IS-Rückkehrerinnen in Deutschland: Einmal IS und zurück
Deutschland hat eine IS-Anhängerin zurückgeholt. Andere warten auf ihre Heimreise. Ob sie wirklich mit dem IS gebrochen haben, ist unklar.
Nun also ist Carla S. in der Justizvollzugsanstalt Dinslaken, inmitten der Ruhrgebietsstadt, gleich hinter dem Stadtpark. Ein kleiner Klinkerbau nur für inhaftierte Frauen, 70 Zellen, nicht viel für eine JVA. Drinnen gibt es lange Flure mit blassgelben Türen, hinter einer von ihnen sitzt Carla S.
Ihre drei Kinder sind nicht mehr bei ihr. Sie sind bei ihrem Vater und der Großmutter, im 20 Kilometer entfernten Oberhausen. Es gehe Carla S. gut, sagt ihr Anwalt. So gut es einem hinter Gittern eben gehen könne. Die 32-Jährige ist in Haft, aber sie ist in Sicherheit. Weg aus dem Krieg.
Noch vor anderthalb Wochen war Carla S. in einem Lager im syrischen Asas, direkt hinter der türkischen Grenze, zusammen mit ihren Kindern, elf, sieben und knapp zwei Jahre alt. Fotos von dem Lager zeigen graue Großzelte, matschige Wege, drum herum einen Zaun. In einem der Zelte hatte sich Carla S. eine Ecke mit Decken abgehängt, einen kleinen Rückzugsraum geschaffen. In Handynachrichten, die ihre Familie öffentlich machte, klagte S. über Ratten, Krankheiten der Kinder und über Schüsse in der Ferne.
Carla S. war Anhängerin des „Islamischen Staates“ (IS). Im Oktober 2015 hatte die Oberhausenerin ihre Heimat verlassen. Drei Jahre lebte sie beim IS, bis sie im vergangenen Dezember von der oppositionellen „Freien Syrischen Armee“ gefangen genommen und nach Asas gebracht wurde.
Lange duckte sich die Bundesregierung offiziell weg
Vor anderthalb Wochen ging dann alles ganz schnell: Mit Hilfe des türkischen Militärs wurde Carla S. mit ihren Kindern über die nur wenige Kilometer entfernte Grenze ins türkische Gaziantep gebracht. Von dort flogen die vier nach Stuttgart, wo Carla S. am Flughafen ihre Mutter traf, die Kinder übergab – und verhaftet wurde.
Carla S. ist damit die erste deutsche IS-Anhängerin, die aus syrischer Haft nach Deutschland zurückgeholt wurde. Und sie ist ein Politikum.
Denn seit Wochen diskutiert die Politik über die in Syrien inhaftierten deutschen IS-Anhänger. Lange duckte sich die Bundesregierung offiziell weg. Mitte Februar aber brachte ein Tweet von Donald Trump Bewegung in die Sache. Der US-Präsident hatte Deutschland und andere aufgefordert, die IS-Gefangenen in Syrien zurückzuholen – andernfalls könnten sie freigelassen werden.
Juristisch ist die Sache klar: Deutsche Staatsbürger haben ein Recht auf Wiedereinreise. Politisch aber zögert die Bundesregierung: Soll der Staat wirklich die Islamisten zurückholen – oder überwiegt die Angst, sich damit potenzielle Attentäter ins Land zu schaffen?
Viele behaupten, geläutert zu sein
Carla S. ist nur eine von vielen. Als der IS 2013 weite Teile Syriens eroberte, zog dies viele deutsche IslamistInnen an. 1.050 Ausreisen in das Kampfgebiet zählen die Sicherheitsbehörden bis heute. 200 der deutschen IS-Begeisterten sollen in Syrien und dem Irak ums Leben gekommen sein, manche gelten als verschollen. 69 sitzen dort nun in Haft, 48 davon Frauen, dazu kommen 62 Kinder. Die meisten sind in Lagern der Kurden, andere, wie Carla S., unter türkischer Kontrolle.
Zudem sind mehrere Hundert Personen auf eigene Faust nach Deutschland zurückgekehrt, 110 von ihnen hatten laut Sicherheitsbehörden an Kämpfen teilgenommen. Etliche stehen nun vor Gericht, etwa 70 der Zurückgekehrten sind bereits verurteilt. Viele von ihnen behaupten, geläutert zu sein, nur noch in Frieden leben zu wollen. Jeder dieser Fälle aber ist für die Behörden heikel: Kann man diesen Menschen trauen?
Es ist eine Grundsatzfrage: Wie geht der Staat mit Menschen um, die sich radikalisiert haben? Die den deutschen Staat und seine BewohnerInnen bekämpfen wollten? Die die Gräueltaten des IS – Massenmord, Folter, Vergewaltigungen – hinnahmen oder gar daran beteiligt waren? Die vielleicht weiter gefährlich sind – oder auch ehrlich bereuen.
Es ist das Bild von Gefährdern, das jetzt dominiert. Von Menschen, die verroht sind, zu allem bereit. Eine Rückholung der in Syrien inhaftierten Deutschen sei möglich, aber nur nach strenger Prüfung, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Er will keine „gefährlichen Leute“ aufnehmen und plädiert für ein internationales Tribunal. Auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) zögerte: Gefangene könnten nur nach Deutschland kommen, wenn sie hier direkt in Gewahrsam kämen. Und gerade erst beschloss die Bundesregierung, Terrorkämpfern mit doppelter Staatsbürgerschaft den deutschen Pass zu entziehen. Die Botschaft: Wir wollen diese Leute nicht.
Das Passgesetz gilt nicht rückwirkend
Aber der deutsche Staat ist in der Pflicht. Das neue Passgesetz gilt nicht rückwirkend. Die inhaftierten IS-Anhänger sind und bleiben deutsche Staatsbürger. Sie haben ein Recht auf ein faires Verfahren und, nach einer eventuellen Haftstrafe, auf Resozialisierung. Eine Chance auf einen Neuanfang.
Carla S. könnte eine solche zweite Chance bekommen. Mehr als drei Jahre lebte sie mit ihren Kindern im „Kalifat“ des IS. Es waren das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft in Ankara, die nach taz-Informationen ihre Ausreise aus Syrien maßgeblich mitorganisierten, Papiere und Flüge besorgten, für am Ende 1.700 Euro. Zwei deutsche Beamte begleiteten Carla S. im Flieger.
Aber noch traut ihr der Staat nicht. Die Staatsanwaltschaft hatte einen Haftbefehl vorbereitet, wegen Kindesentziehung. Die Bundesanwaltschaft ermittelt zudem wegen Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung. Schon seit 2017 führt die Polizei Carla S. als Gefährderin – als Extremistin, der ein Anschlag zuzutrauen ist. Das Misstrauen trifft auch die, die schon lange wieder zurück in Deutschland sind. Die ihre Haft verbüßt haben und jetzt auf freiem Fuß sind. Frühere IS-AnhängerInnen wie Karolina R.
Ein Mittwoch im Juni 2015, Saal 1 des Oberlandesgerichts Düsseldorf, Urteilsverkündung. Hinter der dicken Panzerglasscheibe sitzt die damals 25-jährige Karolina R. Ihr Körper ist von oben bis unten dunkelgrau verhüllt. Erst als die Fotografen den Saal verlassen, macht die junge Frau das Gesicht frei. Richterin Barbara Havliza spricht sie der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland für schuldig: Drei Jahre und neun Monate Haft. Damit ist Karolina R. die erste Frau, die in Deutschland wegen Unterstützung des IS verurteilt wird.
In der Schule schminkt R. sich, trinkt Alkohol
Im Mai 2016 kam sie frei, nach zwei Dritteln der Strafe, auf Bewährung. Das Gericht und Fachleute sahen sie auf einem guten Weg, inzwischen lebt Karolina R. wieder im Rheinland. Aber ihr Fall treibt die Behörden weiter um. Es gibt Zweifel daran, dass Karolina R. wirklich mit der Szene gebrochen hat. Die taz hat versucht, mit Karolina R. und anderen RückkehrerInnen zu sprechen. Die meisten Anwälte und Beratungsstellen raten ihren KlientInnen von Kontakten mit Medien ab. Auch Karolina R. reagierte nicht auf die Anfrage. Als wir an ihrer Wohnungstür klingeln, macht niemand auf. Aber ihr Werdegang wurde im Gerichtsprozess ausgeleuchtet.
Karolina R. ist in Polen geboren, als Kleinkind kam sie mit ihrer Familie ins Rheinland. Die R.s sind katholisch, die Tochter wählt Religion als drittes Fach im Abitur, beginnt eine Ausbildung als Erzieherin. In der Schulzeit kleidet sich R. modern, schminkt sich, trinkt Alkohol. Dann beginnt sie, sich für den Islam zu interessieren und konvertiert. Eine Moschee vermittelt ihr Fared S. als Ehemann. Er ist ihr erster Partner – und nimmt großen Einfluss auf sie.
Heute sitzt Fared S. in Syrien in Haft, bei kurdischen Streitkräften. Er gilt als Topterrorist, als einer von wenigen Deutschen steht er auf der Terrorliste der UN. In Deutschland wartet ein Haftbefehl auf ihn, Journalisten sagte er, er wolle trotzdem zurück. Bekannt wurde S. durch ein IS-Propagandavideo, in dem er in Syrien neben einem Berg von Leichen hockt. „Wie ihr sehen könnt, wir haben diese Tiere geschlachtet“, sagt S. strahlend.
Fared S. wollte schon früh nach Syrien zum IS. Karolina R., seine Frau, zögert, gibt aber schließlich nach. Im Mai 2013 reisen beide mit ihrem neun Monate alten Sohn und R.s Bruder, der ebenfalls konvertiert ist, aus. Sie gehören zur ersten Welle der Auswanderer. Einige Wochen bleibt Karolina R. in Syrien, dann kehrt sie mit dem Kind nach Deutschland zurück. Im Oktober 2013 reist sie noch einmal dorthin – auch weil ihr Mann sich eine Zweitfrau genommen hatte und sie eifersüchtig ist. Diesmal bleibt R. zwei Monate. Zurück in Deutschland, sammelt sie Geld, schickt Pakete und Überweisungen an ihren Mann. Dafür wird sie schließlich verurteilt. Chatprotokolle zeigen, dass sie zu dieser Zeit eine überzeugte IS-Anhängerin ist. „Sie töten diejenigen, die getötet werden müssen. Sie ziehen es wenigstens durch“, schreibt sie einer Bekannten.
Deradikalisierung ist ein langer Prozess
Gut zweieinhalb Jahre sitzt Karolina R. in der Justizvollzugsanstalt Vechta, zeitweise gemeinsam mit ihrem Sohn. Dann kommt die Freilassung auf Bewährung, unter Auflagen: Karolina R. bekommt einen Bewährungshelfer und muss zu ihrem Deradikalisierungsberater Kontakt halten. Auslandsreisen müssen genehmigt werden. Die Bewährung ist auf vier Jahre festgesetzt – bis Mai 2020.
Thomas Mücke kennt den Fall Karolina R. und viele andere. Mücke ist Chef des Violence Prevention Network. Der Deradikalisierungsverein betreut derzeit 300 Islamisten oder solche, die es einmal waren. 60 von ihnen sitzen in Haft. Für Mücke ist klar, dass die früheren IS-Anhänger für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen. „Aber sie brauchen auch die Chance auf einen Neuanfang. Irgendwann werden sie in Deutschland sein oder aus den Knästen rauskommen“, sagt er. „Eine Resozialisierung ist alternativlos.“
Mücke ist optimistisch. Eine Deradikalisierung sei zwar ein langer Prozess. Erst nach Jahren könne man wirklich von einem Abschluss sprechen. Dann, wenn es keinerlei Kontakte mehr ins extremistische Milieu gebe und auch eine glaubhafte Distanz zur Ideologie erfolgt ist. „Bei denen, die in Haft waren, hatten wir noch keinen Rückfall.“
Bei Kreshnik B. aus Hessen etwa ist es gut gelaufen. Mit 19 Jahren ging er zum IS, er kam zurück und wurde als erster deutscher IS-Ausgereister verurteilt, zu knapp vier Jahren. Auch er wurde vorzeitig aus der Haft entlassen – und führt heute ein bürgerliches Leben, wie sein Anwalt es nennt. Sein ehemaliger Berater vom Violence Prevention Network sagt: „Er hat sich von der Szene distanziert und ist aus seinen alten Gedankenmustern raus. Er hat einen geregelten Alltag und ist erfolgreich resozialisiert.“ Kreshnik B., ein Vorzeigefall. Andere hielten der Terrortruppe in Syrien und dem Irak bis zum Schluss die Treue – oder kamen am Ende nicht mehr raus. So wie bis vor Kurzem Carla S.
Carla S. habe sich distanziert
Auch die Oberhausenerin wird christlich aufgezogen, macht ihr Abitur. Frühere Fotos zeigen eine lachende Frau mit dunklen Haaren. Später ist sie verschleiert zu sehen, mit ernsten blaugrauen Augen. Carla S. entdeckt die salafistische Szene für sich. Sie begeistert sich für den IS, gibt sich im Internet den Namen „Carla_ISIS“. Im Oktober 2015 verlässt sie ihren Mann, nimmt die drei gemeinsamen Kinder und folgt Bekannten nach Syrien. Ein Foto zeigt sie mit ihren Kindern in einem Haus, in der Ecke steht ein Maschinengewehr. Ihrer Mutter hinterlässt Carla S. einen Abschiedsbrief. „Ich fühle mich hier in Deutschland schon lange sehr unwohl und möchte nicht, dass meine Kinder hier groß werden.“
Die Familie von Carla S. lehnt eine Anfrage der taz ab, sie redet momentan nicht mit Medien. Aber sie tat es früher. Den Abschiedsbrief etwa trug die Mutter bei Spiegel TV vor. Nach taz-Informationen beteuerte Carla S. inzwischen gegenüber deutschen Behörden, sie habe sich schon kurz nach der Ankunft beim IS von diesem distanziert. Mehrere Ausreiseversuche seien aber gescheitert.
Was Carla S. in Syrien wirklich tat, versuchen die Behörden herauszufinden. Laut Ermittlungen war sie in Rakka, der Hochburg des Kalifats. Sie heiratete einen IS-Kämpfer, bekam ein viertes Kind. Im Dezember 2018 kommt ihr neunjähriger Sohn bei einem Bombenangriff ums Leben. Carla S. flieht in Richtung Türkei, wird aber kurz vor der Grenze festgenommen – und ins Lager bei Asas gebracht.
Damals hatte sich Carla S. erstmals wieder an ihre Mutter gewandt. „Hallo Mama“, schrieb sie via WhatsApp. „Ich weiß, das ist jetzt alles viel auf einmal, was jetzt kommt.“ Carla S. berichtet vom Tod ihres Sohnes und dass sie Geld und Hilfe brauche. Ihre Mutter und ihr früherer Mann setzen alles in Gang, um Carla S. und die Kinder zurückzuholen, sie reisen bis in die Türkei. Auch Carla S. schreibt an das Auswärtige Amt. Zunächst vergebens.
Die Rückreisen sollen „kontrolliert“ geschehen
Anwalt Mahmut Erdem verhandelt für die Familie. Er tauscht sich mit türkischen Behörden aus. Und er spricht mit dem Auswärtigen Amt: Referat 511, „Nothilfe für Deutsche im Ausland“. Über die Arbeit dort herrscht Stillschweigen. Es liefen Einzelfallprüfungen, heißt es nur. Diese aber gestalteten sich schwierig, weil es in Syrien keine konsularischen Kontakte gebe. „Am Anfang bewegte sich gar nichts“, sagt Erdem. Er hat dafür kein Verständnis. „Egal was diese Leute gemacht haben: Sie sind Deutsche.“ Die Verhältnisse in den Gefangenenlagern seien katastrophal, gerade für Kinder. „Der Staat kann seine Bürger nicht einfach in der Wüste lassen, sondern hat die Pflicht, sich um sie zu kümmern.“
Hinter den Kulissen aber werden seit Monaten im Referat 511 die Fälle der inhaftierten IS-Leute geprüft. Auch wenn die Betroffenen Deutsche seien, hätten sie kein Recht auf Rückholung, heißt es aus der Bundesregierung. Nur die Einreise müsse Ihnen genehmigt werden. Die Linie lautet: Erst wenn die Identität geklärt und eine Strafverfolgung in Deutschland gesichert ist, kommt eine Rückholung infrage. In 21 Fällen ist dies bereits gelungen, hier liegen Haftbefehle vor. Die Rückreisen sollen „kontrolliert“ geschehen, Schritt für Schritt. Mit Carla S. ist nun der Auftakt gemacht.
Für die deutsche Politik gibt es dabei nicht viel zu gewinnen. Im Gegenteil: Es ist es ein Risiko. Begeht einer der Zurückgeholten einen Anschlag, wäre der Aufschrei riesig. Die Sicherheitsbehörden sind zwiegespalten. Einerseits könnten die Rückkehrer als Kronzeugen auspacken. Andererseits: Kommen die Islamisten nicht in Haft, müssen sie in Deutschland aufwendig überwacht werden.
Für Barbara Havliza ist es keine Frage, dass man die Ausgereisten zurückholen muss. „Bei denen, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben, haben wir gar keine andere Wahl, wenn die zurücksollen oder -wollen. Es ist auch ihr Land, weil sie deutsche Staatsbürger sind.“ Havliza hat sieben Jahre lang den Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht Düsseldorf geleitet, hat Prozesse gegen viele Islamisten und Dschihadisten geführt, hat die Sauerlandgruppe und die Düsseldorfer Al-Qaida-Zelle verurteilt. Inzwischen ist Havliza in die Politik gewechselt: Seit 2017 ist sie für die CDU Justizministerin in Hannover.
Wie erkennt man, ob jemand gefährlich ist?
Havliza sitzt in ihrem Büro im Justizministerium, über ihrem Schreibtisch hängt ein Gemälde: ein Wolf, der neben einer Frau frontal auf den Betrachter zuzugehen scheint. Wie erkennt man, ob jemand gefährlich ist, Frau Havliza? Oder ob er ehrlich bereut und sich distanziert? „Gesinnung herauszufinden, ist das Schwierigste, was es gibt“, sagt Havliza. „Man kann ja nicht in den Kopf hineingucken.“ Havliza überlegt, ganz ruhig sitzt sie da. „Man kann nur rückschließen von Äußerungen und Taten auf innere Haltungen.“ Als Richterin bekomme man dafür ein Gespür. Am Anfang seien es ganz einfache Dinge: „Ist der bereit, aufzustehen, wenn das Gericht den Saal betritt? Nimmt er seine Kopfbedeckung ab? Gibt der einer Frau mittlerweile die Hand?“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auch der konsequent schweigende Angeklagte zeige Reaktionen, aus denen man Schlüsse ziehen könne, sagt Havliza. „Wenn er in Haft einschlägige Literatur liest, Reden schwingt, dann weiß man, dass er sich nicht verändert hat. Ich erinnere mich an einige, die sehr freundlich aufgetreten sind und bei denen wir am Ende dachten: Die sind brandgefährlich. Und in anderen Fällen hat man nach einer gewissen Haftzeit, wenn sie Zwei-Drittel-Anträge stellen, ganz andere Menschen vor sich.“
Zu diesen Fällen scheint Karolina R. gehört zu haben. Havliza hatte schon im Prozess den Eindruck, dass R. sich distanziert. Sie sei zwar eine überzeugte IS-Anhängerin gewesen und „von dem Gedanken begeistert, in einem brutal durchgreifenden Schariastaat zu leben“. Aber sie habe die ganze Dimension des Unrechts erst während des Prozesses begriffen – und auch, wie weit ihr Mann zu gehen bereit gewesen war. Sie erfuhr damals auch vom Tod ihres Bruders, der in Syrien ums Leben kam. „Und sie hat erkannt, dass sie möglicherweise den Kontakt zu ihrer Ursprungsfamilie und zu ihrem Kind verliert, wenn sie sich nicht wegbewegt“, erinnert sich Havliza. „Diese Erkenntnis hat sie wieder geerdet. Sie hoffe, dass Karolina R. ihren Weg machen wird, sagt die frühere Richterin. „Danach sah es aus.“
Hört man sich heute in Karolina R.s Wohnort im Rheinland um, sind die Einschätzungen weniger optimistisch. Man vernimmt Zweifel daran, dass Karolina R. wirklich ausgestiegen ist. Sie kleide sich weiter im schwarzen Gewand, nur das Gesicht sei heute frei, heißt es. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis sei sie nach Mekka gepilgert, sie soll eine Auswanderung in die Golfstaaten erwägen. Das alles steht ihr frei und ist nicht strafbar, wird von Experten aber als Indiz gewertet, das gegen einen Ausstieg spricht. Zudem sei ihr neuer Partner polizeibekannt. Offizielle Äußerungen der Behörden gibt es nicht. Fragt man nach, heißt es stets: „Zu Einzelfällen können wir nichts sagen.“
Keine Alternative zur Rückholung
Bei Carla S. steht alles noch am Anfang. Ihre Rückholung aus Syrien klappte, weil das Auswärtige Amt mit türkischen Behörden verhandeln konnte und diese das Ansinnen unterstützten. Dass Carla S. in Deutschland verhaftet werde, sei ihr klar gewesen, sagt Anwalt Erdem. Im Ergebnis lobt er die Rückholaktion. „Das Ganze hat zu lange gedauert. Aber wichtig ist, dass Carla und ihre Kinder wieder in Deutschland sind.“ Nun müssten weitere Rückkehrwillige folgen.
Aber auch im Fall Carla S. setzen die Behörden noch viele Fragezeichen. Allen voran die Bundesanwaltschaft, die wegen Terrorverdachts ermittelt. Mehr als drei Jahre lebte die 32-Jährige im IS-Gebiet, eine lange Zeit. Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass die Oberhausenerin dort nicht nur am Herd stand, heißt es aus Sicherheitskreisen. Nachgegangen wird etwa dem Verdacht, dass Carla S. mit hochrangigen IS-Kadern in Richtung Türkei geflohen sei.
Thomas Mücke, der Chef des Deradikalisierungsvereins VPN, sieht trotzdem keine Alternative dazu, die IS-Anhänger zurückzuholen. „Sie kommen aus dieser Gesellschaft, sie haben sich hier radikalisiert. Also hat diese Gesellschaft auch eine Verantwortung.“ Und Mücke verweist auf die eigene Arbeit: Gerade diese zeige, dass es möglich ist, diese Menschen wieder zu integrieren. Das Bundesinnenministerium konstatiert dagegen, dass bei den meisten Rückkehrern „von einer weiterhin bestehenden islamistischen Grundhaltung ausgegangen werden“ müsse.
Bei Karolina R. hat der Staat noch ein Jahr Zeit, ihren Weg zurück in diese Gesellschaft zu begleiten. So lange, wie ihre Bewährung noch läuft. Dann muss er darauf vertrauen, dass die 28-Jährige der Terrorideologie tatsächlich abgeschworen hat – oder er muss sie erneut zum Fall für die Sicherheitsbehörden machen.
Kindesentziehung in besonders schwerem Fall
Carla S. dürfte vorerst in Haft bleiben. Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf wirft ihr Kindesentziehung in einem besonders schweren Fall vor, weil ihr Sohn in Syrien starb. Darauf steht eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr. Dazu kommt womöglich noch eine Anklage der Bundesanwaltschaft.
Auch bei Carla S. wird am Ende eine Rolle spielen: Wie glaubhaft ist ihre Abkehr vom IS? Kann man ihr trauen? Auch in ihrem Fall wird eine Aussteigerhilfe ihr Unterstützung anbieten, sich aus der Dschihadszene zu lösen. Damit die 32-Jährige vielleicht irgendwann wieder ein unauffälliges Leben führen kann. Die Behörden werden das sehr genau im Auge behalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft