Inflation führt zu Streiks: Gute Konjunktur für Arbeitskämpfe

Die Inflation befeuert die Streikbereitschaft der Gewerkschaften – denn deren Mitglieder kämpfen mit Reallohnverlusten. Das erhöht den Druck.

Eine Taube an einer Bahnsteigkante.

Im ersten Halbjahr 2023 gab es so viele Streiks wie noch nie, hier während des Streiks der EVG im April 2023 Foto: Frank Hoermann/Sven Simon/imago

BERLIN taz | Auch wenn der Streik der Lokführergewerkschaft GDL besonders heftig und spürbar ist, dürfte er laut Streikforschern nicht der einzige härtere Tarifkonflikt sein, den es dieses Jahr gibt. Stefan Schmalz, der an der Uni Erfurt das Forschungsprojekt Streikmonitor leitet, ist sich sicher: „Viele Beschäftigte leiden nach wie vor unter Reallohnverlusten. Und dagegen müssen die Gewerkschaften etwas machen“, sagt der Soziologe.

Seit 2016 werden im „Streikmonitor“ alle Streikaktivitäten in der Bundesrepublik in einer Datenbank gesammelt. Für 2023 haben Schmalz und seine Kol­le­g*in­nen zwar die Zahlen noch nicht komplett ausgewertet, doch ein Blick auf das erste Halbjahr zeigt: Mit 154 Tarifkonflikten gab es in den ersten sechs Monaten 2023 so viele wie noch nie in einem Halbjahr seit Erhebung durch den Streikmonitor.

Reallöhne um 4 Prozent gesunken

„2023 haben die Gewerkschaften eine relativ hohe Mobilisierungsfähigkeit entfaltet“, sagt Schmalz. Das hänge ganz klar mit der hohen Inflation 2022 und 2023 zusammen, die wie ein „Sprengsatz“ bei Tarifrunden gewirkt habe. Eine Teuerungsrate von 6,9 Prozent im Jahr 2022 habe niemand vorgesehen, die Gewerkschaften standen also bereits vor den Verhandlungen unter großem Druck, die Reallöhne stabil zu halten. 2022 sanken diese im Schnitt um 4 Prozent. Und die Beschäftigten büßten bereits in der Coronakrise an Kaufkraft ein. Hinzu kam, so Schmalz, dass die Arbeitnehmer im Zuge des Fachkräftemangels durchaus auch selbstbewusster und teilweise auch konfliktfreudiger geworden seien.

Bei den im Streikmonitor dokumentierten Arbeitskämpfen handelte es sich zwar in erster Linie um sogenannte Häuserkämpfe, also Tarifverhandlungen auf Ebene einzelner Unternehmen. Das Jahr 2023 war aber auch von großen Auseinandersetzungen um Flächentarifverträge geprägt. So verhandelte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vor gut einem Jahr für die 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen. Die Forderung war historisch hoch. An den Warnstreiks beteiligten sich laut Gewerkschaftsangaben eine halbe Million Beschäftigte. Am Ende einigte sich die Gewerkschaft mit den öffentlichen Arbeitgebern auf einen Schlichterspruch, der tabellenwirksame Erhöhungen von bis zu 16,9 Prozent bedeutete.

Neben härteren Arbeitskämpfen, etwa bei der Deutschen Post, führte unter anderem auch die GDL-Konkurrenzgewerkschaft EVG massivere Warnstreiks durch. Laut Schmalz ist dies „auffällig“, weil die EVG als weniger konfliktbereit gilt als die GDL. Doch im März 2023 rief sie mit Verdi zum „Megastreik“ auf. Bundesweit legten die beiden Gewerkschaften gemeinsam an einem Tag im Nah-, Fern- und Flugverkehr die Arbeit nieder, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Stefan Schmalz, Streikforscher Uni Erfurt

Der Arbeitskampf der GDL ist damit „der erste Erzwingungsstreik in der Fläche seit der Energiepreiskrise“

Vor einer Sache schreckten EVG und Verdi letztlich zurück: die Tarifgespräche für gescheitert zu erklären und zu einem „echten“, einem Erzwingungsstreik aufzurufen. Dabei sind Erzwingungsstreiks die schärfsten Waffen der Gewerkschaften. Während mit Warnstreiks nur die allgemeine Streikbereitschaft deutlich gemacht wird, dienen „echte“ Streiks der Erzwingung eines Tarifvertrags.

Der Arbeitskampf der GDL ist damit „der erste Erzwingungsstreik in der Fläche seit der Energiepreiskrise“, sagt Streikforscher Schmalz. Bei der Post führte Verdi zwar eine Urabstimmung für einen Erzwingungsstreik durch, doch einigte sich die Gewerkschaft doch noch mit dem Konzern auf einen Tarifabschluss.

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