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Interview zum Streit Italien/EU„Armut destabilisiert Italien“

Rom beharrt darauf, mehr Geld auszugeben als von der EU-Kommission erwünscht. Die Ökonomin Antonella Stirati sieht ihr Land im Recht.

Mailand: Blick auf die Skyline des Stadtteils Porta Nuova mit dem Unicredit-Turm Foto: dpa
Michael Braun
Interview von Michael Braun

taz: Frau Stirati, Italiens Regierung will 2019 ein Defizit von 2,4 Prozent. Es gibt Zoff mit der EU-Kommission, einige Medien fürchten den Untergang der Eurozone. Ist der Alarm gerechtfertigt?

Antonella Stirati: Ich halte die Panik für völlig ungerechtfertigt. Das Defizit ist bescheiden und soll vor allem eine schon vor Jahren anvisierte Mehrwertsteuererhöhung neutralisieren; jede andere italienische Regierung hätte so gehandelt. Zusätzliche Ausgaben halten sich in Grenzen. Außerdem erzielt Italien weiterhin einen Primärüberschuss – der Staat nimmt mehr ein, als er ausgibt, wenn wir von den Zinszahlungen absehen. Ich kann absolut nicht erkennen, dass dieser Haushalt übertrieben expansiv wäre. Diverse andere Länder wie Frankreich und Spanien, die in den letzten Jahren stärker wuchsen als Italien, leisteten sich Defizite von bis zu 6 Prozent.

Die Regierung aus Fünf Sternen und Lega sagt, sie habe das expansive Haushaltsgesetz aufgelegt, weil dies der einzige Weg zu mehr Wachstum sei.

Italien befindet sich im Prinzip noch in einer Rezession. Gewiss, in den letzten Jahren hat es ein wenig Wachstum gegeben. Aber BIP und Beschäftigung liegen immer noch leicht unter den Werten von 2007, die Industrieproduktion ist sogar um ein Viertel geringer. In einem solchen Kontext führt Austeritätspolitik nicht nur zu einer schlechteren ökonomischen Situation, sondern auch zu einem höheren Stand der Staatsschulden gegenüber dem BIP. Das haben wir in Griechenland gesehen. Staatsausgaben zusammenstreichen ist keine Lösung, um Staatsschulden zu senken. Wenn man dagegen auf expansive Haushaltspolitik setzt und damit die Wirtschaft in Gang bringt, kann der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP sinken. Mal ganz abgesehen von den positiven Effekten für die Bevölkerung: mehr Beschäftigung, bessere staatliche Leistungen.

Bild: privat
Im Interview: Antonella Stirati

Antonella Stirati ist Professorin der Ökonomie an der Uni Roma Tre und Mitglied im Thinktank Institute for New Economic Thinking

Die Anhänger der Sparpolitik sagen, der Schuldenberg müsse abgebaut werden. Sonst lebe Italien über seine Verhältnisse lebt. Sie behaupten, dass das nicht stimmt.

Schauen wir einmal auf Deutschland, Frankreich und Italien. Seit den frühen 90er Jahren sind Italiens gesamte Staatsausgaben – Sozialleistungen, Gehälter des öffentlichen Dienstes, Investitionen, Zinszahlungen – kaum gestiegen. Sie lagen 1991 bei 12.500 Euro pro Kopf und liegen heute bei 13.000 Euro. In Deutschland dagegen schnellten sie von 11.800 auf 15.000 Euro pro Kopf hoch, in Frankreich von 12.600 auf 18.000 Euro. Von exzessiven Staatsausgaben kann in Italien wirklich nicht die Rede sein.

Und der hohe Schuldenberg?

Der wurde in den 80er Jahren angehäuft, als hohe Realzinsen auf die öffentlichen Schulden gezahlt wurden. Der Schuldenberg schoss binnen eines Jahrzehnts von 60 auf 120 Prozent der Wirtschaftsleistung nach oben. Bis 2007 sank er auf 100 Prozent, nach der Krise ab 2008 stieg er wider an. Bezeichnend ist, dass er in den beiden Jahren der härtesten Sparpolitik, 2011–2013, von 120 auf 130 Prozent des BIP hoch schnellte. Ebenso wie die Jugendarbeitslosenquote – die Europäische Kommission sollte auch das im Auge haben. Wir zählen heute fünf Millionen absolut Arme im Land, das ist ein Risiko für die soziale und politische Stabilität Italiens. Das wiederum kann ein Risiko für die Stabilität der Eurozone mit sich bringen. Mit ein bisschen Weitsicht würden die europäischen Institutionen Italien sofort eine Haushaltspolitik zugestehen, die das Wachstum stärken kann.

Die Regierung will vor allem die Sozialausgaben erhöhen, die in den Konsum fließen. Viele Kritiker merken an, so werde das Wachstum nicht gestärkt.

Ich stehe dieser Regierung nicht nah, ich nehme bloß eine ökonomische Bewertung vor. Es stimmt: Investitionsausgaben haben einen größeren Wachstumseffekte. Aber auch Sozialausgaben können Wachstum auslösen. Hinzu kommt: Bei Investitionen haben wir es von der Verabschiedung bis zur Realisierung mit weit längeren Fristen zu tun. Was die Regierung jetzt vorhat – frühere Verrentung eines Teils der Arbeitnehmer, dazu die Einführung einer allgemeinen Grundsicherung – kann durchaus starke Wachstumseffekte haben. Es kann Jobs für junge Arbeitnehmer bringen, die an die Stelle der Alten treten, Millionen Arme werden weit mehr ausgeben. Das geht in den Konsum. Die Industrien, die die Güter liefern, werden bei steigender Nachfrage investieren. Wie das funktioniert, konnten wir in den letzten Jahren in Portugal sehen. Dort wurden zum Beispiel die Gehälter im öffentlichen Dienst erhöht, dann stieg die private Nachfrage und in der Folge auch die privaten Investitionen.

Mit ein bisschen Weitsicht würden die europäischen Institutionen Italien sofort eine Haushaltspolitik zugestehen, die das Wachstum stärken kann

Antonella Stirati, Ökonomin

Die Kritiker einer expansiven Politik halten dagegen. Ihnen zufolge hilft es nicht, mehr auszugeben. Wachsen werde Italien erst, wenn es dafür sorgt, dass die Produktivität wieder kräftig steigt.

Aber die Entwicklung der Produktivität ist doch nicht von der Entwicklung der Produktion zu trennen! Das gilt gerade in der Industrie, einem für Italien zentralen Sektor. Mehr Produktion heißt mehr Investitionen, die wiederum die Fertigung modernisieren und so produktiver gestalten. Es stimmt, dass in Italien in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Produktivität nicht gestiegen ist. Aber vor allem, weil wegen der restriktiven Politik die Binnennachfrage nur sehr bescheiden anstieg. Die Folge: weniger Investitionen, weniger Produktivitätszuwachs. Natürlich gibt es weitere Baustellen, zum Beispiel die öffentlichen Investitionen in Bildung und Forschung. Die sind sind wegen der Sparpolitik seit 2007 um 20 Prozent gekürzt worden.

Welche Effekte kann der harte Konflikt zwischen der italienischen Regierung und der EU-Kommission nach sich ziehen?

Es mag sein, dass die Wachstumsschätzung der Regierung von 1,5 Prozent für 2019 übertrieben optimistisch ist. Aber auch beim von der Kommission erwarteten Wachstum von 1,2 Prozent hätten wir eigentlich keine dramatischen Konsequenzen zu befürchten.

Dennoch herrscht Alarmstimmung.

Und das ist der wirklich gefährliche Tatbestand. Die wichtigen Akteure an den Finanzmärkten sind meines Erachtens gar nicht durch den Haushaltsentwurf selbst beunruhigt, sondern durch den Konflikt, den er ausgelöst hat. Da waren auch die Erklärungen einiger Vertreter der europäischen Institutionen wirklich gravierend und gefährlich, weil sie die Finanzmärkte destabilisieren können. Daraus ergeben sich dann Konsequenzen für die italienischen Banken, Konsequenzen auch für die Höhe der Zinszahlungen, die Italien für seine Staatsschulden entrichten muss.

Im aktuellen Konflikt scheint die italienische Regierung auf Eskalation zu setzen. Anders als Portugals Regierung, die ebenfalls die Staatsausgabe erhöhte, sich Kritik von der EU-Kommission einhandelte, aber nie frontal Streit gesucht hat.

Die italienische Regierung wäre in der Tat gut beraten, ihren Weg zu gehen, ohne zu viel Krach zu schlagen. Leise Töne wären geratener – das gilt aber für beide Konfliktparteien.

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11 Kommentare

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  • ausserdem verstehe ich die ganze aufregung nicht. mit meinen grundkenntnissen der volkswirtschaftslehre ist das programm als nachfrageorientierte wirtschaftspolitik nach keynes ueberhaupt nichts ungewoehnliches und sogar angedacht und in krisenzeiten das richtige rezept. und in einer krise steckt italien. dass die lega keynesianer sind, glaub ich jetzt auch nicht, aber wenn´s hilft..

  • Man kann es sich immer als Ökonom alles einreden und Argumente für expansive Staatshaushalte finden. Aber die Wahrheit ist, wenn man zu viel ausgibt, fliegt es dem Staat früher oder später um die Ohren, sei es durch Inflation oder Instabilitäten im Währungsraum zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung. Wohlgemerkt, zum Ausgeben braucht es keine Doktrin, nur etwas Populismus.

    • @Ansgar Reb:

      es macht absolut sinn, was frau stirati sagt. sowohl oekonomisch, als auch gesellschaftlich. was hier der EU um die ohren fliegen koennte, ist italien, was aus den fugen geraet. soziale unruhen sind damit gemeint. es geht im ansatz schon los. der halbe sueden ist im ausstand. und was muss schon passieren, dass ueber 50% einer bevoelkerung extreme und unerfahrene parteien waehlen? das macht man, wenn man vor einer wand steht, und es so wie bisher einfach nicht mehr weiter geht.



      nur schade, dass die etablierten und gemaessigteren parteien es einfach nicht drauf haben und es partout nicht schaffen, die richtige politik zu machen. vor der lega graut´s mir, aber wirtschaftlich machen sie bisher alles richtig.

    • @Ansgar Reb:

      "Aber die Wahrheit ist, ..... "

      DAS ist nicht nur Blödsinn, sondern Populismus in Reinkultur für SICH die WAHRHEIT zu beanspruchen. Es hat noch nie einen Ökonomen gegeben, der seine Theorie mit der WAHRHEIT gleichgesetzt hat.

  • Ja: Dijsselbloem, Schäuble und (ja, auch der) Juncker sind die



    eigentlichen Totengräber der EU. Und wir Deutschen. Bitter.

    (das war @agerwiese, Eure Antwortfunktion macht mal wieder lustige Sachen)

    • @tomás zerolo:

      Es ist nicht die Reichswehr. Es ist das deutsche Wesen, das in Form der EU Europa beherrscht.



      Antonella Stirati weist ru Recht darauf hin, dass jede andere Regierung ebenso hätte handeln müssen. Und sie erklärt das mit Fakten, die Aufschluss geben über die italienischen Verhältnisse.

      Ja, Italien hat Verträge unterschrieben. Aber spätestens seit Griechenland und dem für die Griechen extrem desaströsen Ergebnis einer Diktatur der Finanzmärkte, hätte es innerhalb der EU einer radikalen Kurskorrektur bedurft. Und zwar im Sinne der Menschen und nicht der Banken.



      Griechenlands Verschuldung ist explodiert seit der Austeritäts-Diktatur.



      Und Italien wehrt sich gegen diese Diktatur. Die 5 Sterne sind keine Rechten. Dass sie ausgerechnet mit den Rechten gegen etwas ankämpfen, was bar jeder Vernunft ist, macht sie populär. Da hilft auch keine deutsche Beschimpfungaktion mit "Rechtspopulisten" u.s.w.

      • @Rolf B.:

        War nicht als Antwort an ZEROLO gedacht.

    • @tomás zerolo:

      Juncker ist ja so eine Art Hütchenspieler und Steuervermeider. Und dass ein Mann wie Dijsselbloem das ganze Regierungsprogramm einer Regierung wie in Griechenland canceln kann und die Demokratie außer Kraft setzt, indem er befiehlt, dass Renten und Sozialleistungen gekürzt werden, jedoch nicht der völlig übertriebene Verteidigungshaushalt, gibt Aufschluss über die realen Hintergründe.



      Die Totengräber der EU sind auch gleichzeitig die Totengräber der Demokratie. Und daran beteiligt sich DE ganz erheblich.

  • Das dumme an den "leisen Tönen" (und das auf beiden seiten) ist, dass sie der eigenen Klientel keinen Unterhaltungswert bringen.

    Unsererseits täten wir jedenfalls gut daran, diesen überaus naiven Ansatz zur Finanzpolitik (das nur denen dient, die viel auf dem Konto haben, das aber eben nur kurzfristig) zu überdenken.

  • Bei ökonomischen (und nicht nur) Diskussionen über Osten oder Süden wird gerne Deftiges auf einem Klischeetablet serviert. Paradebeispiel:



    inews.co.uk/news/w...oney-drinks-women/

    • @agerwiese:

      Okay, noch eine Schippe drauf also. Aber was kann es helfen Ihrer Ansicht nach, diesen Link zu verfolgen, werter AGERWIESE? Vermutlich können "die Süd-" und "die Osteuropäer" gar nicht so viel saufen auf EU-Kosten, wie sie kotzen möchten nach dem Lesen dieses Statements. Vor allem die weiblichen nicht.

      Dass die "gespendeten" EU-Gelder ausgerechnet für Frauen ausgegeben worden wären im Süden und Osten Europas, kann schließlich nur jemand behaupten, der nicht so genau hingesehen hat in den letzten Jahren. Ein holländischer Finanzminister etwa, der mit seinen eigenen Zahlen vermutlich mehr als genug zu tun hatte.

      Im Übrigen muss eine Presse, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist, einem Minister, der grade im Suff vor sich hin fabuliert, nicht unbedingt das Mikro unter die Nase halten. Schon gar nicht mit dem Ziel, den Erguss anschließend in die Welt hinaus zu posaunen. Es sei denn, sie verspricht sich vom Anheizen diverser Konflikte mehr, als von der Lösung anstehender Probleme.

      Mal abgesehen von solchen Stilfragen ist es natürlich müßig darüber zu streiten, wer rechter hat: Die EU mit ihrer Obergrenze oder Italien mit seinem Haushaltsvorschlag. Die nackte Zahl sagt nämlich gar nichts aus. Und darüber, was passiert, wenn man an der einen oder anderen Stellschraube dreht, können Experten lange streiten. Vor allem, wenn sie „die Wirtschaft“ in ihrer Komplexität gar nicht erfassen. Dann kann nicht mal die Zeit urteilen.