baeyer (Autor der Studie) seinen Auftraggebern, daß auch bei zukünftigen 'Extrembelastungen‘ mit dem Auftreten von Psychosen zu rechnen sei. Kurz nach Fertigstellung der Baeyerschen Studie begann das Bundesinnenministerium mit der Einlagerung großer Mengen von Psychopharmaka... zur Ruhigstellung derjenigen, die im Katastrophenfall (sprich Kriegsfall) die Nerven verlieren... Das Überleben der Verfolgten gewinnt hier im Nachhinein den Charakter eines wissenschaftlichen Massenexperiments.“ Jeder Kommentar erübrigt sich.

Marianne Regensburger

Christian Pross: Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer. Athenäum, Frankfurt am Main, 384 Seiten, 39,80 DM