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„Ich hätte einen Unterschied gemacht“

Gesine Schwan kandidierte zweimal als Bundes­präsidentin. Es wurde nichts, sie blieb in der Wissenschaft. Heute blickt sie dankbar zurück – und macht weiter. Ein Gespräch über die Krise der Demokratie, eine späte Liebe und den Tod

„Für andere da zu sein ist die beste Selbst­erfüllung“: Gesine Schwan in ihrem Haus im Südwesten Berlins

Von Matthias Kalle und Antje Lang-Lendorff (Gespräch) und Sophie Kirchner (Fotos)

An einem Mittwochvormittag bittet ­Gesine Schwan an ihren weißen Küchentisch in Berlin-Nikolassee. Ein Altbau mit hohen Decken, der Blick geht hinaus auf die Holzterrasse und in den Garten. Draußen leuchtet das letzte Herbstlaub in der Sonne. „Wasser oder Kaffee?“, fragt sie und hantiert an der Sprudelmaschine, normalerweise bedient die ihr Mann, 87, aber der ist gerade bei einer Konferenz in China. Gesine Schwan selbst ist 82. Wir sind verabredet, um über das Altwerden zu sprechen. Während des Interviews ist sie so offen und zugewandt, als würden wir uns schon lange kennen.

taz: Frau Schwan, was hilft beim Altwerden am besten: Humor? Neugier? Arbeit?

Gesine Schwan: Es braucht von alldem etwas. Ich habe keine spezifische ­Strategie, um gut alt zu werden. Ich habe nur eine Frage: Was kann ich aus dieser Phase meines Lebens am sinnvollsten machen?

taz: Und?

Schwan: Der Vorteil im Alter ist ja, dass man sehr viel erlebt hat, auch schwierige Zeiten. Mein erster Mann hatte drei Jahre lang Krebs, dann sein Tod, das war keine Kleinigkeit, die Kinder waren damals 12 und 14. Als alter Mensch weiß man, es wird auch wieder etwas anderes kommen, man entwickelt eine gewisse Gelassenheit und kann dadurch anderen Ruhe und Sicherheit geben. Jetzt bin ich ja noch ziemlich mobil und mache alles Mögliche. Aber ich frage mich schon, wie es ist, wenn ich 100 bin. Ich will es nicht werden, aber wenn doch, was kann ich dann noch Sinnvolles tun? Ich möchte nie in die Situation kommen, dass ich nur die Alte bin, die man besuchen muss. Was bleibt, ist, die eigenen Fähigkeiten so anzuwenden, dass sie immer noch für andere etwas bedeuten.

taz: Erfüllend ist für Sie, anderen etwas zu geben?

Schwan: Unbedingt! Für andere da zu sein, ist die beste Selbsterfüllung. Nichts ist nachhaltiger für das eigene Wohlbefinden, da bin ich ganz von überzeugt.

taz: Ist das eine Erkenntnis, die mit dem Alter kam?

Schwan: Nein, das habe ich von meinen Eltern. Mein Bruder und ich, wir sind anständig weltanschaulich be­feuert worden. Meine Mutter war Fürsorgerin, heute würde man Sozialarbeiterin sagen. Sie hat mir früh schon mitgegeben: Achte darauf, dass niemand allein außen steht. Sie kannte das Wort Inklusion nicht, sie hatte auch kein Abitur. Aber das hat sie mir tief eingepflanzt. Ich war Klassensprecherin auf dem Französischen Gymnasium hier in Berlin, da kriegten wir immer mal neue Schülerinnen. Ich habe mich in den Pausen sofort mit ihnen unterhalten. Eine von ihnen habe ich 40 Jahre später wiedergetroffen. Sie sagte: Du, Gesine, hast mich reingeholt, das werde ich nie vergessen. Das war ganz klar die Botschaft meiner Mutter: Man soll niemanden alleine stehen lassen.

taz: Und das begleitet Sie bis heute?

Schwan: Ja. Ich sehe mich im Alter nicht anders als früher, ich habe auch keine andere Philosophie als früher. Was deutlich anders ist, ist die Physis. Ich kann beispielsweise nicht mehr rennen. Ich dachte, Mensch, das konntest du doch. Es geht nicht mehr.

taz: Belastet Sie das?

Schwan: Erst mal ist das eine Enttäuschung, aber dann begreift man es. Man sollte sich nicht nur damit arrangieren, zu einem guten Umgang gehört, sich damit zu versöhnen. Bei meinem Mann war das schwer, er hatte einen Reitunfall und kann seitdem seinen linken Zeigefinger nicht mehr heben. Er hat früher sehr gut Klarinette, auch Flöte und Gitarre gespielt. Als er plötzlich merkte, dass er das nicht mehr konnte, hat er geweint. Aber er hat es akzeptiert. Immerhin bleibt ihm noch das Saxofon. Wir leben das Alter sehr bewusst und dankbar zu zweit. Wir freuen uns an allem, was wir noch können.

taz: Nichts ist mehr selbstverständlich?

Schwan: Um uns herum können sie nicht mehr verreisen, müssen ins Altenheim oder sterben weg. Wir müssen akzeptieren, dass die Dinge weniger werden, wie bei meinem Mann und seiner Musik. Dass er damit nicht hadert, das rechne ich ihm hoch an. Ich sage ihm auch immer wieder meine Hochachtung. Denn es ist viel ein­facher, seine Talente auszuspielen, als zu sehen: Die Talente gehen weg.

taz: Wie sieht Ihr Alltag aus?

Schwan: Ich mache alles ein bisschen langsamer. Aber im Grunde sind meine Tage immer noch voll. Am Montag war ich in Mannheim, fünf Stunden hin, dort einen Vortrag halten, wieder zurück. Nachts konnte ich nicht schlafen. Das passiert mir öfters, wenn ich so hochgetourt bin. Dann muss ich geduldig sein, eine warme Milch trinken. Am Dienstag musste ich früh raus zu einer Trauerfeier. Gestern Abend war ich dann so was von hinüber. Ehrlich gesagt, ich mute mir immer noch ziemlich viel zu.

taz: Sie hatten vorgeschlagen, das Interview auf Dienstagnachmittag zu legen. Umso besser, dass wir uns erst heute treffen.

Schwan: Ja, das ist mir sehr lieb. Da sehen Sie: Mein Kalkül ist immer noch, da ist ein freier Slot, also rein. Das ist eigentlich nicht gut. Das muss ich noch ein bisschen üben.

taz: Viele beschäftigen sich im Alter mehr mit der eigenen Vergangenheit. Sie auch?

Schwan: Ich habe immer schon darüber nachgedacht, woher was kommt, was in der Jugend gesetzt wurde. Das hat sich sicher verstärkt in den letzten Jahren.

taz: Sie wurden 1943 geboren. Ihre Eltern haben in der NS-Zeit ein jüdisches Mädchen versteckt und ihm das Leben gerettet. Wie hat Sie das geprägt?

Schwan: Meine Eltern haben zu Lebzeiten kaum darüber gesprochen, mir wurde das erst später richtig bewusst. Mein Vater hatte wohl größere Bauchschmerzen als meine Mutter, so viel weiß ich. Meine Eltern waren befreundet mit Harald Poelchau, einem evangelischen Pfarrer, der auch die Seelsorge im Strafgefängnis in Plötzensee gemacht hat. Er hat die von den Nazis zum Tode Verurteilten begleitet. Nebenbei hat er geheim ein riesiges Verstecknetz für Juden in Berlin aufgebaut. Dazu gehörten auch meine Eltern. Das war eine Logistik, alle paar Monate mussten die Versteckten woanders hin. Ich habe größte Hoch­achtung für das, was meine Eltern damals gewagt haben.

taz: Kamen Sie je in eine Situation, ähnlich mutig sein zu müssen?

Schwan: Zum Glück nicht. Ich habe ’68 an der Freien Universität oft vor Vollversammlungen gesprochen, auch gegen die Mehrheit. Manche fanden das mutig. Ich habe gesagt: Quatsch. Mir kann in einer Demokratie nicht viel passieren. Wer Mut hatte, waren meine Eltern. Das war für mich der Maßstab. Die Frage, ob ich menschlich anständig bin oder nicht, hat mich immer begleitet, auch in der Politik.

taz: Sie haben die Nachkriegszeit erlebt, den Kalten Krieg, die Wende, jetzt die Gegenwart. Ganz schön viel.

Schwan: Gerade in der letzten Zeit habe ich oft gedacht, dass es sich anfühlt wie viele Leben in einem. Ich erinnere mich noch gut an 1968. In den 70er Jahren wurde die Wissenschaft wichtig für mich, an der Freien Universität in Berlin. Ich verbrachte, zum Teil mit meinem verstorbenen Mann, Alexander Schwan, Gastaufenthalte in Washington, Cambridge, New York. Neun Jahre habe ich die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder geleitet. Mein Leben hat so viele reiche Abschnitte – wenn ich das betrachte, überkommt mich ein Gefühl von großer Dankbarkeit. Ich frage mich schon auch: Wie hast du das alles durch­gestanden? Aber als ich drinsteckte, fand ich es ganz normal.

taz: Sie waren Professorin für Politik­wissenschaft. Als Sozialdemo­kratin haben Sie auch politisch mitgemischt, aber Ihr Zuhause blieb die Wissenschaft.

Schwan: 1977 wurde ich Professorin am Otto-Suhr-Institut in Berlin. Zwei Jahre zuvor hatte ich mich habilitiert, damals war ich 32, mit einem Buch über die Gesellschaftskritik von Karl Marx. Und mit einem Buch, das ich mit Alexander Schwan gemeinsam geschrieben habe, über „Sozialdemokratie und Marxismus“. Es gab zu der Zeit ja die Diskussion, ob die SPD eine marxistische Partei sein sollte oder nicht. Wir waren beide dagegen. Ich glaube, ich kannte mich viel besser mit Marx aus als die meisten Marxisten in der SPD damals.

taz: Nach dem Motto: Kenne deinen Feind?

Schwan: Nicht Feind. Marx war ein faszinierender, genialer Denker. Aber er denkt den Konflikt zu ein­dimensional. Er denkt, alles kommt aus den Produktionsverhältnissen. Das ist zu eng, auch wenn man die umgreifend versteht. Deshalb hat er auch kein Verständnis für eine pluralistische Gesellschaft und für Menschenrechte. Da ist der Keim des Totalitarismus drin, daher rührt meine Gegnerschaft zu Marx. Aber wichtig ist er für mich bis heute.

taz: Inwiefern?

Schwan: Ich bin ja Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. Bis 2027 will die SPD ein neues Grundsatzprogramm entwickeln. Alle haben das Bedürfnis, über das Programm einen Neuanfang zu machen. Diese Erwartung halte ich für naiv, aber gut, wir gehen das jetzt an. Ich habe mich mit der Frage befasst: Ist die SPD eine Arbeiterpartei oder eine Partei der Arbeit? Dabei ist mir klar geworden: Wir können die SPD nicht ohne Arbeit denken. Arbeit ist die Produktion einer Wirklichkeit aus sich heraus, etwas Sinnstiftendes, das allen Menschen möglich gemacht werden soll. Auch ich fühle mich wahnsinnig gut, wenn ich es schaffe, schwierige Gedanken in einen Text zu gießen. Dieser Prozess ist Arbeit, und das findet man auch bei Marx, vor allem in seinen Frühschriften. Zugleich gibt es neue Ausbeutungen in der Arbeit, weltweit.

taz: Als Professorin haben Sie Studierenden jahrzehntelang mit großer Leidenschaft die liberale Demokratie nahegebracht. Es muss schwer sein für Sie zu sehen, dass demokratiefeindliche Kräfte jetzt so stark werden.

Schwan: Es ist die größte Krise der Demokratie, die ich erlebt habe. Das liegt aber nicht daran, dass die Wähler alle die liberale Demokratie ablehnen oder missverstehen. Es muss schon ein Pro­blem geben in der liberalen Demo­kratie selbst, wenn sie so viel Distanzierung erfährt. Dafür gibt es viele Gründe, vor allem die obszöne Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Die Demokratie ist mit dem Versprechen der Chancengleichheit verbunden, sie lebt von einer Gesellschaft der sozialen Mitte, schon bei Aristoteles steht das. Aktuell ist es meine Mission, die liberale Demokratie partizipatorisch weiterzuentwickeln.

taz: Was heißt das?

Schwan:Ich bin bei der Berlin Governance Platform aktiv, einer gemeinnützigen GmbH. Wir haben ein Par­tizipationsmodell entwickelt, vorrangig für die kommunale Ebene. Stakeholder oder Vertreter von Politik, Wirtschaft und organisierter Zivil­gesellschaft setzen sich dabei im Auftrag des Stadtrats vier Tage zusammen und suchen nach Lösungen für ein langfristiges Problem. Da geht es um Themen wie die Entwicklung einer ­Brache oder die gesundheitliche Versorgung einer ländlichen ­Kommune. Am Ende gibt die Runde eine Empfehlung ab.

taz: Haben Sie ein Beispiel?

Gesine Schwan

Die Berlinerin

Gesine Schwan wurde 1943 in Berlin geboren. Ihre Eltern gehörten im Zweiten Weltkrieg zu Widerstandskreisen, nach dem Krieg setzten sie sich für die Freundschaft mit Frankreich, Polen und insgesamt für Europa ein. Schwan besuchte das Französische Gymnasium Berlin, dort war sie Klassenkameradin von Reinhard Mey.

Die Wissenschaftlerin

Schwan studierte in Berlin und Freiburg. 1971 wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut in Berlin, ab 1977 lehrte sie dort als Professorin für Politikwissenschaften. Von 1992 bis 1995 war sie Dekanin am Institut. 1999 wechselte Schwan als Präsidentin der Europa-Universität nach Frankfurt an der Oder. Heute ist sie Präsidentin der Berlin Governance Platform.

Die Sozialdemokratin

Unter dem Eindruck von Willy Brandts Ostpolitik trat Gesine Schwan Ende der 60er Jahre in die SPD ein und gründete den Seeheimer Kreis mit. In den Nullerjahren war sie Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit der Bundesregierung. 2004 und 2009 kandidierte sie als Bundespräsidentin, aber unterlag beide Male Horst Köhler. 2019 trat sie gemeinsam mit Ralf Stegner für den SPD-Vorsitz an, bekam aber nur knapp 10 Prozent der Stimmen. Seit 2014 ist Schwan Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission.

Schwan: Unser erster Fall war in Herne im Ruhrgebiet. Da gab es eine stillgelegte Zeche, der ­Boden war vergiftet, aber Kreuz­kröten lebten dort. Es war ein Skandal, dass diese Riesenfläche nicht ent­wickelt werden konnte, weil alle ­etwas anderes wollten, Unternehmen, Gewerkschaften, Naturschützer, Senioren­vertreter. Wir haben uns mit ihnen zusammen gesetzt. Da kamen einstimmige Empfehlungen für den Stadtrat raus, der hat das anschließend legitimiert. Inzwischen hat die Stadt Gelder akquiriert für ein multifunktionales Terrain mit Lehrlingsausbildung, Ausflugsgebiet und Biotop. Es wird Jahre dauern, bis alles fertig ist.

taz: Sie wollen etwas tun gegen das Gefühl der Ohnmacht?

Schwan: Ja, aber zugleich muss unsere repräsentative Demokratie weiterentwickelt und verbessert werden. Ich glaube an die liberale Demokratie, aber viele trauen ihr nicht mehr. Die Menschen müssen die Erfahrung machen können, dass sie mitwirken können und dass die Politik zu vernünftigen Ergebnissen führt.

taz: Auch der SPD trauen viele nicht mehr. Sie sind seit 50 Jahren Genossin. Fremdeln Sie manchmal mit Ihrer Partei?

Schwan: Oft mit der Parteispitze. Ich habe die SPD öffentlich ja auch immer wieder kritisiert. Es gibt in der SPD eine gewisse Hasenfüßigkeit, eine Ängstlichkeit, die oft auch die Partizipation behindert, in der man etwas wagen muss. Die SPD ist außerdem immer noch eine männliche Partei, oft autoritär in ihren Strukturen. Die SPD hat schon systemische Macken. Sie ist trotzdem absolut notwendig und die einzige Partei, die für mich infrage kommt.

taz: Sie haben zweimal als Bundes­präsidentin kandidiert. Wie blicken Sie auf diese Niederlagen zurück?

Schwan: Die einzige Niederlage, die ich als solche empfunden habe, war die bei der zweiten Kandidatur zum Bundespräsidenten im Mai 2009. Diese ­Niederlage hat die SPD-Spitze mit­bewirkt. Denn ich hätte nur gewählt werden können mithilfe der Linken, im zweiten Wahlgang.

taz: Die Parteispitze hatte Angst vor der Nähe zur Linkspartei, weil kurz darauf auch die Bundestagswahlen anstanden?

Schwan: Franz Müntefering war damals Parteichef, er hat die Abstimmung praktisch freigegeben. Eine Stimme fehlte, sonst wäre ich in den zweiten Wahlgang gekommen und die Linke hätte für mich gestimmt. Das wollte Müntefering verhindern. Er hatte nichts gegen mich, im Gegenteil. Aber er hatte Angst, dass die SPD in der Öffentlichkeit diskreditiert wird durch die Linkspartei. Er hat sich für den anderen Weg entschieden: Die SPD wurde mehrmals Juniorpartner in der Großen Koalition. Das war sehr schädlich, bis heute, weil es ihr das Profil genommen hat. Aus dieser Falle sind wir bisher nicht rausgekommen.

taz: Gemeinsam mit Ralf Stegner ­haben Sie 2019 für den SPD-Vorsitz kandidiert, auch das hat nicht geklappt. Wurmt es Sie, dass Sie in all den Jahren nie wirklich politische Macht hatten?

Schwan: Ich habe mich für den Vorsitz gemeldet, weil nach dem Rücktritt von Andrea Nahles alle SPD-Größen für die Nachfolge abgesagt hatten. Da habe ich meinen Hut in den Ring geworfen, in der Hoffnung, dass andere folgen. Das war dann auch so. Im Nachhinein bin ich nicht unglücklich, dass das nichts wurde. Ich war auch mal kurz im Gespräch für ein Ministeramt, aber das hätte ich nicht sein wollen. Eine Uni leiten, das konnte ich, das ist mein Terrain. Einen Ministerapparat hätte ich nicht bedienen können, das ist nicht meine Welt. Enttäuscht war ich vor allem nach der zweiten Bundes­präsidentenwahl.

taz: Dieses Amt hätte Ihnen gelegen?

Schwan: Es entspricht dem, was ich zeitlebens tue: nachdenken, unbequeme Positionen benennen, kon­struktiv sein. Ich glaube, ich hätte einen Unterschied gemacht, wenn ich in dieses Amt gekommen wäre. Aber das ist eine andere Art von Macht als in der Regierung.

taz: Es geht um Werte, um Orien­tierung.

Schwan: Um die politische Kultur. Ich hätte auch etwas zum Geschlechter­verhältnis beitragen können. Ich wäre ja die erste Frau im Schloss Bellevue gewesen. Kürzlich habe ich darüber nachgedacht. Wenn nun die erste Frau in diesem Amt Julia Klöckner würde oder Ilse Aigner, das würde mir schon zu schaffen machen. Aber dann verfliegt der Ärger auch schnell wieder, weil ich ja so viel anderes machen kann. Die Partizipations­projekte füllen mich voll aus. Wie die Beteiligten miteinander reden, respektvoll und konstruktiv, das ist beglückend. Menschen sind nicht mies von vornherein, das kann auch anders gehen.

taz: Politische Niederlagen sind das eine, persönliche Schicksalsschläge das andere. Vorhin haben Sie Ihren ersten Mann erwähnt, Alexander Schwan, politischer Philosoph und Mitstreiter. Er starb 1989. Wie schafft man es, nach so einem Verlust weiterzumachen?

Ich gestehe mir die Hoffnung zu, dass es etwas gibt nach dem Tod, was man mit Glück bezeichnen kann

Schwan: Das war eine Zäsur. Ich war damals 46. Wir hatten immer sehr viel zusammen gemacht, auch beruflich. Wir waren in Berlin als Ehepaar bekannt. Trotzdem habe ich keinen Moment daran gezweifelt, dass es für mich ­weitergeht.

taz: Was sicherlich nicht einfach war, alleinerziehend mit zwei Kindern.

Schwan: Schon die Jahre vor seinem Tod waren schwer. Als die Krankheit ­offenbar wurde, waren die Kinder 9 und 11. Ein Arzt, er war besonders nett und wohlwollend, hat ihm gesagt, es sei nicht so schlimm. Das stimmte aber überhaupt nicht, es gab keine Aussicht mehr auf Heilung. Ich wusste das und musste, als mein Mann mir diese Einschätzung mitteilte, innerhalb von Sekunden entscheiden, ob ich auf die falsche Schiene mitgehe oder ob ich den Arzt desavouiere. Ich habe nicht fertig gebracht zu sagen, wie schlimm es ist. So blieb es, bis kurz vor seinem Tod.

taz: Sie haben jahrelang nicht über den Ernst der Lage geredet?

Schwan: Ja, und das widerspricht eigentlich meiner Natur. Ich musste dauernd überlegen: Was sage ich? Er hätte sich allerdings denken können, wie es um ihn steht. Aber er wollte es gar nicht so genau wissen. Dann mit den Kindern, die kriegen ja immer mehr mit als man denkt. Ich musste jeden Tag eine Stunde im Grunewald spazieren gehen, um nicht wahnsinnig zu werden. Zwischendrin sah es kurz so aus, als ob mein Mann tatsächlich zu den drei Prozent gehörte, die einen schweren Krebs überlebten. Und dann ging es doch bergab. Eine ziemliche Hölle. ­Insofern war es dann irgendwie auch gut, als es vorbei war.

taz: Wann hat er verstanden, wie es wirklich um ihn stand?

Schwan: Drei Monate, bevor er starb, mussten wir einen Urlaub abbrechen, er kam sofort ins Krankenhaus. Da habe ich ihm sagen müssen, dass es zu Ende geht. Die Ärzte scheuten davor zurück.

taz: Wie hat er reagiert?

Schwan: Bewundernswert. Er hat gesagt: Wir wollten doch immer zusammenarbeiten für mehr Glück und mehr Liebe auf der Erde. Ich war und ich bin ein glücklicher Mensch.

Schwan: Das zu hören muss ein großer Trost gewesen sein.

taz: Ja. Die Zeit war dann noch mal sehr schwierig, aber es gab ein Einvernehmen. Ich habe jeden Tag bis zum Einschlafen bei ihm verbracht. Der liebe Gott – das ist meine religiöse Seite – findet Wege. Es gibt das Lied von Paul Gerhardt, „Befiehl du deine Wege“. Da heißt es, dass man seinen Kummer „der allertreusten Pflege“ Gottes befehlen soll, er „wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“. Das war auch meine Erfahrung nach seinem Tod: Es gab Wege, wo mein Fuß gehen konnte. Auch wenn ich zwischendrin gar nicht wusste, wie und wo. Ich habe eine bittere Depression erlebt. Ich war in einem Zustand, den ich vorher nicht kannte: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch mal schön werden würde. Zugleich hatte ich meine Kinder, die waren in einem fordernden Alter.

taz: Wie haben Sie das durchgestanden?

Schwan: Ich habe nach dem Tod meines Mannes jahrelang eine Psycho­analyse gemacht, das war eine befreiende ­Erfahrung. Ich hätte damals keinen öffentlichen Job übernehmen können, ich habe mich viel zu unsicher gefühlt, zu unglücklich. Die Analyse hat mir sehr geholfen. Wobei ich sie nicht allein wegen des Todes meines Mannes gemacht habe. Das war der Anlass, sich mit dem zu befassen, was vorher schon verklemmt und überfordert war.

Gesine Schwan ist Wissenschaftlerin, ihrem Mann ist diese Welt fremd. Sie weiß zu schätzen, dass sie so verschieden sind: „Die Liebe hat uns beide schon heftig ergriffen“

taz: Eine neue Partnerschaft kam damals nicht in Frage?

Schwan: Ich war elf Jahre alleine. Peter Schneider, der Schriftsteller aus der 68er-Bewegung, den habe ich nach einer Veranstaltung mal nach Hause gefahren, er hat gefragt: Hast du denn nicht wenigstens mal eine Affäre? Das interessierte mich nicht. Ich habe nicht gedacht, dass ich noch mal glücklich werden würde.

taz: Und dann passiert es doch.

Schwan: Dann passiert es doch. Es kam ganz anders, als ich es erhofft hatte.

taz: Ihr jetziger Ehemann, Peter Eigen, war Weltbank-Manager und Gründer von Transparency International. Sie wurden 2004 ein Paar.

Schwan: Die Beziehung zu ihm ist vollkommen anders. Ich glaube, ich hätte mich in meinen jetzigen Mann nicht verlieben können, als ich noch jünger war. Er war als junger Mann ganz un­politisch, eher ein Sunnyboy, er hat Saxo­fon und Tennis gespielt, ist viel geritten, das wäre mir viel zu ober­flächlich gewesen. Ich musste erst deutlich älter sein, um die Unterschiede zwischen uns goutieren zu können. Und er war dann in der Entwicklungszusammenarbeit der Weltbank überaus engagiert. Wir haben jetzt viel gemeinsam, aber symbiotisch mag ich es nicht mehr.

taz: Ihr jetziger Mann ist anders als Sie?

Schwan: Er ist überhaupt kein Wissenschaftler, er hat eine ganz andere, eine emotionale und praktische, auch organisatorische Intelligenz. Peter ist immer voller Bewunderung, wenn ich im Gespräch etwas über Hegel sage. Das hat er gerne, aber es ist für ihn eine fremde Welt. Als wir unseren ersten sentimentalen Spaziergang durch den Grunewald machten, habe ich ihn gefragt: Was verstehst du unter Korruption? Ich erwartete eine ausgefeilte Definition. Er sagte: „Ganz einfach: Überm Tisch oder unterm Tisch.“ Das beschreibt gut den Unterschied zwischen uns und reicht ihm für die Praxis. Er hat eine sehr gute Intuition in Bezug auf Menschen, ich bin vertrauens­voller. Er ist in der Weltbank sozialisiert, da ­lauert die Konkurrenz überall. Leider hat er mit seinem skeptischen Blick immer mal wieder recht. Er durchschaut sofort, wenn jemand etwas vor allem aus Eigeninteresse tut.

taz: Und was verbindet Sie?

Schwan: Wir sind beide politische Aktivisten, so nenne ich das mal. Wir lieben die Musik und lachen sehr viel zusammen, ihm fällt immer etwas Verrücktes oder absurd Witziges ein. Er kann sich selbst auch sehr gut als den Ungebildeten karikieren. Die Liebe hat uns beide schon heftig ergriffen. Wir umarmen uns sehr gerne, und zwar ständig. Die Liebesbeziehung zu meinem ersten Mann war wissenschaftlich intensiv, stark über den Kopf. Das ist hier anders, eher ganzheitlich.

taz: Haben Sie gemeinsame Rituale?

Schwan: Rituale hatten wir immer und bilden sie im Urlaub sofort aus. Wir gehen jeden Tag um 18 Uhr zusammen an unsere Bar, wie wir sagen, in die Küche, und trinken einen Sekt. Also nicht, dass wir Säufer sind, aber so einen Absacker haben wir gerne. Im Urlaub trinke ich lieber Gin Tonic, da hat er sich auch zu bewegen lassen.

Nachkriegszeit, Kalter Krieg, Wende, Gegenwart, das fühle sich an wie viele Leben in einem, sagt Gesine Schwan

taz: Ist es wichtig, dass man sich Zeit nimmt füreinander?

Schwan: Das ist unbedingt wichtig, zumal im Alter. Es kann ja jeden Tag zu Ende sein. Was hilft es, wenn man dann noch einen Aufsatz mehr geschrieben hat, das ist doch völlig unwichtig. ­Frühstück, Mittag, Abendessen, das ist alles nicht unendlich lange. Aber wenn sich ein intensives Gespräch ergibt, dann nehmen wir uns die Zeit. Um 23 Uhr hole ich ihn vom Fernsehen weg, wenn er seine Krimis hinter sich hat, ich meine drei Zeitungen, dann ­erzählen wir uns vom Tag. Was wir erlebt und was wir gelesen haben. Da lernt man den anderen noch mal besser kennen.

taz: Die Endlichkeit ist Ihnen sehr ­bewusst.

Schwan: Sehr, und mehr als früher. Die Zeit ist begrenzt. Diese Vergänglichkeit des Lebens kann ich nicht schönreden. Und wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen: Ich möchte auch nicht, dass es nicht zu Ende geht. Das wäre ja eine ständige Repetition. Man könnte das Leben gar nicht wert­schätzen, wenn sich immer alles wiederholen würde. Die Wertschätzung ist auch eine Folge der Vergänglichkeit.

taz: Und die macht Ihnen keine Angst?

Schwan: Ich frage mich schon, wie es ist, wenn einer alleine zurückbleibt. Aber da kann man keine Antwort drauf finden. Man muss darauf vertrauen, dass man mit der Situation dann schon umgehen kann.

taz: Im Alter ist der Tod sehr präsent.

Schwan: Ja, sehr. Vor drei Jahren ist mein Bruder gestorben. Das war für mich eine ganz schwere Erfahrung. Wir hatten eine enge Beziehung. Seitdem denke ich viel über die Frage nach: Gibt es ein Wiedersehen? Mein Bruder und ich, wir haben in der Schule zusammen „Ein deutsches Requiem“ gesungen von Brahms. Da heißt es „Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen“. Als mein Bruder im Sterben lag, habe ich ihm immer wieder gesagt: Wir werden uns wiedersehen. Mir kommen schon wieder die Tränen …

taz: Glauben Sie denn daran, dass Sie ihn wiedersehen?

Schwan: Das klingt naiv, das ist mir klar. Aber diese Frage beschäftigt mich seitdem sehr. Mein Glaube ist in dieser Hinsicht im Wandel. Lange habe ich vor allem durch die wissenschaftliche oder vernünftige Brille auf die Dinge geschaut, der Glaube musste der ­Ratio­nalität standhalten. Ich komme über die Vernunft, Thomas von Aquin, der große katholische Theologe, und Aristoteles hängen zusammen, und das ist für mich zentral. Mein Mann und ich, wir unterhalten uns manchmal abends an unserer Bar. Was wird danach? Ist das wissenschaftlich geschulte ­Denken der Filter für das, was erlaubt ist zu glauben? Das ist bei mir nicht mehr so. Ich will natürlich nicht irgendwelche Gottesbeweise auf­tischen, die gibt es nicht. Aber ich will das weiter trennen.

LOWRES!!! Foto: action press

taz: Das wissenschaftliche Denken und der Glaube existieren für Sie nebeneinander?

Schwan: Es kommt nicht von ungefähr, dass der große Mathematiker Blaise Pascal zum Mystiker wurde. Das gibt es öfters, auch andere scharfsinnige Denker waren Mystiker, die die Grenze der Vernunft akzeptierten. Sie geben ihr Denken nicht auf, und sie spüren ­trotzdem, dass es noch etwas anderes gibt, dass der Glaube darüber hinaus reicht.

taz: Was macht Ihren Glauben aus? Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Schwan: Es fängt mit der Frage an, was Glauben heißt. Ich halte nicht für wahr, dass Maria naturalistisch Jesus jungfräulich zur Welt gebracht hat. Mein Verständnis von Glauben ist zu vertrauen. Ich vertraue auf die Zusage Gottes, dass er aus Liebe in diese Welt gekommen ist und dass er uns in der Liebe auffängt. Daneben sind Einzelheiten wenig wichtig. Ich habe es in meinem Leben auch so erfahren. Gott hat mich in sehr schwierigen Situationen gehalten, er hat mir Wege gezeigt. Ob es nach dem Tod etwas geben wird oder nicht? Das weiß ich natürlich nicht, aber intuitiv würde ich sagen: Ja. Ich gestehe mir die Hoffnung zu, dass es etwas gibt danach, was man mit Glück bezeichnen kann.

taz: Ihr wissenschaftliches Denken kommt Ihnen dabei nicht in die Quere?

Schwan: Es muss nicht alles nach unserem mühsamen menschlichen System logisch sein. Ich kann mir zum Beispiel weder vorstellen, dass diese Welt endlich ist noch dass sie unendlich ist. Es läuft nicht immer alles nach dem Satz des Widerspruchs.

taz: Sie denken die Grenzen des eigenen Denkens mit.

Schwan: Das ist mein Weg im Glauben, denn ich will ja nicht aufhören, zu denken. Ich komme zu dem Schluss, dass nicht alles denkbar sein muss.

taz: Sie haben zwei Kinder und ­Enkelkinder. Wenn Sie mit denen über die Zukunft sprechen, was sagen Sie?

Schwan: Ich kann ihnen nicht sagen, es wird schon alles gut. Ich kann ihnen auch nicht sagen, das ist alles nicht so schlimm. Ich kann ihnen nur vorleben, dass ich die Krisen und Probleme sehe, dass ich nicht die Augen davor verschließe. Und dass ich trotzdem glaube, Gott gibt uns Möglichkeiten, dagegen anzugehen. Und zwar nicht total erfolglos. Das kann ich.

Matthias Kalle, 50, ist Co-Ressortleiter der wochentaz.

Antje Lang-Lendorff, 47, ist Redak­teurin der wochentaz. Sie hat bei Gesine Schwan 1998 die Einführungsvorlesung in Politikwissenschaften gehört.

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