Referentin über Antisemitismus: „Kritik nur an einem Staat“
Wencke Stegemann spricht in Kiel (und online) über die Übergänge von „Israel-Kritik“ zu Antisemitismus.
taz: Frau Stegemann, sprechen Menschen über Israel in einer Weise, wie sie es über „die Juden“ nicht tun würden?
Wencke Stegemann: Zum Teil, ja. Es gibt Menschen, die einen Israelbezug nutzen, um ihren Antisemitismus zu kanalisieren: in eine Form, die gesellschaftlich vielleicht konformer ist. Wobei ich dann immer sage: Es geht nicht darum, dass an einem Staat oder an einer Regierung nicht Kritik geübt werden darf. Das sollten wir überall tun: an Deutschland, an China, an Russland.
Aber?
Es geht darum, wie die Kritik geäußert wird. Und wenn das mit antisemitischen Stilmitteln geschieht, dann ist klar, dass die Wurzel Antisemitismus ist, der kanalisiert in eine gesellschaftlich weniger geächtete Form.
Wenn das mit der Ächtung mal noch so stimmt. Sprechen viele Menschen nicht wieder ziemlich unverblümt?
Ja, und das auch gar nicht nur über Jüdinnen und Juden. Ich würde sagen: Das gesellschaftliche Klima hat sich in den letzten Jahren so entwickelt, dass manche meinen, sich äußern zu können, ohne Konsequenzen zu fürchten – auch über Geflüchtete oder Homosexuelle. Beispielsweise.
43, ist Gründerin und Programmleiterin des Bildungsanbieters „Stories for tomorrow“ in Kaltenkirchen.
Wenn das knapp und doch seriös zu machen ist: Wie definieren Sie israelbezogenen Antisemitismus?
Wenn wir Antisemitismus übersetzen, heißt das Judenfeindschaft, eine feindliche Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden. Bloß wird Israel hier quasi synonym mit ihnen gesetzt; der Staat Israel oder das Volk Israel, wie auch immer man es nennen will, die Bevölkerung insgesamt wird als Kollektiv betrachtet: Alle machen dasselbe und sind derselben Meinung; ein Kollektiv, das als Ganzes agiert – und in der Regel nichts Gutes im Sinne hat, so die Haltung. Es gibt dann auch noch spezifische Merkmale, die Schwierigkeit an Antisemitismus insgesamt ist aber, dass seine Formen häufig ineinandergreifen, sich bei einer Form von den anderen bedient wird, und die Gruppen, die ihn praktizieren, sich überschneiden.
Kommt beim Israelbezug nicht eine Art beanspruchte Rationalität: „Ich hasse nicht einfach stumpf, ich kritisiere differenziert“?
Wenn mir jemand begegnet, den ich vielleicht über einen längeren Zeitraum kenne und der politisch sehr kritisch ist, und ich merke, dass diese kritische politische Haltung sich ausschließlich auf einen Staat konzentriert, nämlich Israel – und über andere vermeintliche oder auch tatsächliche Menschenrechtsverbrechen spricht er nicht, dann werde ich schon mal fragen und nachbohren: Warum sprichst du immer nur über Israel? Warum nie über China, Pakistan und so weiter? Was steckt dahinter?
Was steckt denn dahinter?
Online-Vortrag „Israelbezogener Antisemitismus. Wie kann ich ihn erkennen? mit Wencke Stegemann sowie Sigrid Richolt (Informations- und Dokumentationsstelle Antisemitismus Schleswig-Holstein): 9. 11., 17 Uhr per Zoom. Link nach Anmeldung bei diversity@fh-kiel.de. Im Rahmen der Aktionswochen gegen Antisemitismus, ausgerichtet von FH und Uni Kiel.
Es kann ja sein, dass dieser Person selbst das gar nicht bewusst ist. Insgesamt ist es ja so, dass eine antisemitische Haltung, dass Vorurteile oder Stereotype so tief verwurzelt sind in uns allen, überall auf der Welt, in unseren Gesellschaften, dass wir das oft gar nicht wissen. Und dafür sind ja Menschen wie ich da (und unsere Bildungsarbeit): Um darüber aufzuklären, warum eine Aussage antisemitisch ist, die sich etwa Vorurteilen bedient, die es schon im Mittelalter gab; dass da einfach alte Bilder sozusagen erneuert werden. Und dann hofft man, dass beim Gegenüber zumindest eine Offenheit besteht.
Ist dem Problem denn mit Bildung beizukommen?
Politik, Verwaltung und Justiz müssen sich auch dafür entscheiden, wenn etwas passiert, konsequenter durchzugreifen. Also dass auch die Gesetzeslage noch mal angeguckt wird, konkreter formuliert wird: Was ist Antisemitismus? Ich würde sagen, Bildung allein schafft es nicht, aber sie ist ein sehr wesentlicher Punkt.
Leser*innenkommentare
Strolch
Ich kann die Argumentation verstehen, möchte aber eins zu Bedenken geben: Ich habe in der Vergangenheit die USA aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich häufiger als Russland oder Iran kritisiert. Iran habe ich (glaube ich) noch nie kritisiert. Einfach weil es sich beim Iran nicht lohnt und ich nichts erwarte bzw. ich davon ausgehe, dass dort sowieso "alles" schlecht ist, was Menschenrecht angeht. Die USA stellen sich aber hin und betonen die Menschenrechte. Daher werden sie auch eher kritisiert, ohne das ich Iranfreund und USA-Feind wäre. Umgekehrt wird eher ein Schuh draus...
Henriette Bimmelbahn
@Strolch Die Argumentation kenne ich, finde sie aber nicht überzeugend. Das würde doch im Umkehrschluss bedeuten, eine Regierung, die bewußt gegen Menschenrechte verstößt könnte sich praktisch alles erlauben, ohne Gegendruck befürchten zu müssen. Eine andere, die sich zu einem Teil - ein 100% Ideal gibt es nicht - daran hält, würde dafür bestraft werden. Das würde doch dem Rechtsbruch und der totalen Verrohung Tür und Tor öffnen?
Strolch
@Henriette Bimmelbahn Na ja, meinen Sie wirklich, dass es die im Iran herrschenden interessiert, was ein Strolch von ihnen denkt? Wenn ich mit einem Iraner Kontakt hätte (tatsächlich habe ich nur eine Iranerin vor Jahren mal gekannt), würde ich die Regierung sicher kritisieren. Nur, bei den Iranern, die in Deutschland sind, renne ich (vermutlich bei den meisten) offene Türen ein. Ich kenne auch keinen Deutschen, der je für den Iran Partei ergriffen hat.
Spannend sind und streiten tut man sich doch über die Grenzfälle.
Ich gehe zudem davon aus, dass Kritik bei denen, die 100% erreichen wollen, auch wenn es utopisch ist, auf fruchtbaren Boden fällt.
Henriette Bimmelbahn
@Strolch Was ein Strolch denkt vielleicht noch nicht, was viele Strolche denken aber schon:-)
Einen fruchtbaren Boden zu beackern ist sicher nicht so mühselig wie erst mal die dicksten Steine herauszuklauben um überhaupt zum Acker vorzudringen, aber - wenn sie dort irgendwas ernten wollen - muss es halt sein.