Ikonisches Attentats-Foto: Ein Jackpot, aber für wen?
Vom Attentat auf Trump kursiert besonders ein Foto – dabei zeigt es nur einen winzigen Aspekt. Ikonische Fotografie kann Komplexität nicht erfassen.
V ergangenes Wochenende entstanden Bilder, die jetzt schon ikonisch zu nennen sind. Natürlich ist die Rede von der versuchten Ermordung Donald Trumps in Pennsylvania. Eine Reihe von Pressefotografen war vor Ort, und es wurden viele Fotos gemacht, von denen insbesondere eines weit verbreitet wurde: Von unten fotografiert, zeigt es Trump von Sicherheitsbeamt:innen umgeben. Im Hintergrund weht die amerikanische Fahne vor einem tiefblauen Himmel. Trump hat eine Faust gereckt, und sein Blick geht vermeintlich in die Ferne. Es ist ein Bild von Stärke und Macht.
Livemitschnitte des Ereignisses zeigen freilich etwas ganz anderes: Sie zeigen Chaos. Trump, der auf dem Foto so stark wirkt, ist offensichtlich verwirrt. Er scheint unter Schock zu stehen. Die gereckte Faust wirkt zunächst halbherzig, auch wenn sich die Gestik wiederholt.
Genau das ist Fotografie und genau das macht Fotografie: Sie greift aus dem nicht enden wollenden Kontinuum der Zeit einzelne kurze Augenblicke heraus, die Anwesende in dieser Form vielleicht gar nicht bemerkt hätten. Evan Vucci beschrieb einen Tag später im Guardian, wie er das Bild aufnahm. Dabei sandte seine Kamera seine Bilder direkt an die Redaktion – erst 45 Minuten später sah er sein Foto in sozialen Medien. In dem Artikel besprechen Vucci und diverse Redakteure das Bild. Ein solches Bild fotografiert zu haben, beschreiben sie als „Jackpot“, also als Hauptgewinn. Die Komposition des Bildes sei fantastisch, so Carly Earl, eine Bildredakteurin.
Wenn sich Studierende an einer Kunsthochschule mit Fotografie beschäftigen, lernen sie als Erstes, zwei Aspekte eines Fotos zu betrachten. Zum einen die Form eines Bildes. Darunter fällt seine Komposition. Und dann gibt es aber auch noch den Bildinhalt: Was genau zeigt das Bild? Und wie verbinden sich Form und Inhalt, um den Gesamtausdruck eines Fotos zu kommunizieren?
Im Guardian-Artikel gibt es keine tieferen Überlegungen darüber, was genau das Foto zeigt, was es bedeuten könnte, was es bewirken könnte. Wie kann das sein? Konkreter gefragt: Wie kann es sein, dass sich Menschen, deren Beruf es ist, sich mit Fotografien kritisch auseinanderzusetzen, in so einem Augenblick den vielleicht wichtigsten Aspekt des Bildes ignorieren: Welche Wirkungsmacht wird dieses Bild eines Mannes haben, der bereits einmal versucht hat, die demokratischen Prozesse seines Landes während einer tiefen politischen Krise aufzuhalten?
ist Fotograf und Autor und lebt in Northampton, Massachusetts, USA. Er bietet Fotoseminare an und betreibt den Blog cphmag.com.
Anders gefragt: Wäre es nicht geboten gewesen, ein anderes, weniger dramatisches Bild auszuwählen? Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Foto eines Schuhs, den Trump auf der Bühne verloren hatte. Die tiefe politische Krise der USA betrifft alle Bürger:innen. Das beinhaltet auch Fotograf:innen, Bildredakteur:innen und andere Journalist:innen. Die Idee eines unparteiischen Journalismus, so gut sie auch gemeint ist, versagt in dem Augenblick, in dem die Demokratie auf dem Spiel steht und, um das nebenher noch zu erwähnen, die freie Presse von Leuten wie Trump als Feind bezeichnet wird. Als vermeintlicher Feind neutral sein zu wollen, ist bestenfalls naiv. Ich halte es für grob fahrlässig.
Wenn überhaupt etwas geboten wäre nach einem solch dramatischen Ereignis, dann ist es Nachdenken und Innehalten. Das Trump-Foto regt nicht zum Nachdenken an. Stattdessen hält es Betrachter:innen vom Nachdenken ab – und vertieft die Spaltung des Landes nur noch weiter. Aber die Diskussionen über das Bild und die Tatsache, dass sich so viele Pressevertreter:innen des Problems gar nicht bewusst sind, spiegeln auch wider, in welchem Maße Pressefotografie noch immer in einem veralteten Modell gefangen ist. In einer Zeit komplexer Multikrisen ist es schlichtweg absurd, ein Ereignis auf ein einzelnes Bild reduzieren zu wollen.
Diskussionen über ikonische Bilder sind ein Ausdruck einer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Modell des heroischen Fotojournalisten entstand, der unter Einsatz seines Lebens dramatische Fotos produziert. Genau dieses Modell wird angewandt, wenn die Organisation „World Press Photo“ jedes Jahr die „besten“ Pressebilder auszeichnet. Das Problem ist nicht, dass die Fotos schlecht sind oder dass sie nicht das bebildern, was sie darzustellen haben. Das Problem ist die Unterkomplexität, die daraus resultiert. Insbesondere ikonische Bilder reduzieren ein komplexes Thema oder Ereignis oft auf eine leicht begreifbare Ebene, die wichtige Aspekte ausklammert.
Was ist der Kontext?
Freilich ist unsere kollektive Sehnsucht, ein ikonisches Bild zu sehen, Ausdruck unserer Verzweiflung, wenn zu viele Details und Aspekte ein Thema zu komplex machen. Wenn wir doch wenigstens das eine Bild hätten, das alles zeigt! Das kann Fotografie aber eben zumeist nicht leisten. Das Innehalten, das wir dringend benötigen, um mit den Multikrisen umgehen zu können, muss dort anfangen, wo die Flut der Informationen eintrifft, ausgewählt und dann beschrieben wird. Das betrifft Fotograf:innen, Bildredakteur:innen und andere Journalist:innen. Fotos sollten nicht nach vereinfachten Aspekten ausgewählt werden, egal wie gut die Komposition auch sein mag. Jackpots gehören in Casinos und nicht in seriöse Bildredaktionen.
Stattdessen müssen sich alle Beteiligten die Frage stellen, was – noch mal – für eine Wirkungsmacht ein Bild hat und was es zum Verständnis des Gesamtkontextes beitragen kann. Dies mag absurd erscheinen in einer Welt, in der es eine Flut von Bildern gibt. Aber wer, wenn nicht die Menschen, deren Beruf es ist, Bilder zu machen und zu verstehen, sollte in der Lage sein, wegweisend aufzutreten, um uns allen zu helfen, die Welt der Bilder besser zu verstehen? Wie wir am Wochenende lernen mussten, sind viele dieser Menschen leider dazu nicht in der Lage. Die Quittung dafür wird die Welt womöglich 5. November bei den Präsidentschaftswahlen bekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren