Idlib-Offensive in Syrien: Katastrophe mit Ansage
In Syrien entfaltet sich genau das, wovor seit Jahren gewarnt wird. Eigentlich läuft alles nach Plan. Doch der Plan ist ein Desaster.
Das Video aus der syrischen Provinz Idlib geht dieser Tage in sozialen Netzwerken viral. Abdullah al-Mohammed, der syrische Vater, hat es selbst aufgenommen. Das Lachspiel habe er sich ausgedacht, um seiner Tochter die Angst zu nehmen, erklärt er später, als ihn Journalisten in Idlib aufsuchen – um den Krieg für seine Tochter in ein Spiel zu verwandeln.
Wäre der Krieg in Syrien tatsächlich ein Spiel, so ginge die Partie jetzt in ihre letzte Runde. Der Sieger hätte seinen Gegner so weit in die Ecke gedrängt, dass er jetzt nur noch zuschlagen müsste, die gegnerischen Spielfiguren vom Brett kicken und seine Überlegenheit genüsslich auskosten könnte. Doch der Konflikt, der bald in sein zehntes Jahr geht, ist kein Spiel. Baschar al-Assad ist ein Kriegsherr, der sich noch immer Präsident nennen darf – 400.000 Toten zum Trotz und ungeachtet der Tatsache, dass fünf Millionen Menschen ins Ausland fliehen mussten und weitere sechs Millionen innerhalb Syriens vertrieben wurden.
Seine verbliebenen Gegner hat Assad in die Ecke gedrängt. Über Jahre hat er, sobald seine Truppen ein von Aufständischen gehaltenes Gebiet zurückerobert hatten, Kämpfer jeglicher Couleur samt ihren Familien per Reisebus in den fernen Nordwesten des Landes geschafft. In Idlib hat er sie zusammengepfercht, sie auf einem Gebiet nur halb so groß wie Schleswig-Holstein konzentriert. Hatte die Region vor dem Krieg rund eineinhalb Millionen EinwohnerInnen, lebten zwischenzeitlich rund drei Millionen allein in den von Rebellen kontrollierten Gegenden Idlibs.
Erdoğan droht mit neuer Syrien-Offensive
Trotzdem kann der 54-Jährige jetzt nicht einfach abräumen, den Gegner für geschlagen und den Krieg glaubhaft für beendet erklären. Zwar zweifelt niemand an seinem immer wieder erklärten Willen, ganz Syrien zurück unter die Kontrolle von Damaskus zu bringen. Mit den Iranern und vor allem den Russen, die seit Herbst 2015 mit eigenen Truppen und ihrer schlagkräftigen Luftwaffe direkt in den Konflikt eingreifen, hat er auch die nötige Unterstützung.
Aber auf seinem Feldzug in Idlib, der nun letzten Anti-Assad-Hochburg Syriens, stellt sich ein anderer Player den Regimetruppen immer entschiedener entgegen: die Türkei, die mit Idlib eine Grenze teilt. Dies seien „die letzten Tage“ für das syrische Regime, um seine Aggression zu stoppen, erklärte Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Mittwoch gewohnt großspurig.
Damit bekräftigte der türkische Präsident ein Ultimatum, das er schon Anfang Februar ausgesprochen hatte: Sollten sich die syrischen Truppen bis Monatsende nicht zurückziehen auf die Grenzen vor Beginn des jüngsten Vormarschs im April 2019, würde er – erneut – mit einer großangelegten Militäroffensive in Syrien intervenieren. „Die Idlib-Operation ist eine Frage des Augenblicks“, drohte Erdoğan. Die Türkei werde Idlib nicht der syrischen Regierung und ihren Unterstützern überlassen.
Tatsächlich hat die türkische Regierung in den letzten Wochen massenweise Kriegsgerät nach Idlib schaffen lassen. Damit stehen sich die türkische und syrische Armee nun direkt und schwer bewaffnet gegenüber. Am Donnerstag erst wurden wieder zwei türkische Soldaten getötet, nachdem die Situation schon Anfang des Monats eskaliert war. Mit dem jüngsten Vorfall starben diesen Monat 15 türkische Soldaten im Nachbarland. Ankara reagierte mit Vergeltungsschlägen. Glaubt man dem Verteidigungsministerium wurden allein am Donnerstag mehr als 50 syrische Soldaten getötet.
Aber die Türkei hat auch reichlich Verbündete in Idlib. Seit Jahren arbeitet sie eng mit mehreren teils islamistischen Milizen zusammen, die in der Region das Sagen haben. Sie tragen Namen wie Ahrar al-Scham, Ansar al-Tauhid oder Islamische Turkestan-Partei. Den Großteil der Kämpfe gegen die Assad-Truppen aber führt die Rebellengruppe Hai'at Tahrir al-Scham (HTS) aus, die weite Teile des Rebellengebiets kontrolliert.
HTS und ihre Verbündeten hatten vor Großoffensive des Regimes fast ganz Idlib unter ihrer Kontrolle. Eine in den Rebellengebieten installierte Gegenregierung, die sogenannte „Heilsregierung“, gilt als politischer Arm von HTS. Sie sorgt für Strom und Wasser und übernimmt zumindest teilweise grundlegende staatliche Dienstleistungen.
So brutal wie einst der IS in Syrien ist HTS nicht und verfügt auch bei weitem nicht über die gleiche globale Anziehungskraft. Doch auch HTS hat ein autoritäres Regime errichtet. In den hochwertigen Propagandavideos der Miliz werden keine Köpfe auf Zaunpfosten gespießt, stattdessen posieren bärtige Kämpfer diszipliniert für die Kamera, beten und lesen den Koran, bevor sie in den Kampf ziehen. Aus ihrer dschihadistischen Gesinnung machen auch sie keinen Hehl.
170.000 Menschen ohne Dach über dem Kopf
Die Zivilbevölkerung in Idlibs Rebellengebiet ist das bevorzugte Angriffsziel der russischen und syrischen Luftwaffe. Seit Beginn der Offensive hat das Assad-Regime rund 40 Prozent des ursprünglich von Aufständischen kontrollierten Gebiets zurückerobert, immer nach demselben Schema: Luftangriffe zerstören Märkte, Schulen und Krankenhäuser, treiben die Zivilisten in die Flucht und desorganisieren die Rebellen, dann rücken Bodentruppen vor.
Auf dem stetig schrumpfenden Gebiet zwischen der geschlossenen Grenze zur Türkei und den vorrückenden Assad-Truppen sind mehrere Millionen Zivilisten gefangen. Allein seit Anfang Dezember wurden 900.000 Menschen, darunter mehr als eine halbe Million Kinder, vertrieben – viele nicht zum ersten Mal; Hunderttausende waren zuvor aus anderen Landesteilen geflüchtet oder nach Idlib gebracht worden.
Hinzu kommen eisige Temperaturen, teils unter dem Gefriergebiet. In sozialen Medien machen Bilder von toten Kindern die Runde, die offenbar durch Kälte gestorben sind. Auch Mark Lowcock, der UN-Nothilfekoordinator, bestätigte am Mittwoch: „Ich erhalte täglich Berichte über Säuglinge und andere kleine Kinder, die in der Kälte sterben.“ Am Donnerstag teilten die UN mit, dass 170.000 Menschen „unter freiem Himmel oder in unfertigen Behausungen“ lebten. Aber auch in den Notlagern sei die Lage katastrophal. Von der „schlimmsten Flüchtlingskrise“ seit Ausbruch des Kriegs 2001 spricht die Welthungerhilfe.
Mark Lowcock, UN-Nothilfekoordinator
Die UN haben alle beteiligten Länder aufgerufen, die Kämpfe einzustellen, damit sich die Menschen in Sicherheit bringen können. Auch die EU, die das Spielfeld seit langem der Türkei und Russland überlassen hat, forderte in der Nacht auf Freitag einen sofortigen Stopp der Regimeoffensive auf Idlib. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wollen sich wegen Idlib nun mit Wladimir Putin und Erdoğan treffen.
Macron sagte, in Idlib spiele sich „eines der schlimmsten humanitären Dramen“ ab. Überraschen dürfte das die Europäer allerdings überhaupt nicht. Seit dem entschiedenen Eingreifen Russlands war abzusehen, dass Assad seine Ankündigung ganz Syrien zurückzuerobern auch in die Tat umsetzen würde. Und dass die Türkei die Grenze zum Nachbarland hermetisch abriegelt und kaum noch jemandem die Flucht gelingt, geschieht in vollstem Einverständnis und mit großzügigen Geldzahlungen der Europäer.
Mit jedem Reisebus der vergangenen Jahre, der Kämpfer nach Idlib „evakuierte“, mit jedem oppositionellen Aktivisten und jeder syrischen Familie, die in Idlib Schutz suchte, drängte sich die immer gleiche Frage auf: Wie wird dieses Spiel bloß ausgehen?
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