Impulstanz Festival in Wien: Das Unbewusste tanzt wieder mit
Das Impulstanz Festival in Wien gleicht einem Blick in die Glaskugel der Branche. Viele Künstler:innen suchen nach posthumanistischen Konzepten.
Etwas bewegt sich unter dem sattgrünen Moos. Ganz langsam schlängelt der Arm einer Performerin hervor, eine von vieren, die zwischen Totholz und allerlei Grünzeug liegen. Feuchtes Laub rieselt herab, kleine Wurzelballen vor den Augen richten den Blick nach innen. Die Natur schlägt zurück – nun auch im Tanz.
Die Bildsequenzen von der Performance der Salzburger Choreografin Lisa Hinterreithner täuschen. Hier wächst nichts mehr. „This is not a garden“ ist ganz buchstäblich Nature morte, ein Artefakt, das Denkräume öffnet. Restfeuchte und Geruch reichen immerhin aus, um jene „vegetal encounters“ hervorzurufen, die dem Körper von einer „menschlich-pflanzlichen Utopie“ künden.
Auch bei Dani Brown stehen Gattungsgrenzen zur Disposition. In „Pressing“ imaginiert die in Berlin lebende New Yorkerin Körperlandschaften „aus menschlichen und nichtmenschlichen Wesen“ von „floraler Üppigkeit“. Die müssen aber erst hervorgebracht werden in einem erhöhten psychophysischen Stoffwechsel von „Neurotransmittern, Hormonen, Körpergeweben und grundlegenden Wünschen“.
Ihre wort- und gestenreiche sowie musikalisch akzentuierte Performance heizt mit entblößtem Unterkörper diesen Metabolismus ordentlich an. Eine fröhliche Baubo demontiert die patriarchale Ordnung und die Hierarchie der Körperteile. Der üppige Blumenschmuck der Bühne zeigt sich davon doch ungerührt. Nur ein paar frisch geschlüpfte Schmetterlinge sorgen für poetische Flügelschläge.
Sehnsucht nach ungeformten Ursprüngen
Das sind nur zwei Positionen überwiegend jüngerer Choreograf:innen, die beim zu Ende gehenden Wiener Impulstanz Festival in unterschiedlichen Reflexionsgraden am posthumanistischen Zeitgeist ankoppeln. In der Behauptung, Natur nicht mehr als Objekt zu behandeln, wähnt sich dieses Denken schon nah an ihren Geheimnissen. Dafür sucht es die Antworten auf das, was Gesellschaft an den Körpern, ihrer Verletzlichkeit und ihrem Begehren zurücklässt, gern wieder im Unbewussten einer gemeinsam geteilten Natur.
Wo das Soziale und die Deformation der Macht waren, tritt im Diskurs der Sexualität die Sehnsucht nach ungeformten Ursprüngen, aus denen ein vergessen geglaubter überindividueller Elan vital aufsteigt oder, wenn man so will, der „Erdgeist“ eines neuen Jugendstils.
Die in Paris lebende und aus Athen stammende Choreografin Lenio Kaklea treibt das Unbehagen an der Kultur in „Agrimi (Fauve)“ auf der Suche nach dem „Ungezähmten“ tief in den Wald der Sinnsuche hinein. Hier verbinden sich „Legenden der Jagd“ mit Assoziationen von Tanz und Sexualität.
Das wäre grundsätzlich interessant, repräsentieren doch Artemis beziehungsweise Diana, die Jagdgöttinnen der Antike, ein verborgenes Bild von Sexualität, die noch nicht von der patriarchalen Ordnung formatiert ist, weswegen sie biedere Altphilologen als „jungfräulich“ übersetzen. Was Überschreitung aber vorstellt, endet in beschaulichen Schreittänzen dreier Faunwesen in einem shakespeareschen Sommernachtsidyll.
Hatte der belgische Countertenor und Regisseur Benjamin Abdel Meirhaeghe Tage zuvor noch ein mitreißendes Konzert gegeben, sammelt er für „Madrigals“ acht nackte, aber durchweg zahme Mänaden beiderlei Geschlechts, die nur mit dem schwarzen Band ihres Mikrofonsenders um den Oberkörper bekleidet sind, zum „utopischen Ritual“ einer „dionysischen Gemeinschaft“ um ein Lagerfeuer im Wiener Volkstheater.
Die Geburt einer neuen Gesellschaft aus dem Atem gemeinsamer Sangeslust weckt mit Livebegleitung und den Prospekten eines barocken Maschinetheaters Schaulust und die bange Frage, ob man die Pforten zu solchen Weihen wirklich durchschreiten möchte.
Private Mythologien
Im imaginierten Naturzustand kann die Kreatur nur aus sich herausschreien, auf der Bühne bleibt die Kunst Selbstdarstellung und die Schöpfung privater Mythologien. Luca Bonamore und Lau Lukkarila versprechen in „Lapse and the Scarlett Sun“ einen „metaphysischen Gefühlswirbel“. Das Genderfluide ihrer Gesangsperformance bleibt das seltsame Privatissimum einer Paarkonstellation.
„What is at the core of sex?“, fragen Olivia Axel Scheucher, Nick Romeo Reichmann und ihre beiden Mitperformenden in „Fuge Four: Response“, einer Produktion im Wiener Volkstheater, die auch im Heidelberger Stückemarkt vertreten war. Die kursorische Lektüre von politökonomischen Klassikern gibt zum Teil die Antwort selbst. Wo alle Lebensbereiche von Tauschprinzip und Verwertungszwang durchdrungen sind, bleibt auch Sexualität entfremdet.
All diese theoretischen Figuren sind bei Impulstanz keine Folge einer kuratorischen Richtungsentscheidung. Mit zugespitzten Programminhalten die Diskurshoheit auf den angesagten Theoriemärkten zu erkämpfen, ist eher die Erhaltungsstrategie kleinerer und marginaler Einrichtungen, wie sie das institutionelle Feld im zeitgenössischen Tanz sonst bevölkern.
Tanz in seiner Gesamtheit
Dafür ist das Festival in seiner 40. Ausgabe schlicht zu groß – mit 68 Produktionen, 148.000 Zuschauenden, umfangreichem Film- und Diskursprogramm und den über 120 Kursen zur breiten Partizipation von Tanzinteressierten aller Länder und Befähigungsgrade. In der ästhetischen Ausrichtung ist Impulstanz traditionell vielstimmig, lebt von den Korrespondenzen und Spannungen seiner Programminhalte.
Doch das Festival ist seit Jahren auch eine Art von Glaskugel für die Branche, es leistet noch etwas, das in anderen Künsten schon lange nicht mehr möglich ist. Es versucht noch immer erfolgreich das Kunstwollen im Tanz in seiner Gesamtheit im Programm kenntlich zu machen. In diesem Jahr umfasst es ein Spektrum von den Heroen der Postmoderne Lucinda Childs und Robert Wilson über Werkschauen von Protagonist:innen der Entwicklung seit den 1990ern wie Jérôme Bel und Meg Stuart bis hin zu aktuellen Produktionen, die unter dem Begriff des Zeitgenössischen immer schwerer einzuordnen sind.
Dass in der kleinen, doch vollends aufgeklärten Welt des zeitgenössischen Tanzes neue Mythen entstehen, ist eine neue Erkenntnis. Das ist erst mal weder gut noch schlecht, nur überraschend. War der Tanz doch seit den 1990ern die analytischste aller Künste. Hier wurde dem darstellenden Körper alle Selbstverständlichkeit ausgetrieben. Man erforschte minutiös seine gesellschaftlichen Einschreibungen und Identitätskonstitutionen, betrieb die Reflexion der Aufführungssituation, bis kein Stein mehr auf dem anderen blieb.
Gegenposition gab es trotzdem. Die Wiener Performerin Akemi Takeya arbeitet weiter an ihrer „Lemonism“-Serie, die sich mit theoretischer Disziplin und hartem Körpereinsatz an der Kunstmoderne seit Duchamp und dem Aktionismus von Yoko Ono bis Marina Abramović auseinandersetzt. Spätestens die Aufführung von „Black Light“, einer Arbeit von Mathilde Monnier mit acht Tänzerinnen über die subtilen Wirkungen des alltäglichen allgegenwärtigen Sexismus, bringt die Gewissheit zurück, dass es im Tanz doch noch so etwas wie Gesellschaft gibt.
Ein rauschendes Fest
Finale Versöhnung von allen mit allem schenkten zwei Wiederaufnahmen und eine neue Arbeit von Trajal Harrell. „Monkey off My Back or the Cat’s Meow“ ist wiederum ein Laufstegstück mit großem Ensemble, wie er es in Zürich während der kurzen Blüte des dortigen Schauspielhauses hat aufbauen können.
Auf den klaren Linien Mondrians wird ein rauschendes Fest gegeben, für die Freiheit, eines über den Text der Unabhängigkeitserklärung just in dem Moment, in dem die amerikanische Demokratie auf der Kippe steht. Harrell feiert Sätze, mit denen schwarze Menschen und First Nations nie gemeint waren, deren Freiheitsversprechen aber weit über den Horizont seiner Verfasser hinausweist.
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