Meg Stuarts „Celestial Sorrow“: Gib mir dein Schaudern

Meg Stuarts „Celestial Sorrow“ im Berliner HAU geht es um den Balanceakt des Lebens. Bald wird der belgischen Tanzgruppe die Finanzierung gekürzt.

Eine Frau greift hinter sich einem Mann ins Gesicht unter vielen Glühbirnen

Unter dem Glühbirnenhimmel von Jompet Kuswidananto in „Celestial Sorrow“ Foto: Laura Van Severen

Es gibt zwei Arten von Smalltalk: die der Selbstgewissen, die mit einer prononcierten Stimme, als wüsste sie alles vom Leben und von Konversation, in jedem Satz eine Pointe setzen. Und die von Zweiflern, die eher wie Seiltänzer über einem Abgrund von Hintersinnigkeiten, Fehlleistungen und Lapsus balancieren und sich bei jedem Gespräch einen Arm brechen, wenn niemand sie auffängt. Und Mischformen und stimmungsabhängige Switches gibt es natürlich auch.

In Stücken von Meg Stuart, auch in ihrer jüngsten Berlin-Premiere „Celestial Sorrow“ am HAU 2, sind es eher die Seiltänzerexistenzen, die wirken, als hätten sie sich strauchelnd, fallend, verwundet, verwundert, verzweifelt, mit spielerischem Vertrauen genauso wie mit der Hingabe an exiszentielles Scheitern in etwas hineingebrabbelt.

Sehr tief verbrabbelt und doch nicht tief genug, damit eine Philosophie daraus würde. Oder zu quirlig dazu, mit dem Wissen, dass es keine Philosophie des Überlebens gibt, sondern nur Überleben. Es ist immer ein abgründiges Brabbeln – in Worten, Zuständen, Bewegungen, Ritualen, Beschwörungen – bei Meg Stuart, ein Sich-in-Bewegung-Halten, ein Sich-im-Arm-Halten, ein Den-Ball-im Spiel-Halten und eine Angst, all das zu verlieren.

Wie begründet diese Angst auch auf materieller Ebene sein kann, bewies die flämische Politik der letzten Monate. Der neue Ministerpräsident kürzte in einer populistischen Attacke auf Kunst und Kultur auch Meg Stuarts bereits unter einer demokratisch berufenen Kommission der Vorgängerregierung zugeteiltes fünfjähriges Produktionsbudget kurzerhand für die restlichen zwei Jahre der Laufzeit um 6 Prozent.

Existenziell gefährdet

Das entspricht den Kosten einer gesamten Produktion. Die Produktionen für 2020 sind allerdings schon längst geplant und die Vorarbeiten im vollen Gang. Stuarts Management bleibt daher nichts, als die Option eines Defizithaushaltsjahrs in Erwägung zu ziehen.

Es sei denn, die flämische Regierung rudert ob der anhaltenden Proteste, die noch weit krassere Einschnitte wie eine 60-prozentige Projektmittelkürzung betreffen, doch noch zurück. Ansonsten werden die innovative Kunst-und-Performance-Szene Belgiens, das Einzige, was dieses europäische Land neben seinem brutalen Kongo-Kolonialismus je weltweit bekannt gemacht hat, nicht klanglos, sondern mit einem großen letzten Krach den Orkus hinabgehen.

Sich vorzustellen, dass Stücke wie das am Brüsseler Kaaitheater uraufgeführte „Celestial Sorrow“ in Zukunft nicht mehr produziert werden können, bedeutet schlicht weniger Leben. Weniger Balancie­ren. Weg frei, für alle, die schon alles wissen. Abgrund frei, für alle, die noch suchen.

Abgrund frei für diese vielleicht beste Rolle, die Jule Flierl je performt hat. Nie war die Berliner Stimmtänzerin so in ihrem Element wie in dieser Dreierkon­stellation mit Claire Vivianne Sobottke und Gaëtan Rusquet. Mit Sobottke teilt sie eine Existenz zwischen Tramp und Vamp, sie in genderneutraler Schichtengarderobe mehr das eine, jene mit trotzig freier Schulter mehr das andere, sie eher schamanenhaft beherrscht, jene eher exorzistisch hingegeben.

Unter dem Glühbirnenhimmel

Es beginnt mit langsamen Drehungen, die im Mittelpunkt der Erde anzusetzen scheinen, bei geschlossenen Augen und unter dem etwas zu dekorativen Glühbirnenhimmel (1.200 Stück) des bildenden Künstlers Jompet Kuswidananto. Die Brüste heben sich, verstärkte Atemgeräusche mischen sich mit den liegenden Schweltönen von Ikbal Simamora Lubys’ E-Gitarre, werden in Mieko Suzukis Life-Soundscape Teil einer Atmosphäre, in der sich die Aura von Flora und Fauna, Geistern und Materie mischt und beschläft.

Aus dieser Sphäre scheint Jule Flierls skulpturales gesangliches Brabbeln zu kommen. Ihr durch somatische und gesangliche Techniken trainierter Stimmapparat dehnt sich im Körper, im Raum aus, es knarzt, es jault, es echot, es donnert, es stürmt in der Stimme.

Mongolischer Kehlkopfgesang trifft auf Death ­Metal, Schamanismus auf Punk, und doch ist es etwas Eigenes, aus dem Moment Geschaffenes und im Moment Austariertes, der Schönheit des Schrecklichen eher als der des Lieblichen hingegeben. Aus der Beherrschung heraus ohne Angst, trotzdem aber als Gratwanderung des Kräftemessens. Schrecken, gib mir dein Schaudern, ich geb dir meines.

Besonders Jule Flierl und Gaëtan Rusquet beherrschen, beide tief geerdet, eine Gegenrhythmisierung von Suzukis Klanglandschaft, während Sobottke eher das wirbelnde, taumelnde Disco Girl gibt. Rusquet rudert sich gegen die Strömung durch den Raum, Flierl stampft und kickt, legt den Oberkörper in die Waage, lehnt sich nach vorn, bricht nach hinten weg, eine elastische Off-Balance die den Boden sich in Resonanz wölben lässt.

Das Best-of einer DDR-Kindheit

Und zwischendrin, wenn über intime Fotos aus dem Archiv der Performer*innen geplaudert wird, gibt sie wieder ein lakonisches Best-of ihrer DDR-Kindheit preis: die in die Brennnesseln hängenden Brüste ihrer FKK-Gartenoma. Ein Bild, das man nicht gesehen haben muss, um es ins kulturelle Gedächtnis eingehen zu lassen, DDR-Oma, made in Flanders.

Es gelingt nicht jede Nuance der Performance. Die punktuelle Einbeziehung des Publikums fühlt sich nicht freilassend genug an, der Alu-Glitzerpelz von Sobottke gehört inzwischen in die Mottenkiste performativer fanciness, der Bezug von Kuswidanantos Glühbirnen erschließt sich nicht ganz, auch wenn sie ein schönes Licht geben.In der zeitgleich entstandenen Installationen „On Paradise“ hat der bildende Künstler von der Decke gestürzte Lüster als Metapher für die einstige indonesische Rebellion gegen die Kolonialherrn über den Boden verteilt.

„Celestial Sorrow“ ist im Kontext der Brüsseler Europalia-Biennale entstanden, wo Indonesien 2017 Gastland war. Vielleicht verweist das hängende Lichtermeer nun darauf, dass nicht alle Sterne vom Himmel gefallen sind, und spricht gleichzeitig eine Einladung aus, Trauma und Heilung gemeinsam anzugehen.

Nach Gitarrenriffs und einem faszinierenden Vamp-Solo schiebt Claire Sobottke als Mutter Courage im Himmel einen Lichterwagen herein, es wird ein populäres indonesisches Lied gesungen, wie vorsichtig die Einladung annehmend, mit dem Wissen um den Unterschied zwischen Poesie und Budenzauber.

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