Humanitäre Lage im Gazastreifen: Das Wasser wird knapp
Israel hat seine Stromlieferungen nach Gaza unterbrochen. Das soll die Hamas zu Zugeständnissen zwingen – und hat dramatische Folgen im Alltag.

Früher, in seiner Wohnung in Rafah, an der Grenze zum Nachbarland Ägypten, öffnete Ahmed al-Qassas einfach den Hahn. Nun warte seine Familie täglich darauf, dass der Lastwagen mit entsalztem Meerwasser ins Camp komme. „Manchmal bezahlen wir eine kleine Gebühr, manchmal stellen Hilfsorganisationen es kostenlos zur Verfügung“, erzählt al-Qassas. Mit Kanistern in den Händen stellen er oder seine Kinder sich dann in die Reihe der Wartenden. Es ist die einzige Option, um günstig an sauberes Trinkwasser zu kommen.
Bisher konnte al-Qassas sich die „kleine Gebühr“ leisten – obwohl er in Rafah neben der Wohnung auch seine Arbeit in einem Supermarkt verloren hat. Doch seit vergangener Woche hat Israel seine Stromlieferungen in den Gazastreifen wieder unterbrochen: ein Druckmittel, um die Hamas zu Zugeständnissen in den Verhandlungen über den Geisel-Waffenruhe-Deal zu zwingen. Und eine Bedrohung für Familie al-Qassas. Denn mit dem Strom aus Israel wurde im nördlich von Chan Junis gelegenen Deir al-Balah die Entsalzungsanlage betrieben, die Südgaza mit Frischwasser versorgt. Ohne den Strom aus Israel musste die nun in die Notversorgung wechseln. Entsalztes Wasser wird knapp, die Preise dafür steigen.
Schon einmal hatte Israel seine Stromlieferungen in den Gazastreifen gekappt – am 7. Oktober 2023, nach dem Beginn des Massakers der Hamas und anderer militanter Gruppen an israelischen Zivilisten und Soldaten. Etwa 120 Megawatt habe der Gazastreifen damals innerhalb kürzester Zeit eingebüßt, erzählt Mohammed Thabet, Sprecher der Gaza Electricity Distribution Company (GEDCO). Das ist der Großteil des vor dem Krieg im Küstenstreifen verbrauchten Stroms. Das einzige Kraftwerk im Gazastreifen konnte verschiedenen Medien zufolge zusätzliche 80 Megawatt produzieren. Doch auch das reichte längst nicht aus, um den Bedarf zu decken. Mit Treibstoff betriebene Generatoren im Privat- und Firmenbesitz sowie Solarpanels gewannen an Bedeutung. Aber bis heute ist nur ein Bruchteil des Vorkriegsniveaus an Megawatt erreicht.
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Vergebliche Zusammenarbeit mit Israel
Ende 2024 hatten die palästinensische Energiebehörde, GEDCO und US-amerikanische Mediatoren mit Israel ausgehandelt, dass die Entsalzungsanlage in Deir al-Balah mit 5 Megawatt aus Israel versorgt werden soll. Durch israelische Angriffe, erzählt Thabet, sei zuvor die große Stromleitung, die zu der Entsalzungsanlage führt, beschädigt worden. Die Kissufim Line trägt den Namen des Kibbuz, der Deir al-Balah auf israelischer Seite gegenüberliegt. Auch er wurde am 7. Oktober überfallen. GEDCO habe die Kissufim Line zweimal wieder aufgebaut, sagt Thabet. Die Reparatur habe man mit Israel koordiniert, weil die Leitung nahe des Grenzzauns verlaufe.
All die Mühen seien vergeblich gewesen, sagen nun viele. Lokalen Quellen zufolge produziert die Entsalzungsanlage ohne den Strom aus Israel nur noch 30 Prozent der vorherigen Kapazitäten mithilfe von Generatoren und Solarpanels. Israel lässt schon seit Anfang März keine Hilfsgüter mehr in den Gazastreifen – auch keinen Treibstoff. Das eingelagerte Benzin wird teurer, die Vorräte knapper. Irgendwann, so die Befürchtung, fällt die Entsalzungsanlage in Deir al-Balah völlig aus.
Gegenden, die bisher dreimal pro Woche Wasser geliefert bekamen, erhielten es jetzt viel seltener, sagt Thabet. Er fürchtet eine humanitäre Katastrophe.
Auch Angehörige der im Gazastreifen verbliebenen israelischen Geiseln sorgen sich. 24 von ihnen sollen noch am Leben sein, einige Angehörige haben eine Petition vor dem Obersten Gerichtshof eingereicht, die Israel auffordert, die Stromversorgung wieder aufzunehmen. Die Entscheidung der Netanjahu-Regierung, sagen sie, bringe ihre Lieben in Gefahr.
Dreckwasser ist eine Gefahr
Etwa 100 Liter Wasser – zum Trinken, aber auch zum Kochen, Waschen, Abspülen – benötige seine Familie am Tag, erzählt Ahmed al-Qassas. Zwei kleine Kinder – acht Monate und drei Jahre alt – gehören zu ihr, seine Frau und er, die Mutter und der kranke Vater. Vor allem für Kinder und Ältere kann verunreinigtes Wasser schnell zur Gefahr werden.
Obwohl gerade Ramadan ist – ein Monat, in dem Muslime tagsüber fasten, aber morgens und abends auftischen –, habe er seine Frau gebeten, weniger zu kochen, sagt al-Qassas. Kurz nachdem Israel die Kappung der Stromversorgung angekündigt hat, kam zum ersten Mal der Tanklaster nicht ins Camp.
Zum Duschen, Abspülen, Waschen holt die Familie al-Qassas sich Wasser an einer Versorgungsstelle. Es ist trüb – sicher nicht zum Trinken geeignet. Und eigentlich auch nicht zur Körperpflege. Doch eine Wahl bleibt der Familie nicht. Seine kleine Tochter habe gerade eine Hautkrankheit, sagt Ahmed al-Qassas. Der Besuch beim Arzt habe nichts gebracht, die verschriebenen Medikamente könne er sich nicht leisten. Er ist sicher, am Schmutzwasser habe sich die Kleine infiziert. Im ganzen Camp würden die Menschen selber Gruben in den sandigen Boden graben und ihr Abwasser hineinleiten.
Das Abwasser macht auch GEDCO-Sprecher Mohammed Thabet Sorgen. Die Pumpen, die das Wasser reinigten, fielen irgendwann aus, das Brackwasser – etwa aus dem Rinnsal neben dem Zelt von Ahmed al-Qassas – fließe ins Meer. Und damit auch an Israels Küste.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Trotz allem, sagt Ahmed al-Qassas, begegne er jedem neuen Tag mit Geduld und mit Glauben. An Gott. Und daran, dass er auch an diesem Tag wieder Wasser auftreiben kann – irgendwie.
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