Gesundheit als Klassenfrage: Armut macht krank
Die Veddel ist einer der ärmsten Stadtteile von Hamburg. Ein Forschungsprojekt zeigt, wie sich das auf die Gesundheit der Menschen auswirkt.
Hamburg taz | Auf der Veddel ist das Leben kürzer. Im Schnitt sterben Bewohner*innen fast elf Jahre früher als Menschen in reicheren Hamburger Vierteln.
Nun hat ein Forschungsprojekt erstmals umfangreiche Daten zur Gesundheit der Veddeler*innen erhoben. Am Freitag wurden erste Ergebnisse vorgestellt.
„Die Umfrage hat gezeigt, dass die subjektive Gesundheit der Menschen hier schlechter ist als im bundesdeutschen Durchschnitt“, sagt Philipp Dickel von der Poliklinik Veddel. Laut der Umfrage sind die häufigsten Erkrankungen Chronische Rückenleiden, Depressionen, Bluthochdruck, Asthma Bronchiale und Diabetes.
Teilweise kommen diese Erkrankungen auf der Veddel deutlich häufiger vor als im Bundesdurchschnitt. Die Depressionsbelastung steche allerdings besonders hervor. „Das ist eine krasse Erkenntnis, vor allem weil es im Hamburger Süden kaum psychotherapeutische Angebote gibt“, sagt Dickel.
Um mehr über die Bedarfe der Menschen zu erfahren, hat die Poliklinik die Befragung initiiert, in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) und der Nachbar*innenschaft. Über zwei Jahre haben Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen zusammen mit Menschen aus dem Viertel wichtige Themen identifiziert und Fragebögen in fünf verschiedenen Sprachen entwickelt.
Es ist ein besonderes Projekt, in dem Akteur*innen aus der Wissenschaft, der Praxis und dem Stadtteil gemeinsam forschen. „Auf diese Weise Community Based Healthcare zu organisieren ist tatsächlich bundesweit einmalig“, sagt Silke Betscher. Als Professsorin für Gemeinwesenarbeit und Macro Social Work an der HAW hat sie das Forschungsprojekt wissenschaftlich begleitet.
Die Veddel ist ein Dorf, zwischen Elbe und Autobahnen wohnen nur etwas mehr als 4000 Menschen. Und die Veddel ist eine Insel. Zwar ist man mit der S-Bahn schnell am Hauptbahnhof, dafür braucht man aber erst mal eine Fahrkarte – und die Bahn muss kommen.
Das Stadtteilgesundheitszentrum Poliklinik Veddel ist 2017 angetreten, die Versorgungslage im Viertel zu verbessern. Die Poliklinik bietet niedrigschwellig medizinische Versorgung und Sozialberatung. Mittlerweile hat sie drei Standorte im Stadtteil.
Geschulte Stadteilforscher*innen, die selbst auf der Veddel wohnen, haben im Winter 2022 sechs Wochen lang an jeder Tür geklingelt. „Wenn niemand aufgemacht hat, kamen sie ein zweites Mal“, sagt Dickel. Am Ende wurde ein Viertel aller Haushalte befragt. Bei solchen Studien ist das eine hohe Antwortrate. Sie könnte sich dadurch erklären lassen, dass an allen Schritten der Studie Bewohner*innen des Stadtteils selbst beteiligt waren, sagt Betscher.
Eine von ihnen ist Sati Tunç. Nach einer Schulung hat sie als Stadtteilforscherin Haushalte besucht und mit Menschen den Fragebogen ausgefüllt. Tunç ist auf der Veddel aufgewachsen – eine gute Voraussetzung für’s Fragenstellen. „Hier kennen mich die Leute, ich kenne die, da ist Vertrauen da“, sagt sie.
Als Tunç vor 45 Jahren als Kind mit ihren Eltern auf die Veddel gezogen ist, habe es dort noch viel mehr Geschäfte und Infrastruktur gegeben als heute. „Wir wollten einiges wieder in Bewegung bringen“, sagt sie über ihre Motivation am Projekt mitzumachen.
Es ging bei der Studie nicht nur um die Gesundheit der Menschen im Viertel, sondern auch um Bedingungen, die krank machen können. Daher behandelte die Umfrage neben Zugängen zu Gesundheitsversorgung auch die Themen Wohnen und Diskriminierung.
Zwei Drittel der Befragten haben angegeben, im Alltag Diskriminierung aufgrund der Herkunft oder des Geschlechts zu erleben. Auch dieser Wert liegt über dem bundesdeutschen Durchschnitt. Ihre Wohnsituation beschrieben über 70 Prozent der Menschen als belastend.
„Die Mietbelastungsquote auf der Veddel ist hoch“, sagt Philipp Dickel. Mieten seien dort zwar noch niedriger als anderswo in Hamburg, aber Einkommen auch. Laut der Umfrage geht bei einem Drittel der Veddeler*innen mehr als die Hälfte ihres Nettoeinkommens für die Miete drauf. „Miete ist ganz klar ein Armutstreiber“, sagt Dickel.
Zudem klagten viele der Befragten über Schimmel in der Wohnung. Studien der Weltgesundheitsorganisation deuten darauf hin, dass Schimmelbefall in Wohnräumen das Risiko für Allergien, Asthma und andere Atemwegserkrankungen erhöht.
Der Einfluss der Wohnbedingungen auf die Gesundheit soll auch über die Umfrage hinaus untersucht werden. „Wir sind dabei, ein Stadtteillabor aufzubauen, in dem diese Themen dauerhaft und nachhaltig weiter untersucht werden“, sagt Silke Betscher von der HAW. Zunächst kann die Forschung bis Oktober über den Citizens Science Preis 2023 finanziert werden.
Nicht alles ist schlecht auf der Veddel
Für die Arbeit der Poliklinik sind die ersten Umfrageergebnisse schon jetzt hilfreich. „Aus meiner hausärztlichen Perspektive ist das ein Riesensprung“ sagt Philipp Dickel. Auch wenn die Auswertung der Umfrage gerade erst begonnen hat, gebe es „nun erstmals Zahlen für das, was man vorher aus Erfahrung geahnt hat“, sagt Dickel.
Die Umfrage hat aber auch gezeigt: es ist nicht alles schlecht auf der Veddel. Der überwiegende Teil der Befragten hat angegeben, sich im Viertel wohl zu fühlen. Tunç sagt, dass die Veddel so klein ist, habe Vorteile: „Wenn es mir schlecht geht, gehe ich auf die Straße und klöne mit Bekannten, schon geht's mir besser“.
Zudem könnten auch die Daten zu Belastungen bestärkende Wirkung haben, sagt Tunç. Etwa, wenn es Menschen zeige: „Wir stehen nicht alleine da mit unseren verschimmelten Wohnungen. Ein Drittel hat das gleiche Problem.“
Forschung sei immer politisch, betont Dickel von der Poliklinik. „Daten sind eine Waffe, um besser auf Missstände aufmerksam machen zu können.“
Leser*innenkommentare
Andreas_2020
Es ist nicht nur der Stadtteil und die Armut, es sind auch die prekären Beschäftigungsverhältnisse und die Schwarzarbeit. Viele Leute dort erhalten wenig Lohn und haben dann aber Schichtarbeit, müssen manchmal einen Zweitjob machen, sind ständig gestresst und genervt, haben oft nicht genug Zeit für die Familie. Man kann nicht alles mit Zugang zu Ärzten und Psychotherapeuten begründen. Zugang zu normalen gut-bezahlten Arbeitsstellen wäre auch wichtig.