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„Judensau“-Relief in WittenbergWeltkulturerbe für Antisemitismus

Ulrich Hentschel
Gastkommentar von Ulrich Hentschel

Die Stadtkirche Wittenberg hält an dem obszönen Relief einer Sau, an deren Zitzen jüdische Kinder saugen, fest. Das ist Antisemitismus in Reinkultur.

Das antisemitische Relief an der „Mutterkirche der Reformation“ in Wittenberg Foto: Klaus-Dietmar Gabber/dpa

D ie Lutherstadt Wittenberg ist einerseits trotz ihres eigenen ICE-Halts eine kleine Provinzstadt, baulich und mental. Sie ist aber andererseits das „Rom“, das religiöse Zentrum der lutherischen Kirchen in Deutschland und weltweit. Denn die Stadtkirche in Wittenberg war die Predigtkirche von Martin Luther, und wurde dadurch zum evangelischen „Petersdom“, Pilgerziel, Kundgebungsort, Devotionalien-Handel rundherum, bis heute als „Mutterkirche der Reformation“.

Doch die Stadtkirche hat einen aufschlussreichen Makel: An ihrer Außenwand propagiert ein Relief mit einer Sau, an der sich jüdische Kinder nähren und ein Rabbiner obszön betätigt, einen abgrundtiefen Hass gegen jüdische Menschen und ihren Gott. Theologisch geadelt wurde diese „Judensau“ durch Martin Luther selbst. Rechtzeitig zum großen Reformationsjubiläum 2017 wurde dieses Relief saniert und das darüber eingefügte Luther-Zitat vergoldet.

Doch seit 2017 gab es auch zunehmend Protest gegen diese Schmähplastik, was immerhin zur Folge hatte, dass sich der verantwortliche Gemeindekirchenrat mit dem Thema beschäftigen musste. Hinzu kam der kircheninterne Druck auch aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Ein vom Gemeindekirchenrat selbst eingesetztes Expertengremium kam zu der Empfehlung, die Sau abzunehmen und an einem anderen Ort und kritisch kontextualisiert zugänglich zu machen.

Trotz allem beschloss der Gemeindekirchenrat einhellig: „Die als „Judensau“ bekannte mittelalterliche Schmähplastik an der Fassade der evangelischen Stadtkirche Wittenberg wird nicht entfernt.“ Ebenso standhaft wie blind folgen die Wittenberger LutheranerInnen ihrem populären Ortsheiligen: Hier stehen wir, wir können nicht anders. Sollte mensch diese Sturheit nur noch als Provinzposse abtun? Das wäre nicht ratsam.

Zynisches Mahnmal

Die Gemeinde verweist als Rechtfertigung für das Festhalten am Schmährelief auf ein „Mahnmal“, das in der Größe eines Gullydeckels unterhalb der „Judensau“ eingelassen ist. Damit war sie bei drei deutschen Gerichten erfolgreich. Das ist fahrlässig und zynisch, denn auf dieser Bodenplatte befindet sich neben einem vieldeutigen Kreuzes-Symbol ein auf hebräisch formuliertes, also direkt an jüdische Menschen gerichtetes Zitat aus dem Psalm 130, der in seiner Anrufung Gottes die Sünden des Beters bekennt.

Auschwitz kann so nur verstanden werden als Folge der Sünden des jüdischen Volkes. Dass die Juden selbst schuld sind an allem, was ihnen an Bösartigkeit und Verfolgung widerfährt, gehört zu den Standards antisemitischer Einstellungen. Was also nun? In der evangelischen Kirche gebe es keinen Platz für Antisemitismus, heißt es gern und oft.

Das ist Schönrednerei, denn einen prominenteren Platz für hasserfüllte Judenfeindschaft als an der Geburtskirche des Luthertums kann es gar nicht geben. Die lutherische Bischöfinnen und Bischöfe sowie der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland sollten sich an die Stadtkirche wenden und dort handfest ihren Worten Glaubwürdigkeit verleihen.

Nicht mehr nur die Schmähplastik an der Außenwand der Kirche, sondern die ganze Stadtkirche mit ihrem Vorstand und ihren Pastoren legen stand- und dauerhaft ein lebendiges Zeugnis dafür ab, dass Judenfeindschaft und Antisemitismus trotz aller gegenteiligen Bekundungen fortwirken. Das Weltkulturerbe Stadtkirche St.Marien Wittenberg wird jetzt weltweit berühmt als Weltkulturerbe für deutsch-kirchlichen Antisemitismus vom Mittelalter über Martin Luther bis heute.

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12 Kommentare

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  • Vergoldeter Antisemitismus

    Zitat: „Theologisch geadelt wurde diese „Judensau“ durch Martin Luther selbst. Rechtzeitig zum großen Reformationsjubiläum 2017 wurde dieses Relief saniert und das darüber eingefügte LutherZitat vergoldet.“

    Danke für die Erinnerung an Luther als Spiritus rector des modernen Antisemitismus‘: „Was wollen wir Christen nun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden tun? Zu ertragen ist es uns nicht, seitdem sie bei uns sind und wir solch Lügen, Lästern und Fluchen von ihnen wissen. So können wir das unlöschbare Feuer des göttlichen Zorn nicht löschen noch die Juden bekehren. Erstlich, daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und solch öffentlich Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilligt haben.“ (Martin Luther, „Von den Juden und ihren Lügen“)

    Mit Fug und Recht konnte also der ev.-luth. Landesbischof M. Sasse ausgerechnet im Widerschein der brennenden Synagogen 1938 auf Luther als geistigen Brandstifter verweisen: "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jh einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden." (Martin Sasse, "Martin Luther und die Juden - Weg mit ihnen!", Freiburg 1938)

    Fürwahr: Die „Judensau“ ist die reinste Luthersau. Weg damit!

  • Vorschlag zur Güte: Wenn die evangelische Kirche im Gegenzug aufhört, mit der Hamas zu kuscheln (zB hier: www.deutscher-koor...emie-und-die-hamas ), darf sie Sau stehen bleiben. Deal?

  • Das Bodenrelief unter der "Judensau" will mit einem antisemitischen Psalm an die Vernichtung der Juden im Holocaust erinnern.



    Ein Gedenken, bei dem die in Thüringen lebenden Juden in der DDR nicht um ihre Zustimmung gefragt werden mussten, weil kaum einer von ihnen den Holocaust überlebt hatte.

    Im vereinten Deutschland klagte ein deutscher Jude gegen die Juden-Schmähung und verlor den Prozess, obwohl der Vorsitzende Richter das Relief als in Stein "gemeißelten Antisemitismus" bezeichnet hatte.

    Die Wittenberger Kirchengemeinde will den vermeintlichen Gedenkort jetzt zu einem „attraktiven Lernort mit einem pädagogischen Konzept" umgestalten, ein "Gedenk-Ensemble", an dem man "schlecht vorbeigehen kann".



    Es scheint für die Wittenberger Kirchgemeinde unvorstellbar zu sein, dass eine jüdische Schulkasse, die Wittenberg besucht, um mehr über den Reformator Luther und jüdisches Lebens in Wittenberg zu erfahren, nicht zuerst in aller Öffentlichkeit mit einer jahrhundertealten antisemitischen Schmähfigur an der Wittenberger Kirche konfrontiert werden möchte. Das gilt im Übrigen für alle Kirchen.







    Theologin Iris Sipos beschreibt das Verquere an der christlichen Erinnerungskultur so:

    "Während wir als Nachfahren der Täter das erprobte Arsenal historisch-künstlerisch-intellektueller Distanzierungen auffahren können, bleibt den Juden, die sich durch die Skulptur verhöhnt sehen, der fragwürdige Trost, dass es uns leidtut, wir ihnen die Sauerei aber um unserer Seelenhygiene willen weiterhin zumuten".

    Der Theologe, Leipnitz-Preisträger und Kirchenhistoriker Prof. Thomas Kaufmann versteigt sich im Deutschlandfunk allen Ernstes zu dem Hinweis, dass die Schmähfigur ein paradoxes Indiz für die Präsenz der Juden im ehemaligen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sei und jetzt in der Öffentlichkeit die aktuelle kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus fördere, weil die Figur „Anklage an uns und ein Stolperstein“ sei.

  • Die Juden in Deutschland haben wirklich andere Probleme als ein kleines altes Relief an einer Kirche, dass sich niemand anschaut.

    Dem so eine Bedeutung beizumessen ist übertrieben. Die Energie und den Platz in Kolumnen und Kommentaren sollte man eher nutzen, um den Antisemitismus im Alltag zu bekämpfen - in der heutigen Kunst/Kultur-Szene, in politischen Parteien, bei Israel-"Kritik", den Angriffen auf Juden.

  • Luther selbst war ein glühender Antisemit und auch die nachfolgende Kirchengeschichte voll von Hass gegen die Juden. Nur gut, dass das Schandmal bleibt, wo es ist, dann kann sich ein jeder immer wieder klar machen, worauf er oder sie sich einlässt, oder besser auch nicht.

  • Über die offensichtliche Diffamierung in dem Artikel mögen sich andere auslassen; mich stört der Kulturbegriff, der dieser Kritik zugrundeliegt: der ist nämlich - welch Ironie - äußert konservativ; natürlich: wenn man Kultur als Manifestation des Guten, Wahren und Schönen sieht, dann ist es unverständlich, warum eine Kirche mit einem mittelalterlichen judenfeindlichen Relief als Weltkulturerbe versteht. Nur ist das ein Kulturbegriff, der aus guten Gründen weitgehend ad acta gelegt wurde. Kulturelles Erbe dokumentiert die Auseinandersetzung des Menschen mit sich und seiner Welt - und dazu gehören auch Laster und Irrwege. Die Forderungen, solche Reliefs zu entfernen (und alle andere gegenwärtigen Reinigungsversuche) sind gerade kein kritischer Umgang mit diesem Erbe, sondern ein Unwillen, sich mit ihm auseinander zu setzen - eine Flucht in die von allem Anstößigen befreite Unschuld. Im Falle mittelalterlicher Kunst ist das besonders absurd, weil der zeitliche Abstand so groß ist. Dass das, was Menschen vor 1000 Jahren gedacht und getan haben, für uns heute unverständlich oder sogar abstoßend ist, versteht sich von selbst - aber der Sinn und Zweck historischer Bildung ist es ja, solche Differenzen zu verstehen und aus ihnen zu lernen, nicht sie unter den Teppich zu kehren.

    • @O.F.:

      Das ist ja schon eine ziemliche Verdrehung dessen was da passiert bzw. nicht passiert. "eine Flucht in die von allem Anstößigen befreite Unschuld" wie von ihnen unterstellt hat niemand gefordert. Die Untätigkeit in der Sache, die allenfalls ein verschwurbel-everschämtes Infotäfelchen platziert ist eben gerade kein kritischer Umgang mit dem kulturellen Erbe, keine Aufarbeitung und kein adäquater Weg der aus historischer Schuld erwachsenen Verwantwortung nachzukommen, stattdessen gesteht man einer antisemitischen Darstellung weiterhin einen prominenten Ehrenplatz in der Öffentlichkeit zu und an diesem Punkt geht es beim Antisemitismus eben nicht mehr um das " was Menschen vor 1000 Jahren gedacht und getan haben" sondern ganz konkret darum was Menschen im Hier und Heute denken und tun bzw. nicht tun.

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    Die Kaltherzigkeit des Protestantismus lässt sich kaum besser illustrieren.



    Welche Spuren davon in Ethik und Denken einer Gesellschaft weiterleben wird wohl unterschätzt.



    Selbst jetzt ist es nicht möglich, sich zur Liebe zu bekennen und anderen nicht willentlich Schmerz zu bereiten.

  • Mein Ansatz von Denkmalschutz und Erinnerungskultur wäre einfach alles zu erhalten: Die Monumentalstatuen ML- kommunistischer Ikonen, NS-Symbole und Inschriften auf Kirchenglocken(Die sowieso kaum der Öffentlichkeit zugänglich sind) ,sowjetische Ehren -und Siegesdenkmäler in Deutschland, Schmähskulpturen des Mittelalters,... Das gehört alles zur Geschichte, die längst nicht immer so abgelaufen ist ,wie man es gerne hätte. Zumal sich auch die Ansicht wie des denn besser gewesen wäre, auch immer wieder mit dem Zeitgeist ändert.Wichtig ist dabei natürlich,das entsprechend aufzuarbeiten.



    Oder man wählt den anderen konsequenten Weg: Alles weg was irgendwie von irgendjemanden irgendwann als beleidigend, diskriminierend, "falsche Ansichten " glorifizierend,usw. verstanden werden könnte. Das würde für längere Zeit Arbeitsplätze bei den Abbruchunternehmen sichern.Alleine der Abriß der Siegessäule und der den Großen Stern schmückenden Skulpturen, die Symbole des nationalchauvinistischen Kaiserreiches und preußischen Militarismus sind, würde Jahre in Anspruch nehmen.



    Da müßte auch noch die eine oder andre Denkmalschutzikone fallen. Der Kölner Dom bspw. steht ja auch in der Tradition des Zweiten Reiches. Doch diese ganzen Anstrengungen und Opfer würden sich am Ende auszahlen: Mit der Erreichung einer geschichtsneutralen öffentlichen Kulturlandschaft,ein Safe-Space für die ganze aufgeweckte Bevölkerung, der von keinen irritierenden Überbleibsel der Vergangenheit beeinträchtigt wird. Schöne neue Welt!

  • Man kann dazu unterschiedlich stehen, ob das Relief dranbleiben soll oder nicht.

    Ein Diskurs dazu ist sinnvoll und nötig.

    Dass dieses mehrere Jahrhunderte alte Relief eine Anleitung gibt, wie Ausschwitz zu verstehen sei, ist dann doch etwas bedeutungsüberladen.

    Doch, es kann einen prominenteren Platz für dieses Relief geben. Nämlich einen in geringerer Höhe, so dass Passanten es auch lesen können. Aber das ist ein Nebenpunkt.

    Ja, dieses Relief wird jetzt weltweit berühmt als Weltkulturerbe für deutsch-kirchlichen Antisemitismus vom Mittelalter über Martin Luther und wird heute Diskussionspunkt bleiben.

    Und das ist gut so.

    Man kann es auch begrüßen, wenn eine Institution zu ihrer antisemitischen Vergangenheit steht und glaubwürdig herausstellen kann, dass es heutzutage anders ist.

    Vielleicht sollte das Relief aus genau diesem Grund erhalten bleiben.