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IS-Verbrechen an den Je­si­d*in­nenIn Vergessenheit geraten

Ronya Othmann
Kommentar von Ronya Othmann

Acht Jahre nach dem Massaker im Irak werden Je­si­d*in­nen vermisst, sind auf der Flucht oder im Exil. Sie sind in Not, aber niemand will es hören.

Eine YPG-Kämpferin hilft Jesidinnen auf der Flucht vor dem IS am 10. August 2014 Foto: Rodi Said/reuters

V or acht Jahren, am 3. August 2014, fielen Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staats“ im Schingal, Irak ein und verübten einen Genozid an den Je­si­d*in­nen. Sie töteten Männer und alte Frauen. Die jüngeren Frauen und Mädchen versklavten und vergewaltigten sie. Sie wurden von IS-Kämpfer an IS-Kämpfer weiterverkauft. Die Jungen zwangen sie, als Kindersoldaten zu kämpfen. Bis zum heutigen Tag werden noch immer 2.800 Frauen und Kinder vermisst.

Noch immer leben zehntausende Je­si­d*in­nen in Zelten in Lagern von Binnenflüchtlingen in der Autonomen Region Kurdistan. Sie können nicht in ihre Dörfer und Städte im Schingal zurückkehren. Am Boden gibt es immer wieder Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen, zuletzt zwischen der irakischen Armee und den von der YPG ausgebildeten und der PKK nahestehenden jesidischen Einheiten YBS. Aus der Luft bombardiert die Türkei.

Der Genozid 2014 war weder Schicksal noch ein Naturereignis, er hätte verhindert werden können und müssen. Ebenso wie die desolate Situation der Je­si­d*in­nen heute. Doch es fehlt der politische Wille. Die Jesid*in­nen sind keine große Gruppe, weltweit gibt es schätzungsweise gerade einmal eine Million Jesid*innen. In ihrem Herkunftsgebiet, dem heutigen Irak, in Syrien und in der Türkei werden sie seit Jahrhunderten als nichtmuslimische Gemeinschaft, als Nicht-Buchreligion, deren Texte mündlich überliefert werden, verfolgt.

Die Jesid*in­nen haben keine Lobby. Von der islamischen Ummah, der weltweiten Gemeinschaft der Muslime, konnten und können sie keine Unterstützung erwarten. Auch in Deutschland nicht. Kein einziger deutscher Islamverband hat auf den Aufruf der Gesellschaft für bedrohte Völker reagiert, den Genozid an den Jesid*in­nen in den Freitagspredigten zu thematisieren.

In Deutschland, wo mittlerweile rund 200.000 Je­si­d*in­nen leben – es ist die weltweit größte Diasporagemeinschaft –, ist der Genozid aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Fatal, nicht zuletzt weil auch Deutsche ins Kalifat nach Syrien und Irak reisten und sich an Massakern und Vergewaltigungen beteiligten.

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Ronya Othmann
Kolumnistin
Kolumnistin, Autorin, Lyrikerin und Journalistin. Schreibt zusammen mit Cemile Sahin die Kolumne OrientExpress
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6 Kommentare

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  • Und wo bleiben die Sanktionen gegen die beteiligten Länder?

  • Die deutschen Islamverbände sind nichs anderes als Erdogans verlängerter Arm. Da ist kein Interesse am Schicksal der Jesiden zu erwarten und auch nicht der Wille zur Integration. Wie lange wollen wir uns das gefallen lassen?



    Diese islamischen Antidemokraten importieren nichts als Intoleranz und Spaltung in unser Land.



    Das Verbot dieser pseudoreligiösen Organisationen ist schon lange Überfällig!

    • @ Christoph:

      Ich finde, wir sollten da nicht alle in einen Topf werfen. So wie es in den westlichen Ländern, wo das Christentum vorherrscht, jedenfalls bisher und historisch, in den Kirchen das ganze Spektrum von fanatisch-reaktionär über konservativ, bürgerlich bis hin zu linkem und politischem Verständnis des Christentums gibt, so gibt es auch im Islam verschiedene Richtungen. Als ich noch Christ war und in der katholischen Friedensbewegung unterwegs hatten wir Kontakt zu fortschrittlichen muslimischen Gemeinden.

      Und - etwas überspitzt gesagt: der IS könnte so etwas wie ein Faschismus sein, der vorgibt muslimisch zu sein; zur Erinnerung: der Nationalsozialismus hat sich auch nicht explizit gegen das Christentum gestellt und es ist sicher leicht, ihn von außen als Teil des "christlichen Kulturkreises" zu sehen. Das wäre falsch. Analog sollten wir den IS nicht als Repräsentant des "muslimischen Kulturkreises" sehen, sondern ihn nach seinen Taten und nicht nach seiner Selbst-Etikettierung (=als zum Islam gehörig) beurteilen.

  • Vielen Dank, dass die TAZ das in Erinnerung ruft und Raum gibt. Es ist unerträglich, wie ungleich hierzulande solches Unglück behandelt wird. Wie sähe die Presse und die Reaktion wohl aus, wenn es sich im UkrainerInnen handelte?

  • Wieder ein sehr guter Beitrag von Ihnen, Frau Othmann. Vielen Dank.

    Eine Freundin von mir unterrichtet Deutsch als Frendsprache und hat zwei Jesidinnen in ihrer Klasse. Diese haben ihr von ihrer abenteuerlichen Flucht erzählt über viele Grenzen, teils mit kleinen Regionalbahnen oder Bussen und große Strecken zu Fuß nachts über Grenzen.

    Der IS hat einen anerkannten Genozid unter den Jesid*innen angerichtet. "Ungläubige" halt. Warum also sollten islamische Verbände die Jesid*innen verteidigen? Im Gegenteil.

    Tatsächlich ist die Klasse meiner Freundin ein einziges Trauerspiel. Ein Kurde hat fünf tote Kinder zurücklassen müssen. Eine andere Kurdin drei.

    • @shantivanille:

      Die Situation der Yeziden in ihren Heimatländern war ja schon immer prekär, das gilt auch für unseren NATO-Partner Türkei … und das übrigens schon lange vor der Herrschaft Erdogans und seiner AKP. Im Grunde war ein Überleben der yezidischen Glaubensgemeinschaft in der Türkei seit Jahrzehnten schon nicht mehr möglich. Der Genozid an den Yeziden durch den IS im Irak zeigt, dass sie auch an den Orten nicht mehr sicher sind, an denen sich ihre heiligen Stätten befinden.



      Jetzt drohen den Verbliebenen erneut Vertreibung, Sklaverei und Mord, sollten die islamistischen „Gotteskrieger“ wieder ihr Haupt erheben … kein Schutz durch staatliche Instanzen in ihren Heimatländern, im Gegenteil. Auch dem „Wertewesten“ ist das Schicksal der Yeziden herzlich egal, abgesehen von der kurzen moralischen Empörung in den Medien nach Bekanntwerden des Genozids im Schingal 2014. Lediglich die bei uns als terroristisch eingestufte und verbotene PKK und ihre syrisch-kurdischen Verbündeten von der YPG errichteten damals eine Evakuierungszone, damit die Überlebenden vom Nordirak nach Syrien ins kurdisch kontrollierte Rojava fliehen konnten.



      Nach dem Willen Erdogans - mit dem festen Zudrücken sämtlicher Augen der türkischen NATO-Partner - soll nun auch dieses Rojava als Ort demokratischer kurdischer Selbstbestimmung „platt“ gemacht werden. Der Dank des Westens, dass es die Kurden waren, die für uns im Kampf gegen den IS die Kohlen aus dem Feuer geholt haben. Die Tore von Al-Hol, dem berüchtigten Internierungslager für die IS-Terroristen, werden dann wahrscheinlich weit aufgesperrt, damit diese ihr Morden fortsetzen können. Und in den USA feiert man die staatliche Hinrichtung eines einzelnen ihrer Anführer noch frenetisch ab. Kaum zu fassen.



      Ja, ich schließe mich Ihrem Dank für diesen Beitrag von Frau Othmann an. Leider existieren in unserer Wahrnehmung von Völkermord offensichtlich unterschiedliche Qualitäten, zum Nachsehen der Yeziden.