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Israel, Antisemitismus und der BDSImmer wieder Gedächtnistheater

Neulich erschien in der „Zeit“ ein viel diskutierter Text über die Frage, ob es israel­bezogenen Antisemitismus gibt. Eine Replik.

Israel zu boykottieren gehört hier zum guten Ton – ungeachtet manch anti­semitischer Denkmuster Foto: Christian Mang

I n regelmäßigen Abständen erscheinen in deutschen Leitmedien Artikel, Essays, Gedichte oder sonstige Aufrufe jüdischer Ak­ti­vis­t:in­nen aus Berlin. Diese Texte hangeln sich immer wieder an den ewig gleichen Schlagwörtern entlang und haben genauso einen festen Platz im deutschen Gedächtnistheater wie die von ihnen kritisierten vermeintlich etablierten Akteur:innen.

Keine dieser Aufforderungen kommt ohne eine Verteidigung der antisemitischen BDS-Kampagne und ohne einen Seitenhieb auf die ach so alarmistische Angsttreiberei der restlichen jüdischen Gemeinschaft der BRD in Bezug auf Antisemitismus von linken und islamistischen Gruppen aus.

Schließlich kenne man diese Probleme aus dem diversen, bunten, friedlichen Berlin innerhalb seiner internationalen Bubble so nicht. Wer aber ernsthaft wie Fabian Wolff neulich in der Zeit davon schreibt, dass es „Teil der deutschen Seele“ sei, „Israel zu lieben“, der scheint mit sämtlichen Studien zu (antisemitischen) Einstellungen in Deutschland genauso wenig vertraut zu sein wie mit der Lebensrealität der meisten Ju­den:Jü­din­nen in diesem Land.

Für einige Kul­tur­feuil­le­to­nis­t:in­nen wie Wolff mag die Kritik eigener Aussagen durch einen Titanic-Redakteur eine große traumatische Demütigung sein. Für einen der Verfasser dieses Textes ist es eher die Erinnerung an etliche Wochen der Schulzeit, in denen er seinen Schulweg ändern musste, weil zwei frühere Freunde ihn als Juden und damit als Vertreter Israels erkannt hatten und mit Ansage kaputt schlagen wollten. Aber über das Empfinden anderer lässt sich bekanntlich nur schwer diskutieren.

Jüdische Repräsentation in Deutschland

Sich über jüdische Repräsentation in Deutschland aufzuregen ist wohl mehr als gerechtfertigt, schließlich sind bis heute die Stimmen der eingewanderten So­wjet­ju­den:­jü­din­nen, anders als die der „israelkritischen“ in sämtlichen Print- und Digitalformaten sowie Gremien absolut unterrepräsentiert.

Wer aber wie Wolff den „frumen“ mehr Jüdischkeit als säkularen Ju­den:­Jü­din­nen attestiert, „deren Jüdischsein nur aus Popkultur und liberalen Phrasen“ bestehe, der vertritt hingegen ein Verständnis von jüdischer Identität, das Jüdischkeit an der Bartlänge des huttragenden Mannes am Brandenburger Tor beim öffentlichen Chanukkiazünden misst – baruch hashem müssen wir unser Jüdischsein nicht durch ein zweifaches, jiddisches „Gott sei dank“, Jewish name dropping oder eine vermeintliche „Israel­kritik“ erst der deutschen Leserschaft beweisen.

Wolffs Essay wurde vielfach positiv rezipiert: Igor Levit fühlt sich, „als sei ein Muskel, der jahrelang fest, hart und zu war, plötzlich weich und auf und frei. Und ich weine.“ Dabei ist an diesem Artikel wirklich nichts neu.

Verzückt sind so viele nur, weil es ein Jude ist, der dieses Mal sagt, „was gesagt werden muss“. Wolff kritisiert etwa, dass viele Berichterstattungen die BDS-Kampagne mit der Zuschreibung „antisemitisch“ versehen. Dass sich BDS nur gegen den jüdischen Staat richte, ist eine der vielen Unterschlagungen, die sich in Wolffs Verteidigung des israelbezogenen Antisemitismus einreihen.

Garantiert antisemitismusfreie Ikonen

So seien Judith Butler, Achille Mbembe und sämtliche Künst­le­r:in­nen nur „missverstanden“ oder „verzerrt“ worden, eine Diagnose, die auch gerne für garantiert antisemitismusfreie Ikonen wie Martin Luther, Richard Wagner, die RAF oder Felix Blume (Kollegah) ausgestellt wird.

So verblüfft es nicht, dass der Verweis Mbembes auf die jüdischen Philosoph:innen, die ihn geprägt hätten, für Wolff ein ausreichendes Alibi bedeutet: Er selbst baut doch in weiten Teilen auf der Argumentation des durchschnittlichen deutschen Antisemiten auf, dass „einige meiner besten Freunde Juden sind“, in seinem Fall sogar er selbst.

Es sind meist diese jüdischen Freund:innen, die Israel als kolonialistisches Projekt bezeichnen, denn „meine Perspektive ist das nicht“, wie Wolff sich schnell zu distanzieren weiß, aber wer wäre er denn, würde er ihnen die Form ihres Jüdischseins diktieren wollen.

In seinem dichotomen Weltbild sind die abgecancelten BDS-Unterstützer:innen auf einer Ebene mit den Liefers und Nuhrs dieses Landes – die unschuldigen Opfer einer imaginierten Cancel Culture, während BDS-kritische Stimmen als „vergiftende“, „herrische“ Zen­so­r:in­nen auftreten würden. All diese angeblich tabuisierten „kritischen Stimmen“ haben dann doch gemeinsam, dass sie beruflich gefestigter und finanziell abgesicherter sind als der Großteil der migrantisch-jüdischen Gemeinschaft, dessen Rent­ne­r:in­nen bis heute nur von der Grundsicherung leben. So viel zu jüdischen Lebensrealitäten.

Die Guten und die Bösen

Ebenfalls sind in Wolffs Essay nur die „israelkritischen“ Ju­den:­Jü­din­nen als „Jewish Left“ (als gäbe es keine jüdisch-israelsolidarische Linke) die Guten, alle anderen hingegen die „konservativ“ Bösen. Der von Wolff beschriebene deutsche Philosemitismus teilt in „gute“ und „schlechte“ Ju­den:­Jü­din­nen ein.

Um für Phi­lo­se­mi­t:in­nen ein „guter Jude“ zu sein, wird von einem solchen erwartet, Israel zu lieben. Genauso sollte es klar sein, dass in anderen Spielarten des Antisemitismus Ähnliches mit getauschten Rollen passiert: Die „guten Juden“ müssen für An­ti­se­mi­t:in­nen Israel stattdessen kritisieren.

Als „israelkritischer“ Jude ist Wolff sich dessen spätestens seit der positiven Rezeption seines zwölf (!) Seiten langen Essays in der Zeit sicher bewusst. Wer sich aber tatsächlich um die vorhandenen Missstände in Israel Sorgen macht, wüsste aus Gesprächen mit progressiven Kräften vor Ort, und nicht aus dem Prenzlauer Berg, dass BDS in seiner regressiven Art für alle Seiten mehr Schaden anrichtet, als es jemals einer emanzipatorischen Absicht nutzen könnte.

Kurz nach den antisemitischen Parolen auf der „revolutionären“ 1.-Mai-Demo in Berlin meint also ein Berliner Jude, Antisemitismus fange erst bei von Nazis ermordeten Jü­din­nen:­Ju­den an, alles andere bedrohe einen selbst nun mal nicht, und erklärt, Antisemitismus sei nur eine Form von Rassismus mit besonderen Spezifika – schlicht eine Falschbehauptung, der sogar viele der Mit­un­ter­zeich­ne­r:in­nen der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ heftig widersprechen müssten.

Lebenswichtige Handlung: Israelkritik

Dass die Unterzeichnung dieser Petition zu Wolffs „wichtigsten Handlungen meines Lebens“ zählt, passt zur emotionalen Befriedigung, die im Pathos der „Israelkritik“ gefunden wird. Dass er damit mühsame Bildungsarbeit ein weiteres Stück zurückwirft, scheint ihm im Zusammenhang mit der Diffamierung von antisemitismuskritischen Organisationen wie der Amadeu-Antonio-Stiftung egal zu sein.

Dass auch Ju­den:­Jü­din­nen antisemitische Aussagen und Weltbilder haben können, die auch nicht erst bei der Shoahleugnung beginnen müssen, und mitunter nichtjüdische Persönlichkeiten tatsächlich mehr theoretisches Wissen über Judenhass haben können, als es Betroffene eben auch nicht qua Betroffenheit haben müssen, widerspricht dennoch der identitätszentrierten Ideologie Wolffs. Dazu zählt ebenso die Klassifizierung von Ju­den:­Jü­din­nen als „Weiße“.

90 Prozent aller Ju­den:­Jü­din­nen in Deutschland sind nicht in Ostberlin geboren, heißen Fabian (oder Moritz) oder sprechen mit Intellektuellen aus der Upper West Side. Stattdessen wehren sie sich hierzulande nicht nur gegen jeden Antisemitismus, sondern gleichzeitig gegen Rassismus. Das jüdische Volk ist seit Jahrhunderten zur ewigen Anti-Nation gemacht worden, zum abstrakten Dritten, welches sich nicht in den Kategorien antirassistischer Theorien einordnen lässt – es ist nicht einfach „weiß“.

Wolffs „echte jüdische Werte“ sind mit Sicherheit divers und pluralistisch, aber nicht jede Meinung einzelner Ju­den:­Jü­din­nen ist für sich automatisch eine Bereicherung der tradierten jüdischen Streitkultur, zumindest nicht, wenn sie Formen des Antisemitismus bagatellisiert und relativiert. Darüber sollte eigentlich (besonders innerjüdisch) Konsens bestehen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag erschien bereits Mitte Mai in der gedruckten bzw. digitalen taz – unmittelbar vor der neuerlichen Eskalation in Nahost und der daraus folgenden Debatte über Antisemitismus in Deutschland. Aus diesem Grund bleiben die neuerlichen Entwicklungen hier unerwähnt. Gleichwohl wollten wir auf eine Veröffentlichung dieses Debattenbeitrags nicht verzichten.

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6 Kommentare

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  • Sehr spannender Artikel, danke für diese Perspektive!

    Bist du nett zu mir, bin ich nett zu dir. Im Alltag funktioniert das oft...aber nicht immer. Juden hatten das über Jahrhunderte in Europa versucht. Es hatte ihnen nichts genützt. Die „unermüdlichen“ unter uns deutsche Christen suchen heute ihre Seelenverwandten unter den Juden, die es vielleicht -in guten Glauben- immer noch versuchen -bist du nett zu mir, bin ich nett zu dir-. Am Ende dienen sie als Kronzeugen für das unauslöschliche Grübeln, das selbst im Schlaf nicht verschwinden wollende Ressentiment derer, die auch nachdem in Europa eine ganze Kultur nicht mehr existiert, die übrig gebliebenen, über die halbe Welt nach Middle East zu verfolgen angetrieben bleiben. Ob sie sich nun von unserem „deutschen Friedenswillen“ missionieren lassen? Unser Religionsstifter ist mit seinem Eifer schon vor 500 Jahren „gescheitert“. 5 Jahrhunderte später kam dann die Zeit, als es auch nicht mehr half, die jüdische Identität vollständig aufzugeben, sich taufen zu lassen. Das könnte sich auch Fabian Wolf vergegenwärtigen. Wer Jude ist bestimmte der Antisemit und heute bestimmen deutsche Christen wer ein guter Jude ist, wenn sie mit ihren NGO's unzählig nach Israel reisen, den ganzen Unrat im Gepäck, der sie von Generation zu Generation nicht ruhen lässt.

  • Hier ist noch eine Kritik am unsäglichen Machwerk des Herrn Wolff, der sich allerdings deutlich in die Herzen seiner deutschen Leserschaft geschrieben hat - das war wohl auch das Ziel. Offen Israelsolidarische Menschen kommen selten weit im Deutschen Kulturbetrieb. www.mena-watch.com...likum-zu-gewinnen/

    • @Fitzli Putzli:

      Prima Text, danke für den Hinweis!! Noch eine Empfehlung für das neue Buch von Sandra Kreisler:



      "Jude Sein.: Ansichten über das Leben in der Diaspora"

  • 9G
    97627 (Profil gelöscht)

    Ja ja, wie üblich.. "self hating Jews" usw. kennt man ja, Berliner Juden.. so so.. das sind übrigens vor allem auch Menschen aus Israel.

  • "The uncomfortable truth about BLM, Malcolm X and anti-Semitism"

    Es ist an der Zeit, daß auch die BLM-Bewegung ihre eigene Verstrickung in den Anti-Semitismus aufarbeitet, der den amerikanischen 'Anti-Rassismus' seit Malcolm X - und ganz im im Gegensatz zur Haltung M.L. Kings (!) - begleitet:

    "During the Los Angeles riots over the killing of George Floyd, Jewish shops were destroyed, synagogues were sprayed with ‘free Palestine’ graffiti, and a statue of a Swedish diplomat who had saved Hungarian Jews from the Nazis was defaced with anti-Semitic slogans."

    "In France, a Black Lives Matter rally descended into cries of ‘dirty Jews’, echoing the anti-Semitic chants that filled the same streets during the Dreyfus affair a century ago. Shortly afterwards, the #Jewishprivilege Twitter hashtag sought to lump Jews together with the forces of oppression – until it was subverted by Jews posting accounts of the persecution suffered by their families. Jewish privilege indeed."

    Die Tochter von Malcolm X.:

    "Sadly, her father had often associated the ‘people in power’ with Jews. Throughout his life, he attacked what he called ‘Zionist-Dollarism’, deplored Israel and cast Jews as a race of white oppressors."

    www.spectator.co.u...-x-for-inspiration

    • @Weber:

      Ich würde es gern noch mal betonen: Martin Luther King war ein ausgesprochener Freund Israels und des Zionismus. Er war auch nicht gewalttätig, (wie MalcomX) und wesentlich belesener.