Hunderte Tote in Mekka: „Klimawandel nicht verantwortlich“
Die Verantwortung für die Toten liege allein bei Saudi-Arabien, sagt Regimekritikerin Madawi al-Rasheed. Künftig sollten muslimische Staaten die Hadsch organisieren.
taz: Frau al-Rasheed, wieder sind Hunderte Menschen bei der islamischen Pilgerfahrt gestorben. Warum kommt es in Mekka immer wieder zu Tragödien?
Madawi al-Rasheed: Die Realität vor Ort klafft auseinander mit dem Narrativ der saudischen Regierung, dass sie sich um die Pilger kümmert, dass sie zum Beispiel genügend Trinkbrunnen bereitstellt und die Gesundheit und Sicherheit der Menschen schützt. Jedes Jahr kommt es während der Hadsch zu irgendeiner Katastrophe. Es ist unglaublich, dass im 21. Jahrhundert viele hundert arme Pilger ums Leben kommen und ihre Leichen verstreut in den Straßen des Pilgerareals herumliegen. Das ist apokalyptisch.
Dieses Mal wurden die meisten offenbar nicht wie 2015 durch eine Massenpanik getötet, sondern starben infolge von hohen Temperaturen.
Das verweist auf ein langfristiges Problem: Saudi-Arabien nimmt den Klimawandel nicht ernst. Zwar ist der Klimawandel natürlich ein globales Problem, aber bei den Vorbereitungen für die Hadsch wurde die Tatsache offensichtlich nicht berücksichtigt, dass die Temperatur heutzutage bei 50 Grad liegen kann, wenn die Pilgerzeit in den Sommer fällt.
Die Sozialanthropologin ist Fellow der British Academy und Gastprofessorin an der London School of Economics. 2020 erschien ihr Buch „The Son King“ über Saudi-Arabien unter Mohammed bin Salman.
Im Sommer war es in Saudi-Arabien aber doch schon immer heiß.
Natürlich, aber früher herrschten eher zwischen 40 und 45 Grad. Dennoch: Wir können den Klimawandel nicht verantwortlich machen. Bei den Toten in Mekka handelt sich um ein Versäumnis der Regierung. Wenn die Temperatur steigt und man über 2 Millionen Pilger im Land hat, stellt sich die Frage: Welche Vorkehrungen braucht es, um eine Katastrophe zu verhindern? Stattdessen werden die Saudis jetzt im Nachhinein die Pilger selbst verantwortlich machen. Das ist immer so: Die Pilger sind demnach durch eigenes Verschulden gestorben. In der Vergangenheit hieß es in saudischen Medien oft, die Toten, wenn sie aus armen afrikanischen Ländern kamen, seien ignorant gewesen und hätten die Anweisungen nicht befolgt. Da ist auch viel Rassismus im Spiel.
Allerdings hat die saudische Regierung in den letzten Jahren tatsächlich viel in die Infrastruktur in Mekka investiert und die Pilgerorte massiv ausgebaut und auch verbessert. Oder nicht?
Das hat sie. Allerdings gibt es auch eine Menge Propaganda. Kurz vor der Katastrophe habe ich mir den Twitter-Account von Mark C. Thompson angesehen, ein britischer Akademiker, der zum Islam konvertiert ist und in Saudi-Arabien lebt. Er hat dieses Jahr zum ersten Mal die Hadsch gemacht und in den letzten Tagen Fotos verbreitet, auf denen er auf bequemen Sofas im Freien sitzt. Wenige Stunden später sah ich die Bilder der Leichen.
Es gibt immer mehr Muslime weltweit. Wird die Hadsch zu einer Massenveranstaltung, die sich nicht mehr kontrollieren lässt?
Man muss wissen, dass es Teil der (staatlichen Entwicklungsstrategie) „Vision 2030“ ist, die Zahl der Pilger sogar noch zu erhöhen. Das Ziel ist, dass 3 Millionen Pilger allein zur Hadsch ins Land kommen. Aber auch unabhängig davon kann die bloße Anzahl der Pilger nicht als Entschuldigung für den Tod von mehr als 600 Menschen herhalten. In Indien gibt es Pilgerfahrten mit mehr als 3 Millionen Menschen. Das Problem ist, dass in Saudi-Arabien niemand verantwortlich gemacht wird. Wir werden nie erfahren, warum die Menschen in Mekka keine Erste Hilfe bekommen haben und warum die Leichen nicht eingesammelt wurden. Hinzu kommt, dass der Geist der Pilgerfahrt verloren gegangen ist.
Inwiefern? Was meinen Sie damit?
Bei der Hadsch sind eigentlich alle gleich. Ob Schwarz oder weiß, reich oder arm, alle sind gleich gekleidet und vollziehen die gleichen Rituale. Es geht um Demut, Spiritualität und die Annäherung an Gott. Aber in Saudi-Arabien werden die Hierarchien in der Pilgersaison reproduziert. Wohlhabende wohnen in Luxushotels und fahren im Golfmobil durch Mekka. Die Unterschiede werden eher reproduziert als aufgelöst.
Dadurch kommt allerdings niemand ums Leben.
Das Grundproblem ist die Kommerzialisierung der Hadsch, die zu Missständen führt. Denn all die Annehmlichkeiten sind nur für Wohlhabende. Es stimmt, dass die Regierung Mekka modernisiert hat. Dafür hat sie viel Geld ausgegeben, bekommt aber viel auch wieder rein. Diese Form von Entwicklung dient nicht dazu, den normalen Pilgern Sicherheit und Komfort zu bieten. Sie sollen nur konsumieren. Um die Entwicklung voranzutreiben, haben die Saudis viele Grundstücke in Mekka konfisziert. Diese Erschließung war aber so teuer, dass überall Fünf-Sterne-Hotels, Einkaufszentren und McDonald’s oder KFC-Filialen entstanden sind. Mekka ist mittlerweile wie ein riesiges Einkaufszentrum.
Mit der Pilgerfahrt kamen schon immer Menschen ins heutige Saudi-Arabien, ohne dass die Herrscher wirklich den Überblick behielten. Heute versucht das Regime mehr denn je, die Hadsch unter Kontrolle zu bringen. Doch es gibt Berichte über Pilger, die nicht offiziell registriert sind. Was wissen Sie?
Zum einen gibt es einen Visahandel. Die Pilgervisa werden nach einem Quotensystem ausgestellt. Für jedes Land, in dem Muslime leben, gibt es eine bestimmte Anzahl an Visa. Daran sind Reiseunternehmen beteiligt, die die Unterkünfte und so weiter buchen. Teilweise sehen wir Zweit- und Drittverkäufe von Visa. Zum anderen gibt es Pilger, die die Visumspflicht umgehen. Um in dieses System Transparenz zu bringen, bräuchte es investigativen Journalismus, der fragt, wie Visa ausgestellt und verkauft werden und wer daraus Profit schlägt.
Was schlagen Sie vor, um künftige Katastrophen zu verhindern?
Transparenz wäre der erste Schritt. Zweitens, und das ist eine radikale Forderung, braucht es einen Rat muslimischer Länder, der die Hadsch verantwortet. Dieser könnte Wege finden, die Anzahl der Pilger zu begrenzen oder auf andere Weise solchen Katastrophen vorzubeugen.
Warum ist diese Forderung radikal?
Die Saudis werden die Verantwortung und das Management der Hadsch nicht teilen. Obwohl sie das Erbe aller Muslime weltweit ist, betrachten die Saudis die Hadsch als ihren Zuständigkeitsbereich. Für die saudische Regierung ist sie nicht nur ein geldbringendes Geschäft, sie verleiht ihr auch Legitimität. Der König trägt ja den Titel „Diener der beiden heiligen Stätten“ (Mekka und Medina). Er wird die Kontrolle über Mekka niemals aufgeben, nicht König Salman und auch kein anderer König.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“