Italien vor der Wahl: Der Rechtsruck ist längst da
Der Mitte-links-Block in Italien ist gespalten. Dem gemeinsamen Sieg der Rechtspopulisten, angeführt von Fratelli d’Italia, steht nichts mehr im Weg.
Wahlkampf? Wer immer in diesen Tagen in Mailand oder Palermo, in Rom oder Bari, in Turin oder Neapel unterwegs ist, bemerkt schlicht nicht, dass am Sonntag die Italiener*innen aufgerufen sind, ihr neues Parlament, ihre 400 Abgeordneten und 200 Senator*innen zu wählen. Nirgendwo hängen Wahlplakate in den Städten, in denen früher die Hausfassaden mit der Werbung der Parteien zugekleistert waren. Selbst am Wochenende bleiben Wahlkampfstände auf der Piazza eine Rarität.
So politikfrei war in den vergangenen Wochen der öffentliche Raum, dass man zu glauben versucht ist, bei der anstehenden Wahl gehe es nicht um besonders viel. Demokratische Routine eben, bei der am Ende ein paar Pluspunkte hier, ein paar Minuspunkte dort stehen.
Das Gegenteil ist der Fall. Italien läuft Gefahr, zum ersten westeuropäischen Land mit einer von harten Rechtspopulist*innen dominierten Regierung zu werden. Den letzten Prognosen vom 9. September zufolge – seither dürfen keine Umfragen mehr veröffentlicht werden – liegt die Rechtsallianz klar vorn. Die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) unter Giorgia Meloni darf mit 25 Prozent der Stimmen rechnen, der fremdenfeindlichen und europaskeptischen Lega unter Matteo Salvini werden 12 Prozent und Silvio Berlusconis Forza Italia 7 bis 8 Prozent vorhergesagt. Da die Rechte als geeinter Block antritt und deshalb die Chance hat, das Gros der Direktmandate (sie machen gut ein Drittel der Sitze aus) zu erobern, ist im Parlament eine Mehrheit von 60 Prozent der Sitze drin.
Der Rechtsruck kommt nicht plötzlich
Und wieder einmal reibt Europa sich die Augen. Wieder einmal fragt es sich, wie zuletzt nach der Wahl in Schweden, wie zuvor im April bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich mit dem Vormarsch Marine Le Pens und Éric Zemmours: Wie konnte es so weit kommen? Wie ist dieser plötzliche Rechtsruck auch in Italien zu erklären, in dem Land, in dem doch eben noch der bei den Bürger*innen hoch beliebte Stabilitätsgarant Mario Draghi regierte?
Der Rechtsruck in Italien kommt alles andere als plötzlich – er ist schon vor drei Jahren erfolgt, bei der Europawahl im Mai 2019, als die Lega und Melonis FdI in der Summe etwa 40 Prozent der Stimmen holten. Schon bei den Parlamentswahlen 2018 hatten die Italiener*innen in der Mehrheit für Antiestablishmentkräfte gestimmt, vorneweg für das Movimento 5 Stelle (M5S – 5-Sterne-Bewegung), das damals sagenhafte 33 Prozent holte, während die Lega 17 Prozent, FdI 4 Prozent gewannen.
Der Damm gegen die Rechte eingerissen
Nicht umsonst hatte der Fünf-Sterne-Gründer Beppe Grillo als Vorzug seiner Bewegung gelobt, mit ihrer Marschroute „weder rechts noch links“ sei sie in erster Linie ein Damm gegen das Vordringen der harten populistischen Rechten – mit der die Fünf Sterne allerdings den verächtlichen Ton gegen die „Altparteien“, gegen die „Eliten“ gemein hatten. Dann aber bildeten die Fünf Sterne die Regierung mit der Lega – sie rissen selbst den Damm gegen die Rechte ein.
Lega-Chef Matteo Salvini nutzte seine Position als Innenminister im Kabinett unter Giuseppe Conte, um den Krieg gegen die Flüchtlinge und die in der Rettung auf hoher See aktiven NGOs mit seiner Politik der „geschlossenen Häfen“ zu eröffnen, und wurde darüber zum Liebling der Millionen enttäuschten, verbitterten, von jahrelanger Krise gebeutelten Italiener*innen. Er konnte die Lega von 17 Prozent im Jahr 2018 auf 34 Prozent nur ein Jahr später führen. „Il capitano“ nannten ihn seine Anhänger*innen damals ehrfürchtig.
Halbiert fanden sich damals die Fünf Sterne; solange sie in der Opposition gesessen hatten, war es ihnen gelungen, mit ihrem wütenden Protest gegen die „politische Kaste“ Wähler*innen von rechts wie links anzuziehen. Doch ihre rechten Gefolgsleute waren nun wieder abmarschiert, hin zu Salvini. Seit 2019 blieben die Parteienblöcke in den Meinungsumfragen fast völlig stabil, lag die Rechte bei 45 Prozent, die gemäßigt linke Partito Democratico bei gut 20 Prozent, das M5S bei 15–17 Prozent.
Meloni fühlt sich schon als Siegerin
Wenden sollte sich das Blatt allerdings mit der seit Februar 2021 amtierenden Notstandsregierung unter Mario Draghi, in der fast alle Parteien außer Melonis Fratelli d’Italia vertreten waren. Vorneweg die Lega zahlte einen hohen Preis für die Beteiligung: Salvini wetterte zwar täglich gegen als zu streng empfundene Coronamaßnahmen wie die Impfpflicht über 50, später auch gegen die Sanktionen gegen Russland – musste dann aber zustimmen – und gab so das Bild des irrlichternden, inkonsequenten Maulhelden ab.
Derweil stieg Meloni unaufhaltsam auf in den Meinungsumfragen; heute ist sie die Kapitänin, muss Salvini sich wohl mit der Rolle des Leichtmatrosen zufrieden geben. Meloni agierte im Wahlkampf schon ganz so, als gehe sie sicher davon aus, von Herbst an Italien zu regieren. Statt über Wahlversprechen redete sie über die Haushaltszwänge des mit etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hochverschuldeten Landes und davon, dass die europäischen Verträge einzuhalten seien.
Stramme Rechtspopulistin bleibt sie dennoch. Als das Europaparlament in einer Resolution Viktor Orbáns Ungarn als „Wahlautokratie“ geißelte, als die EU-Kommission beschloss, Ungarn mit Milliardenkürzungen zu bestrafen, solidarisierte Meloni sich umgehend mit Orbán, der doch „mit großer Mehrheit gewählt“ worden sei, so als sei allein schon deshalb jedwede Rechtsstaatsverletzung in Ordnung.
Mitte-links ist gespalten
Die Mitte-links-Parteien suchen dagegen zu halten – doch sie treten gespalten an. Die PD unter Enrico Letta müht sich redlich, ihren Ruf als soziale, linke Kraft wieder aufzupolieren, fordert den gesetzlichen Mindestlohn und deutliche Steuersenkungen für Arbeitnehmer*innen. Doch sie trifft auf die harte Konkurrenz der Fünf Sterne, die im Wahlkampf eine überraschende Renaissance erlebten, obwohl viele ihnen den Sturz in die Bedeutungslosigkeit vorhergesagt hatten.
Der M5S-Spitzenkandidat Giuseppe Conte hat Anzugjacke, Krawatte und Einstecktüchlein in den Schrank gehängt. Stattdessen tingelt er jetzt im Steve-Jobs-Look – dunkles Polohemd, dunkle sportliche Hose – vor allem durch den Süden Italiens und stimmt auch schon einmal „Bella ciao“ an. Die Parole „Weder rechts noch links“ ist abgeschafft, stattdessen ist das M5S jetzt „progressiv“, streitet für Bürgerrechte, für die ökologische Wende, vor allem aber für soziale Wohltaten, beginnend bei der Verteidigung der von ihr eingeführten und von der Rechten attackierten Grundsicherung. In den Umfragen kletterten die Fünf Sterne damit zuletzt auf 15 Prozent.
Als wäre das noch nicht genug, konkurriert auch noch die Zentrumsliste Azione – Italia Viva mit der PD um die der Rechten abgeneigten Wähler*innen. Träten diese drei Formationen – PD, Fünf Sterne, Zentrumsliste – in einer Allianz an, so hätten sie gute Siegeschancen. Doch gespalten sind sie wohl dazu verdammt, dem Sieg der Rechten zuzuschauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich