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Israels Bodenoffensive in RafahIm Teufelskreis der Machthaber

Kommentar von Susanne Knaul

Freude von kurzer Dauer: Angehörige von Verschleppten und die Bevölkerung im Gazastreifen hofften auf eine Feuerpause. Das Gegenteil tritt nun ein.

Flucht aus Rafah – die Menschen leiden, während die Mächtigen sie missbrauchen Foto: Saher Alghorra/zuma/imago

A usgerechnet als die Hamas sich anschickt, dem Tausch von Geiseln gegen palästinensische Häftlinge zuzustimmen, leitet Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu die Bodenoffensive in der Grenzstadt Rafah ein. Während Angehörige und FreundInnen der von den Islamisten Verschleppten kurzfristig aufatmen konnten und PalästinenserInnen im Gazastreifen erleichtert die augenscheinlich greifbar nahe Feuerpause feiern, werfen Piloten der israelischen Luftwaffe Flugblätter über dem Osten Rafahs ab mit der Aufforderung an die Bevölkerung, die Region zu verlassen.

Die Menschen auf beiden Seiten des Konflikts sind Spielball ihrer Führungen. Skrupellos den eigenen Landsleuten gegenüber – in diesem Punkt nehmen sich Netanjahu und die Hamas wenig. Der israelische Regierungschef lässt sich weder von den Demonstratio­nen beeindrucken noch von den erschütternden Berichten befreiter Verschleppter. Der innenpolitische Druck auf Netanjahu, nachdem die Hamas ihr Okay zum Geisel-Deal gegeben hat, steigt massiv.

Aktuelle Umfragen zeigen, dass inzwischen eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Haltung vertritt, der Befreiung der Verschleppten sollte höchste Priorität gelten. Aber auch der internationale Druck bringt Netanjahu nicht ab von seinen utopischen Zielen, zunächst die Hamas zu zerschlagen und dann erst die Geiseln zu befreien. Selten war Israel international so in der Kritik wie in diesen Tagen. Seit Wochen warnt US-Präsident Joe Biden vor der Rafah-Offensive – und stößt in Jerusalem auf taube Ohren.

Was Netanjahu antreibt, sind das Überleben seiner Koalition und seine rechtsnationalen WählerInnen, die nach Vergeltung rufen. Die Hamas setzt ganz ähnlich auf den Erhalt der eigenen Herrschaft. Die Geiseln sind der Joker der Islamisten bei allen Verhandlungen. Es ist ein Teufelskreis: Solange der Krieg andauert, werden die Geiseln nicht freikommen, und solange die Geiseln nicht freikommen, wird der Krieg andauern.

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Redakteurin Meinung
1961 in Berlin geboren und seit 2021 Redakteurin der Meinungsredaktion. Von 1999 bis 2019 taz-Nahostkorrespondentin in Israel und Palästina.
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21 Kommentare

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  • Einige Punkte des Abkommensplanes, der die Hamas „zugestimmt“ hatte:

    www.timesofisrael....ot-meet-its-terms/

    - In der ersten 6-Wochen Phase würden nur 33 Geiseln übergeben „Tod oder lebendig“. (Wenn es dumm läuft, könnte Isr. mehr Leichen als lebende Geiseln erhalten. Theoretisch könnte die Hamas sogar welche noch vor der Freilassung ermorden, und würde dennoch nicht gegen das Abkommen verstoßen.)

    - Ab dem ersten Tag täglich 600 LKW humanitäre Hilfe, davon 50 LKW mit Treibstoff, und das alle Phasen des Abkommens hindurch um sogar das Kraftwerk betreiben zu können (Raketenbau ist Energieintensiv)

    - Erst während der zweiten 6-Wochen-Phase Freilassung aller noch übrigen lebenden Geiseln

    - In der 3. Phase nach 12 Wochen Beginn mit dem Wiederaufbau von Gaza über 3-5 Jahre, mit „Entschädigung aller Betroffenen“ (Klingt ganz so, als ob Israel für die ganzen Schäden jener Kriegseskalation gerade stehen soll, den die Hamas vom Zaun gebrochen hat)

    - Ende der Blockade (damit Waffen in den Gazastreifen geschafft werden können)

    Mal im Ernst, gibt es hier irgendjemanden, der dieses Abkommen an Israels Stelle akzeptieren würde?

    (Falls ja, bitte auch nachvollziehbar begründen!)

  • “…nachdem die Hamas ihr Okay zum Geisel-Deal gegeben hat…“

    Folgendes schreibt die Times of Israel zum Geisel-Deal: „But after receiving the Hamas response, Israeli officials said the terms Hamas claimed to have accepted did not match those that Israel had approved. (…) War cabinet minister Benny Gantz, a political rival of Netanyahu, also said the ceasefire proposal Hamas accepted “is inconsistent with the dialogue [Israel] held with the mediators to this point and has significant gaps [from Israel’s demands].” “

    www.timesofisrael....what-we-agreed-to/

    Dass auch Benny Gantz, der sich entschieden dafür einsetzt, dass die Freilassung der Geiseln oberste Priorität haben soll, zu einer solchen Bewertung kommt, ist vielsagend.



    Die Hamas hat also völlig anderen Bedingungen zugestimmt, als zuvor von israelischer Seite mit den Mediatoten vereinbart worden sind, und dann öffentlichkeitswirksam proklamiert, dass man einem Deal zustimmt. Wer nicht genau hinschaut, hält dann Israel für die Partei, an der ein Kompromiss gescheitert ist. Letztlich ein PR-Stunt, bei dem ich von der taz erwarten würde, dass sie dem nicht auf den Leim geht.

  • Wahrscheinlich wird auch diese Aktion die Hamas nicht zum Umdenken bringen und auch nicht zu einem Aufstand der Palästinenser gegen alle Hamas Unterstützer. Dabei wäre das die einzige Möglichkeit die Kampfhandlungen ohne wenn und aber schnell zu beenden. Wenn die Geiselnehmer keine Gefolgschaft mehr hätten, gäbe es keine Möglichkeit mehr Geiseln zu halten und es bräuchte sie auch niemand mehr bekämpfen.

    • @vieldenker:

      Haben Sie den ersten Satz nicht gelesen: "Ausgerechnet als die Hamas sich anschickt, dem Tausch von Geiseln gegen palästinensische Häftlinge zuzustimmen, leitet Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu die Bodenoffensive in der Grenzstadt Rafah ein." und den Satz "Aber auch der internationale Druck bringt Netanjahu nicht ab von seinen utopischen Zielen, zunächst die Hamas zu zerschlagen und dann erst die Geiseln zu befreien." ?

      • @Rudolf Fissner:

        Ich habe alles gelesen, sehe aber nach wie vor das eigentliche Problem: Die Menschen in Gaza müssten die Hamas „zum Teufel jagen“ um das Drama zu beenden. Sonst wird das nichts mit dem Frieden.

      • @Rudolf Fissner:

        Hier ist es wichtig, auf den Zynismus und das Kalkül der Hamas hinzuweisen. "33 Geiseln - ob lebeding oder TOT" im Austausch? Das Kalkül, dass die Israelis damit nicht einverstanden sein werden und Rafah angreifen ist leider aufgegangen. Auch ich wünsche mir ein Ende des Krieges. Ich wünsche mir aber auch von Menschen, die eine Meinung zu diesem Krieg haben, definitiv mehr Kenntnis. Es ist nicht nur Netanyahu, der sein Macht erhalten will, es ist auch die Hamas, die ihre Macht erhalten will, die lügt, dass sich die Balken biegen, und nicht nur die Geiseln, sondern die eigene Bevölkerung als Kollateralschaden opfert.

  • > Ausgerechnet als die Hamas sich anschickt, dem Tausch von Geiseln gegen palästinensische Häftlinge zuzustimmen

    Die Hamas hat den Vorschlag von Israel, Ägypten und Katar abgelehnt.

    Dann haben Ägypten und Katar einen neuen Vorschlag erfunden, der für Israel bekanntermaßen nicht akzeptabel sein konnte. Nur dem stimmte die Hamas zu.

    Dass „Hamas stimmt zu“ durch alle Titelzeilen der Medien hallte (sogar durch die, in deren Artikel dann stand „aber nicht dem Vorschlag dem Israel zustimmte“), war komplettes Medienversagen wie nach dem Lehrbuch.

  • Leider muss man feststellen, dass alle Nachbarn Israels in einen Bürgerkrieg oder Konflikte verwickelt wurden. Die Region müsste zur Ruhe kommen, damit es dauerhaften Frieden und Wohlstand geben kann. Schalom, Esalamu Alaikum und Joh 20,21 Friede sei mit euch!

  • "Ausgerechnet als die Hamas sich anschickt, dem Tausch von Geiseln gegen palästinensische Häftlinge zuzustimmen, ...."

    Das stellt eine eklatante Verkürzung dar. Weiß die Autorin dies nicht? Die Hamas hat dem Deal eingefügt, lebendige oder tote Geiseln zu "tauschen". Diesen bodenlosen Zynismus zu unterschlagen, stellt ein völlig anderes Bild dar.

  • Als Spielball im Sinne von Verfügungsmasse benutzt die Hamas die palästinensische Bevölkerung und das seit über 20 Jahren. Als Spielball im Sinne von machtlosen Werkzeugen setzt die Hamas die Geiseln bezüglich der Verhandlungen ein.

    Ähnliches kann ich bei Netanjahu nicht erkennen, weder hinsichtlich der israelischen Bevölkerung noch in Bezug auf die Geiseln.

    Im Militärjargon gibt es den Ausspruch "wer hineingeht benötigt auch einen Plan wie er wieder hinauskommt". Daran scheint es bei Netanjahu zu hapern. Ansonsten bestünde eigentlich nur noch die Möglichkeit, dass Netanjahu mit seinen rechtsextremen Partnern ein "übergeordnetes" Ziel verfolgt, welches weit über Gaza hinausgeht.

    Damit wäre dann auch der von der Autorin erwähnte Teufelskreis durchbrochen, denn der Krieg würde nicht enden, wenn alle Geiseln befreit wären. Das Gegenteil wäre der Fall.

    Und auch was die Zustimmung der Israelis zu den Militäoperationen angeht, bin ich mittlerweile skeptisch. Vor wenigen Tagen war in einem Artikel der taz zu lesen, dass 80% der Israelis die Fortsetzung des Krieges befürworten. Jetzt ist die Haltung der Mehrheit, Befreiung habe die höchste Priorität und damit einhergehend jawohl auch ein Waffenstillstand, um dieses Ziel zu erreichen.Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es ratsam Umfragen nicht zu viel Gewicht bei der Bewertung der Lage zu geben.

    • @Sam Spade:

      Netanjahu wird auch in Israel vorgeworfen die Finanzierung der Hamas wissentlich toleriert zu haben.

      Likud und co brauchen den Konflikt mit der Hamas für die schrittweise Annektion des Landes.

    • @Sam Spade:

      Ähnliches können Sie bei Netanjahu nicht erkennen? Er benutzt dieselbe Bevölkerung im Gaza Streifen für seine politischen Zwecke, in dem er inzwischen 35000 der Menschen hat töten lassen. Und die israelische Armee hat mit dem Töten bisher ja noch keinen einzigen Tag aufgehört.

  • Wie bitte will er die Hamas zerschlagen wenn seine Methode in schweren Bomben besteht? Da wird nicht viel uu retten sein.

    Natürlich sehr ehrenhaft einen Vorschlag für einen Waffenstillstand zu liefern und ihn dann zurück zu ziehen, wenn dieser angenommen wird.

    • @Jessica Blucher:

      Er wurde nicht angenommen. Die Hamas hat ihn abgelehnt und Zusatzforderungen gestellt.

      Ägypten und Katar haben die dann reingeschrieben und dann ging durch alle Medien „die Hamas stimmt zu“ — aber halt nicht dem vereinbarten Abkommen.

      Das vereinbarte Abkommen hat die Hamas abgelehnt. Wie schon so oft die letzten Wochen.

    • @Jessica Blucher:

      "Natürlich sehr ehrenhaft einen Vorschlag für einen Waffenstillstand zu liefern und ihn dann zurück zu ziehen, wenn dieser angenommen wird."

      Der Vorschlag der jüdischen/Israel-Seite wurde --> nicht angenommen. Es wurde ein neuer, von Ägypten und Katar ausgearbeiteter Vorschlag angenommen, der Bedingungen enthielt, die die jüdische/Israel-Seite meint nicht annehmen zu können. Keiner der Vorschläge wurde im Wortlaut der Öffentlichkeit vorgestellt, so dass es schwer ist, hier Partei zu ergreifen.

  • "Ausgerechnet als die Hamas sich anschickt, dem Tausch von Geiseln gegen palästinensische Häftlinge zuzustimmen, leitet Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu die Bodenoffensive in der Grenzstadt Rafah ein."



    Wenn nicht alles, was ich darüber gelesen habe, falsch ist, ist es nicht so einfach, wie dieser Satz suggeriert. Die Gaza-Hamas-palästinensische Seite hat noch weitere Bedingungen gestellt, die die jüdische/Israel-Seite nicht meinte annehmen zu können. Im genauen Wortlaut wurden die verschiedenen Vorschläge nicht veröffentlicht, aber es scheint so zu sein, als hätte die Gaza-Hamas-palästinensische Seite weitreichende Forderungen gestellt.



    Es ging nicht ausschließlich um den Tausch "Geiseln gegen palästinensische Häftlinge". Da hätte sicher eine Lösung gefunden werden können.

    " Skrupellos den eigenen Landsleuten gegenüber – in diesem Punkt nehmen sich Netanjahu und die Hamas wenig."



    So furchtbar und grausam es ist, darf/dürfen Herr Netanjahu/das Kriegskabinett nicht nur die ca. 100 Geiseln und ihre Angehörigen berücksichtigen. Es geht u.a. auch darum, zukünftige Pogrome zu verhindern. Ich möchte auch an Gilad Schalit erinnern. (Für ihn wurden insgesamt 1027 Häftlinge freigelassen, die lt. Wikipedia unter anderem für den Tod von etwa 200 Israelis verantwortlich zeichnen.) Vielleicht ist es eher eine philosophische Frage, und ich weiß auch nicht, ob sie in diesen Kommentar passt, aber sind wir Menschen so veranlagt, dass für unser eigenes, einziges Leben beliebig viele andere Leben vernichtet werden dürfen? Hauptsache "ich"?

    "Der innenpolitische Druck auf Netanjahu, nachdem die Hamas ihr Okay zum Geisel-Deal gegeben hat, steigt massiv."



    Das ist sehr verkürzt, wie ich oben bereits erläutert habe.

    "Was Netanjahu antreibt,...die nach Vergeltung rufen."



    Auch hier finde ich, ist es nicht angemessen, die Entscheidungen des Kriegskabinetts auf "Vergeltung" zu verkürzen. Die Nicht-Festsetzung von 4 Bataillons plus Anführer ist mittelfristig viel gefährlicher.

    • @*Sabine*:

      Es geht israel nicht um Vergeltung, die Toten bleiben tot.



      Es geht darum, zu verhindern, dass sich Massaker wie die am 7. Oktober wiederholt.

    • @*Sabine*:

      Das Angebot von Hamas wurde veröffentlicht und ist leicht zu finden (ua. bei Al Jazeera).

      • @Hajo-K:

        Das was Al Jazeera da schreibt wirkt nicht wie ein Vorschlag der vorgelegt worden ist. Es liest sich wie ein Gegenvorschlag von Hamas.

        Mit Sätzen wie:

        "For every female soldier released by Hamas, Israel would release 50 Palestinians.", based on lists provided by Hamas.

        "During the first phase, Hamas shall release 33 Israeli captives (alive or dead)", if they are women, children (under the age of 19 who are not soldiers), those over the age of 50, and the sick, in exchange for a number of prisoners

        "No later than the 16th day of the first phase, indirect talks will begin between the parties to agree on the details of the second phase of this agreement, with regard to the exchange of prisoners and captives from both parties (soldiers and remaining men), provided that they are completed and agreed upon before the end of the fifth week of this stage."

        Also mit anderen Worten will die Hamas Tote gegen dutzende Straftäter*innen austauschen und das Recht haben die anderen Geiseln weiter zu halten (Die Talks im letzten Abschnitt).

        Das klingt nicht wie ein Vorschlag von Ägypten. Ist ja klar, dass Al Jazeera ein propagandistisches Sprachrohr ist, aber Medienkompetenz ist wichtig, selbst bei solchen Texten und gerade wenn sie aus dieser Ecke kommen.

    • @*Sabine*:

      In dem Zusammenhang darf man dann auch die Verhaftung der Muamar Familie und die "Gaza beach Explosion" nennen.



      Leider ist in der Region nichts schwarz weiß und wir müssen ganz eindeutig beide Seiten und ihre Taten benennen. In meinen Augen gibt es dort nur Opfer und niemand in den letzten 50 Jahren hat nicht Familie oder Freunde verloren. Deswegen kann Frieden, meines Erachtens, nur mit internationaler Hilfe als Puffer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten entstehen. So lange bis es min. eine Generation ohne Verluste auf irgend einer Seite gibt.

    • @*Sabine*:

      Danke für deine Texte.

      Gerade "Skrupellos den eigenen Landsleuten gegenüber – in diesem Punkt nehmen sich Netanjahu und die Hamas wenig." behauptet, dass Netanjahu eigene Bevölkerung systematisch foltern, ermorden und verschwinden lassen würde, wenn sie z.B. offen schwul sind, oder ihn kritisieren. Das ist offensichtlich nicht der Fall.