Holocaust-Überlebender schreibt an Merz: „Bleiben Sie Mensch, Herr Merz“
Leon Weintraub (99) hat Auschwitz überlebt. Nun wendet er sich mit einem dringenden Appell an den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz.
Antisemiten ist es nicht zu empfehlen, mit Leon Weintraub Streit zu suchen. Einmal, bei einem Besuch in seiner alten Heimatstadt Warschau, begegnete der Auschwitz-Überlebende zwei rechtsradikalen Jugendlichen, die verlangten, dass alle Juden Polen zu verlassen hätten. Die Diskussion endete mit einem Faustschlag, der wohlgemerkt von dem damals 80-jährigen Leon Weintraub ausging.
Dabei ist Weintraub ein zutiefst friedlicher Mensch. Der Mediziner hält auch nichts von Rache an denjenigen, die ihn im Zweiten Weltkrieg gequält haben. „Ich fühle mich als Sieger, nicht als Opfer“, schreibt er in seiner vor drei Jahren erschienenen Autobiographie. Der 99-Jährige gehört zu der immer kleiner werdenden Gruppe von Holocaust-Überlebenden, die sich für Verständigung einsetzen, aber die Geschichte doch wach halten wollen. Und die sich in die Politik einmischen, wenn sie es für nötig halten.
Das hat Leon Weintraub an diesem Dienstag getan. In einem Brief an den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz protestierte er gegen das Zustrombegrenzungsgesetz, dessen Verabschiedung im Bundestag mithilfe der AfD nur knapp scheiterte. „Arbeiten Sie mit demokratischen Parteien und Menschen guten Willens“, forderte Weintraub Merz auf. Das Gesetz sorge für Fremdenfeindlichkeit und eine Polarisierung der Gesellschaft.
Sehr geehrter Herr Merz,
voller Schrecken verfolgen meine Frau und ich Ihre derzeitige Politik. Als 99-jähriger Überlebender vom KL-Auschwitz und Häftling in Flossenbürg-82702, sowie auch anderen Lagern wende ich mich an Sie, Herr Merz, mit der dringenden Bitte, dieses menschenfeindliche „Zustrombegrenzungsgesetz“ nicht weiter zu behandeln.
Dringende Korrekturen in der Migrationspolitik sind sicherlich notwendig. Aber doch bitte nicht in der von Ihnen durchgeführten, verfassungswidrigen und rechtsradikalen Form. Arbeiten Sie mit Vernunft, mit demokratischen Parteien und vor allen Dingen unter den geltenden Gesetzen des deutschen Staates und der Europäischen Union. Die Folgen Ihrer derzeitigen Politik führen bereits schon wieder zu einer Fremdenfeindlichkeit und Polarisierung in der Gesellschaft, die wir Überlebenden des Holocausts so bitter am eigenen Leibe erfahren mussten. Arbeiten Sie mit demokratischen Parteien und Menschen guten Willens. Wenden Sie sich ab von rechtsradikalen Parteien in Deutschland und tragen Sie nicht zu eventuellen Triumphen im rechtsradikalen Lager bei.
Ich habe als Überlebender sehr unter der Propaganda und der Verblendung der Mitläufer im sogenannten 1000-jährigen Reich gelitten, ein großer Teil meiner Familie wurde ermordet. Bitte hören Sie nicht auf die Lockrufe der Rechten und vor allen Dingen, nehmen Sie ernst, was diese von sich geben, sie meinen, was sie propagieren! Unser Grundgesetz deklariert: „Asylrecht ist Menschenrecht“. Wir sind als Menschen geboren, bleiben Sie Mensch, Herr Merz.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Leon Weintraub
Evamaria Loose-Weintraub
Weintraubs Worte haben Gewicht, denn seine Jugend war geprägt von Verfolgung und Mord. Aufgewachsen in einer armen jüdischen Familie im polnischen Łódź, erlebte er als 14-Jähriger die Einrichtung des jüdischen Ghettos durch die Nazis. Er erinnert sich an Leichen, die auf der Straße lagen, an den ständigen Hunger und an seine Zwangsarbeit in einer Werkstatt.
Von Auschwitz nach Groß-Rosen nach Flossenbürg
Im August 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert. Von dort kam er in ein Außenlager des KZ Groß-Rosen zur Zwangsarbeit im Stollen eines Berges, in den die Nazis Teile der Rüstungsindustrie verlagerten. Die Torturen gingen im KZ Flossenbürg weiter und endeten im Schwarzwald. Dort hatten sich die SS-Wachen verdrückt, französische Soldaten befreiten die Überlebenden. Leon Weintraub wog noch 35 Kilogramm.
Später studierte er Medizin in Göttingen und lebte ab 1950 in Warschau. Doch auch dort nahm nach dem Sechstagekrieg Israels der Antisemitismus zu. Weintraub verlor seine Stelle in einer Klinik. So wie Tausende Juden verließ er seine Heimat und fand in Schweden eine neue.
Am Dienstag war Weintraub auf der Heimreise von den Gedenkfeiern in Auschwitz nach Stockholm, als er an Merz appellierte: „Bleiben Sie Mensch, Herr Merz.“
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