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IG Metaller für ArbeitszeitverkürzungDie Avantgarde trägt Blaumann

Die Siemensmitarbeiter sind im Warnstreik. Sie kämpfen für kürzere Arbeitszeiten. Eine revolutionäre Forderung in einer auf Effizienz gepolten Gesellschaft.

Warnstreikender bei den Berliner Siemenswerken Foto: Karsten Thielker

Berlin taz | Die Vorkämpfer und Vorkämpferinnen für die Humanisierung der Arbeit tragen weder Hipsterbärte noch Vintage-Klamotten, und sie posieren nicht mit progressivem Getwitter und Geblogge – die Menschen, die wirklich für Fortschritt sorgen wollen, tragen an diesem Dienstag in Berlin Blaumann und Gewerkschaftsfahnen, kommen überpünktlich zur Streikkundgebung und reden eine Sprache, die jeder versteht: sichere Jobs, mehr Lohn, weniger stressige Arbeit!

Arbeitskämpfe, das sind auch sich Jahr für Jahr wiederholende Rituale, bei denen es, oberflächlich betrachtet, um die berühmten Zehntelprozente hinter dem Komma geht. Arbeitskämpfe, das sind wehende Gewerkschaftsfahnen, Männer im Blaumann, die Trillerpfeife im Mund. Eine Welt von gestern, so erscheint es so manchem Anzugträger in den schicken Büros mit der Glasfassade.

An diesem diesigen Dienstagmorgen im Januar aber treibt es Hunderte Frauen und Männer auf die Straße. Viele tragen Helme auf dem Kopf. Manche haben die orangefarbenen Westen ihrer Gewerkschaft übergezogen, mit der Aufschrift „Warnstreik“. Der Stadtteil, in dem die Kundgebung abgehalten wird, trägt den Namen des Werks, um das es hier geht: Siemensstadt.

Ja, kennen wir, mag da mancher denken, das Übliche. Und doch ist es so, dass die Siemens-Beschäftigten an diesem Morgen eine Avantgarde für etwas bilden, das in den letzten Jahrzehnten fast in Vergessenheit zu geraten drohte. Es geht hier auch um mehr Lohn, um Beschäftigungsgarantieren, um ein ganzes Werk, das schließen soll.

Aber eben auch: um weniger Arbeit. Eine revolutionäre Forderung, und eine, die nicht nur die Metaller etwas angeht, sondern diese ganze, auf pure Effizienz gepolte Gesellschaft.

Arbeitszeit, das ist ein Thema, das für die Gewerkschaft mit großen Erfolgen, aber auch einem Trauma verbunden ist. Jetzt aber sei die Zeit wieder reif dafür, haben sie ent­schieden.

Zeit haben, wenn Angehörige Pflege bedürfen

„Passendere Arbeitszeiten sind gerade für junge Beschäftigte attraktiv, die eine Familie gründen wollen“, sagt Marie Beckmann, seit sechs Jahren Konstrukteurin im Berliner Siemens-Dynamowerk, die sich der Demonstration angeschlossen hat. „Wenn ich Kinder hätte, würde ich die Reduzierung in Anspruch nehmen.“ Marie Beckmann ist mit einem dicken Schal und einer Strickmütze zur Kundgebung gekommen, darüber trägt sie jetzt einen weißen Arbeitshelm.

Die Reduzierung, sagt sie, sei aber auch für andere ein gutes Modell. „Wer kleine Kinder hat, kann in Elternzeit gehen.“ Für Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen gebe es solche gesetzliche Regelungen nicht. „Die würden von unserem Tarifvertrag richtig profitieren.“ Das gelte auch für Beschäftigte, die aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten wollen, oder für solche, die berufsbegleitend studieren möchten.

83 Prozent der IG-Metall-Mitglieder haben sich für zeitweilige Verkürzungen der Arbeitszeit ausgesprochen. Dabei klingen die Gewerkschaftsforderungen eher bescheiden – jedenfalls im Vergleich zum Kampf um die Abschaffung der 6-Tage-Woche in den 1950er Jahren und zu dem für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in den 1980er Jahren. Die Metaller verlangen einen tarifvertraglich gesicherten Anspruch der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, ihre wöchentliche Arbeitszeit für zwei Jahre auf 28 Stunden zu verkürzen, wenn sie das denn möchten. Die Gewerkschaft nennt das „verkürzte Vollzeit“.

Der Clou dabei: Die Betroffenen sollen das Recht erhalten, im Anschluss wieder in Vollzeit zu arbeiten, damit sie nicht dauerhaft weniger verdienen. Wer aber die Regelung in Anspruch nimmt, soll in den zwei Jahren entsprechend weniger verdienen – aber für besondere Gruppen will die IG Metall diesen Lohnverlust durch zu­sätzliche Zahlungen abfedern. Beschäftigte mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sollen einen Lohnzuschuss von 200 Euro pro Monat bekommen, Schichtarbeiter einen Zuschuss von 750 Euro pro Jahr erhalten.

Für Arbeitszeiten, die besser zum Leben passen

Die Arbeitgeber sind, wie es bei Tarifverhandlungen so üblich ist, entsetzt und lehnen diese Forderungen rundweg ab. Aber sie wissen auch: Die IG Metall ist verflucht stark.

Bei den Beschäftigten aber trifft die IG Metall mit ihren Forderungen einen Nerv; das ist in jedem Augenblick in Berlin-Siemensstadt zu spüren. Nicht nur die Funktionäre, auch die Streikenden nennen in einem Atemzug ihre drei Anliegen, für die sie auf der Straße stehen: Erhalt der Arbeitsplätze, mehr Lohn, bessere Arbeitszeiten.

Pfeifen für eine flexiblere Arbeitszeit. Metallerin im Warnstreik in Berlin Foto: Karsten Thielker

Einer von ihnen ist Frederik Groß, seit sechs Jahren Laborfachkraft bei Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH). „Ich kämpfe selbstverständlich für Arbeitszeiten, die besser zum Leben passen“, sagt er. Die vorübergehende Arbeitszeitreduzierung wird der Vater zweier Kleinkinder aber vermutlich nicht in Anspruch nehmen. „Wir brauchen das Geld, das ich in Vollzeit verdiene.“ Die Miete sei ein gehöriger Posten im Haushaltsbudget. Groß denkt aber auch global: Streikrecht und Tarifverhandlungen auf Augenhöhe seien international gesehen keine Selbstverständlichkeit. „Wir müssen beides stärken, indem wir es nutzen.“

Es ist nicht so, dass nur die Arbeitszeitverkürzung die Metaller auf die Straße getrieben hat. In Siemensstadt geht es auch um den eigenen Job, um Existenzsorgen. Denn der in Berlin gegründete Weltkonzern, der im vergangenen Jahr mehr als 6 Milliarden Euro Gewinn machte, will das Berliner Dynamowerk schleifen. Dieses Vorhaben heizt den bundesweiten Tarifkonflikt zusätzlich an. „Wir werden das Dynamowerk erhalten“, verspricht IG-Metall-Funktionär Klaus Abel bei der Warn­streikkundgebung vor der Sie­mens-Zen­trale. Für diese Zuversicht erntet er Trommelwirbel, ­Applaus und Gejohle.

Der nächste Schritt: 24-Stunden-Streiks

Täglich finden derzeit bundesweit Warnstreiks statt, weil die Arbeitgeber bislang gerade mal einen Inflationsausgleich anbieten und eine Verlängerung der Arbeitszeiten verlangen, statt eine Verkürzung vorzusehen. In ein paar Tagen, am 24. Januar, kommt es zur vierten und vorentscheidenden Verhandlungsrunde im wichtigen Tarifbezirk Baden-Württemberg „Ich habe die Hoffnung, dass sich bis dahin noch einiges tut“, verbreitet IG-Metall-Chef Jörg Hofmann Optimismus.

Gelingt dort kein Durchbruch, wird die Gewerkschaft die nächste Eskalationsstufe einleiten. Sie könnte eine Urabstimmung über Flächenstreiks durchführen; wahrscheinlicher aber ist, dass sie zu ganztägigen Warnstreiks aufrufen wird. Solche 24-Stunden-Streiks könnten bei relativ geringem Aufwand eine hohe Wirkung erzielen, weil sie die Welt der Waren- und Logistikketten der Unternehmen durcheinanderbringen. Angesichts prall gefüllter Auftragsbücher träfe dies die Unternehmen hart.

Viele Kolleginnen und Kollegen unterstützen die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, auch wenn sie sie selbst nicht in Anspruch nehmen wollen. „Irgendwann im Leben kann das jeder brauchen“, heißt es. Um einen möglicherweise länger andauernden Tarifkonflikt durchstehen zu können, ist die IG Metall auf Rücklagen angewiesen. „Unsere Streikkasse ist gut gefüllt“, ist Vorstandsmitglied Jürgen Kerner optimistisch. Die Einnahmen seien letztes Jahr um 2,5 Prozent auf 561 Millionen Euro gestiegen, neue Rückstellungen in Höhe von 84 Millionen Euro seien gebildet worden. Die Mitgliederzahl blieb mit 2,26 Millionen stabil.

Das ist wichtig: Denn im Falle eines Streiks bekommen die Beschäftigten für die Zeit ihres Ausstands keinen Lohn, und die Gewerkschaft gleicht einen Großteil des Verdienstausfalls aus.

„Klar würde ich streiken“

Wenn es zum Streik kommt, dann ist Frank Schüler auf jeden Fall mit dabei. Seit 25 Jahren arbeitet er bei Siemens, derzeit ist er im Dreischichtbetrieb als Lagerist im Messgerätewerk. „Na klar würde ich auch für die Möglichkeit zur Arbeitszeitreduzierung streiken“, sagt er. Seine Eltern seien schon älter und irgendwann vielleicht einmal pflegebedürftig. „Dann brauche ich mehr Zeit für sie.“ Wichtig sei aber auch, wieder in Vollzeit zurückkehren zu können, damit das Geld reicht.

Schüler ist fasziniert von Modellprojekten in Schweden. „Die arbeiten bei vollem Lohnausgleich nur noch sechs Stunden am Tag.“ Und dabei steige gleichzeitig die Produktivität in den beteiligten Betrieben oder Verwaltungen.

Wie gut die IG Metall aufgestellt ist, lässt sich auf der Berliner Kundgebung an Kleinigkeiten ablesen. Die Veranstaltung beginnt auf die Minute genau und verläuft reibungslos, und in Windeseile wird eine Attrappe des Siemens-Chefs Joe ­Kaeser auf- und am Ende wieder abgebaut.

Marie Becker, die Konstrukteurin, ist zufrieden – auch wenn ihre eigene berufliche Zukunft bei Siemens ungewiss ist. „Wenn wir unser Arbeitszeitmodell durchsetzen, hilft das auch den Menschen in anderen Branchen. Die können das ebenfalls gebrauchen.“

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8 Kommentare

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  • Gesellschaftlicher Fortschritt kam schon immer aus dieser Ecke.

     

    Die Hipster in Berlin sind allenfalls in den Formen der Selbstvermarktung Innovativ!

  • „„Wir werden das Dynamowerk erhalten“, verspricht IG-Metall-Funktionär Klaus Abel…“

     

    Na toll! Aber hat sich Herr Abel auch überlegt, wie der Betrieb auf diese Weise funktionieren soll und wer die dann produzierten „Dynamos“ (o. ä.) kaufen soll, wenn es keinen Bedarf gibt, für den der Betrieb aufrecht erhalten werden könnte?

     

    Natürlich könnte die IG Metall die Produkte kaufen, natürlich zu marktüblichen Preisen (die Kasse ist ja gut gefüllt). Und natürlich könnte Siemens von diesem Geld dann die Dynamowerker bezahlen!

    Oder wie stellen sich Klaus Abel und die IG Metall das vor?

     

    Pippi Langstrumpf war schon vor vielen Jahrzehnten fast so weit, als Astrid Lindgren sie trällern ließ:

    „2 x 3 macht 4 -

    widdewiddewitt und 3 macht 9e !

    Ich mach' mir die Welt - widdewidde wie sie mir gefällt ... “

  • Ich finde die Forderung der Gewerkschaften lächerlich. Bei 6,7 Milliarden Gewinn in 2017 wäre die einzige korrekte Forderung 35 Stunden bei vollen Lohnausgleich und mind. 5% mehr Gehalt.

     

    Aber es wird heutzutage ja gar nicht mehr darüber diskutiert, dass die Mitarbeiter an derart exorbitanten Gewinnen angemessen beteiligt werden sollten, es wird als selbstverständlich hingenommen, alles für die Aktionäre und Vorstände.

    • @Frank Fischer:

      Ein Blick auf das Detail lohnt.

      Siemens Mitarbeiter verdienten in 2016 durchschnittlich 80700 €.

      Daimler BASF usw. um dei 70.000 €.

       

      Allein diese Zahlen zeigen, dass ein Schimpfen auf die Arbeitgeber und Aktionäre nur ein Teilaspekt ist.

      Vergleichen Sie diese Ghälter mit anderen Branchen und dann überlegen Sie mal wo wohl der Umbau beginnen solte! Bei den gepamperten Angestellten der Großindustrie bestimmt nicht!

       

      Wir haben auch eine Umschichtung von Klein nach Groß (eben nicht nur von Arm nach Reich). Und die Gewerkschaften tragen da eine gehörige Portion Verantwortung! Vielmehr werden ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht.

  • "weniger stressige Arbeit!"

     

    Genau. Die können jetzt Leiharbeiter verrichten, die gnädigerweise, auch dank IG-Metall, jetzt 48 Monate im Betrieb verbleiben dürfen.

     

    Deutsche Gewerkschaften sind ein Teil des Problems.

  • Obwohl ich gerne mit einem Komplettumbau der Wirtschaft / Gesellschaft für eine langfristige Tragfähigkeit unter dem Gesichtspunkt Generationengerechtigkeit und stabiler Ökologie gedanklich spiele.

     

    Ich glaube das läuft so nicht. Meine Beobachtungen gerade wenn es um Großkonzerne wie Siemens oder Automobilindustrie und deren Gewerkschaftsforderungen geht und das vergleiche mit kleineren Betrieben oder anderen Ländern.

    Verzicht hier und Geben dort, das wäre mal eine Ansage. Leiharbeiter, Befristete, ausgeblutete Vorlieferanten, usw. alles zu Gunsten der Großen und die bekommen dann Sonderweihnachstzahlungen im hohen einstelligen Tausender Bereich.

     

    Standortschließungen, ja, das ist regional übel für die Betroffenen. Gibts bei Kleinbetriben überall, da redet nur niemand drüber. UNd da gibts auch keine Sozialpläne oder Politiker die sich mit dummen Sprüchen, von den Medien dankend aufgenommen, als Retter generieren wollen.

    Zu pflegende Angehgörige? Hat jeder, egal ob der bei Siemens arbeitet oder nicht.

     

    Es ist mir zu bequem hier bei starken Firmen den starken Forderungskatalog aufzumachen.

    • 8G
      80198 (Profil gelöscht)
      @Tom Farmer:

      Ich versehe bis heute nicht, weshalb das Spiel der Arbeitgeber immer funktioniert. Wieso halten wir Normalos nicht zusammen und denken auch an die schlechter Bezahlten ? Es geht doch nicht so weiter. Billiglöhner und Leiharbeiter auf der einen Seite und angestellte Führungskräfte / Verantwortliche machen den großen Reibach

      • @80198 (Profil gelöscht):

        "If you want a better world - take a look at yourself and make a change"

        - Batman

         

        Wieviel Trinkgeld geben sie denn wenn sie Einkaufen, zum McDonalds gehen oder sich ein Amazon-Paket (mit Prime sogar kostenlose Expresslieferung) bestellen?