Investorenpraxen auf dem Vormarsch: Ohne App kein Hausarzt

Termine nur per App, keine Hausarztbesuche: Die Investorengruppe Avi Medical betreibt inzwischen fünf solcher Praxen in Hamburg. Die Kritik wächst.

schwitzender Hausarzt im Hemd mit Maske

Stressiger Job, den viele nicht mehr alleine machen wollen: Hausarzt Foto: Fabian Strauch/dpa

HAMBURG taz | Nachdem im vergangenen Jahr in Hamburg eine weitere Hausarztpraxis vom Startup-Unternehmen Avi Medical übernommen wurde, regen sich zunehmend Bedenken gegenüber deren Praxismodell. Gudrun Schittek, die gesundheitspolitische Sprecherin der grünen Bürgerschaftsfraktion, sagt, sie sehe die Praxisübernahmen durch Avi Medical „kritisch“.

Denn deren Konzept richtet sich vor allem an junge, gesunde Versicherte. In den Praxen des Startups werden Termine nur über eine App vergeben, außerdem machen die dort angestellten Ärz­t:in­nen keine Hausbesuche.

Das schließt weniger mobile Menschen, viele Ältere mit Einschränkungen und chronischen Krankheiten, solche ohne Internetzugang oder mit Sprachbarrieren aus – genau diese sind in der ärztlichen Versorgung oft zeitaufwendig und damit weniger lukrativ.

Zudem ist auffällig, dass sich drei der vier von Avi Medical betriebenen Praxen in eher wohlhabenden Stadtteilen befinden und damit das Gefälle in der medizinischen Versorgung weiter vertiefen: In den einkommensschwachen Teilen Hamburgs gibt es zu wenig Haus- und Kinderarztpraxen.

Diskriminierung befürchtet

Auch Deniz Celik, der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion der Linken, sieht den Vormarsch der Investoren in den Arztpraxen mit Sorge. Die Anmeldung ausschließlich per App sei „diskriminierend für alle Menschen, die nicht die entsprechende digitale Kompetenz haben“.

Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH) ist ebenfalls skeptisch. Die Terminvergabe des Start­ups widerspricht allerdings nicht den Vorgaben des Vertragsarztrechts. Laut dem Sprecher der KVH, Jochens Kriens, gibt es auch keine Überlegungen, diese Vorgaben zu verändern.

Von Avi Medical selbst kam auf taz-Anfrage lediglich folgende Mitteilung: „Zu Ihren Fragen möchten wir uns nicht äußern, wofür Sie sicher Verständnis haben.“ Das 2020 gegründete Unternehmen hat laut businessinsider.de bis 2022 rund 50 Millionen Euro Kapital eingeworben und betreibt 14 Praxen in Berlin, München, Stuttgart und Hamburg. In den nächsten drei Jahren sollen es 100 in ganz Europa werden.

In Hamburg sind es derzeit fünf Praxen, wobei ausgerechnet die im weniger betuchten Fischbek „temporär geschlossen“ ist, wie es auf der Internetseite von Avi Medical heißt.

Der Senat will in Stadtteilen mit besonders schlechter sozialer Lage die Gründung von sieben Gesundheitszentren fördern

Das Unternehmen wirbt für sich als „moderne Hausarztpraxis“ mit „kurzen Wartezeiten“ und „Behandlungen in unserer Praxis oder per Video“. Die gefällig ausgeleuchteten Fotos zeigen Praxen, die so eingerichtet sind, „dass Sie fast vergessen, dass Sie gerade beim Arzt sind“.

Für Pa­ti­en­t:in­nen ist nicht notwendigerweise ersichtlich, ob die von ihnen besuchte Praxis einem Finanzinvestor wie Avi Medical gehört. Bislang ist ein Hinweis etwa im Eingangsbereich oder im Impressum der Internetseite freiwillig. Ein Verpflichtung dazu kann nur auf Bundesebene verfügt werden. „Leider liegt fast alles in der Kompetenz des Bundes“, sagt Deniz Celik – womit sich die Frage stellt, welche Handlungsspielräume es vor Ort überhaupt gibt.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat angekündigt, im ersten Quartal 2023 einen Gesetzentwurf vorzulegen, „der den Einstieg dieser Heuschrecken in Arztpraxen unterbindet“. Avi Medical ist nicht der einzige Finanzinvestor, der in Hamburg Arztpraxen aufkauft. Der Trend ist ein bundesweiter und richtet sich ebenso auf andere medizinische Fachrichtungen.

Ob sich mit einer Gesetzgebung gegen den Vormarsch der Investoren das Problem der medizinischen Unterversorgung in den armen Stadtteile löst, ist allerdings fraglich. In Hamburg ist das Problem lange bekannt. Über die richtige Gegenstrategie herrscht Uneinigkeit, ebenso wie über die Bereitschaft der Beteiligten, tatsächlich etwas zu verändern.

Ungleich verteilte Arztsitze

SPD und Grüne haben im vergangenen Jahr einen Antrag in die Bürgerschaft eingebracht, nach dem der Senat prüfen soll, ob bei der Arztsitzplanung kleinere Einheiten zugrunde gelegt werden können. Davon verspricht man sich mehr Praxen in den unterversorgten Stadtteilen. Dieses Vorgehen, das in Berlin bereits praktiziert wird, haben in der Vergangenheit auch Ver­tre­te­r:in­nen der Poliklinik auf der Veddel eingefordert, die sich schon lange für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen einsetzen.

Auch Deniz Celik von der Linken ist dafür, er fordert aber eine schnelle Umsetzung statt langwieriger Prüfung. Doch inzwischen ist die Skepsis gegenüber dem Modell gewachsen. Laut Gudrun Schittek hat es in Berlin nicht zu der erhofften flächendeckend besseren Versorgung geführt.

Die Stadt Hamburg will in Stadtteilen mit besonders schlechter sozialer Lage die Gründung von insgesamt sieben lokalen Gesundheitszentren fördern, mit einer haus- und oder kinderärztlichen Praxis, einer modernen Form der „Gemeindeschwester“ und einer Sozialberatung. Gemeinnützige Träger können pro Zentrum eine Förderung von 100.000 Euro jährlich für drei Jahre erhalten. Bislang hat sich jedoch nur die Poliklinik auf der Veddel als lokales Gesundheitszentrum etabliert.

Schittek zufolge scheitert die Gründung zum Teil an Räumen, vor allem aber an Ärzt*innen, die einen Kassensitz übernehmen könnten. Zum einen ist der Verdienst in der Allgemein- und Kindermedizin geringer als in anderen Fachrichtungen, zum anderen arbeiten junge Kol­le­g*in­nen zunächst lieber angestellt in Praxen, als selbst eine zu eröffnen oder zu übernehmen. Viele davon sind Frauen in der Zeit der Familiengründung, die den Wunsch nach festen und planbaren Arbeitszeiten haben und die hohen Kosten für eine Praxisübernahme scheuen.

Berlin macht es vor

Es fehlt den lokalen Gesundheitszentren aber auch die Unterstützung durch die kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH). Die sieht in dem Modell der lokalen Gesundheitszentren durch die finanzielle Unterstützung eine Wettbewerbsverzerrung – deshalb kooperierten die niedergelassenen Ärz­t:in­nen aus der Umgebung auch nicht mit den Zentren.

Gudrun Schittek will nun die KVH stärker in die Lösung des Problems einbinden. In einem gemeinsamen Antrag von SPD und Grünen hat sie den Senat aufgefordert zu prüfen, welche rechtlichen Möglichkeiten für die KVH bestehen, eigene Einrichtungen zu gründen und auf Bundesebene gegen mögliche Hindernisse vorzugehen.

Und die KVH selbst? Der Sprecher der KVH, Jochen Kriens, hält es angesichts der Tatsache, dass Hamburg ein einheitliches Planungsgebiet ist, für „unsachgemäß“ von über- oder unterversorgten Stadtteilen zu sprechen. Aber er verweist auf ein Maßnahmenpapier, das vorsieht, dass Sitze aus schlechter versorgten Regionen nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen in besser versorgte Regionen verlegt werden dürfen. Das mag eine Verschlechterung verhindern – aber wie ließe sich die Situation verbessern?

Jochen Kriens schreibt, dass „KV-Eigeneinrichtungen denkbar wären“ – das würde allerdings voraussetzen, dass die kassenärztliche Vereinigung eigene Zulassungen halten könne, was derzeit gesetzlich nicht möglich sei. Ein Blick nach Berlin zeigt, dass dort die kassenärztliche Vereinigung nach langem Sträuben im letzten Jahr eine Hausarztpraxis gegründet hat.

Die Hamburger Gesundheitsbehörde hat die Anfrage der taz zu den neuen Avi-Medical-Praxen und dem Fortschritt bei der Einrichtung der lokalen Gesundheitszentren unbeantwortet gelassen.

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