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Holocaust-Gedenken in DeutschlandAls Propaganda missbraucht

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Den Holocaust propagandistisch für die Tagespolitik zu missbrauchen, beleidigt nicht nur die Opfer. Es zielt auf eine Umdeutung der Geschichte ab.

Gefährliche Entwicklung: Sogenannte Coronakritiker mit „Judenstern“ als Zeichen ihrer angeblichen Unterdrückung Foto: Boris Roessler/dpa

E s ist fast ein Vierteljahrhundert vergangen, seit die Bundesrepublik Deutschland immer am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1945, den Holocaust-Gedenktag begeht. Der Tag ist mittlerweile mit Ritualen wie den Reden im Bundestag etabliert. Aber auch viele nichtstaatliche und kleinere Initiativen auf regionaler Ebene erinnern am 27. Januar an das Menschheitsverbrechen des unvergleichlichen Massenmords an Juden, an Sinti, Roma und weitere Opfern. Das ist gut so. Aber es ist nicht gut genug.

Denn der Streit über die Deutung des Holocaust hat sich keineswegs abgeschwächt, sondern lediglich verändert. Die Zahl derer, die den Mord leugnen, ist glücklicherweise verschwindend gering und ihr Einfluss noch geringer. Die Relativierung des Massenmords ist dagegen geradezu in Mode gekommen. Die Opfer werden für aktuelle eigene Interessen funktionalisiert.

Das ist perfide, weil sie sich nicht wehren können. Es ist aber auch eine brandgefährliche Entwicklung, wenn sich sogenannte Coronakritiker in die Tradition von Anne Frank stellen, wenn sie sich zum Zeichen ihrer angeblichen Unterdrückung „Judensterne“ anheften oder wenn Rechtspopulisten glauben, kundtun zu können, sie seien die wahren Nachfolger der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944.

Der Versuch, den Holocaust als Propagandamittel für die Tagespolitik zu missbrauchen, beleidigt nicht nur die Opfer. Er zielt auf eine Umdeutung der historischen Ereignisse ab. Denn diese Art der Relativierung lässt nicht nur den Eindruck zurück, die vorgeblich Unterdrückten von heute seien ihrer Grundrechte beraubt. Sie kann auch so interpretiert werden, als sei der Holocaust gar nicht so furchtbar, als sei es ein Ereignis unter vielen gewesen, dem man folglich kein großes Gewicht beimessen müsste.

Diese falsche Historisierung der Ereignisse zwischen 1933 und 1945 bedroht die Gesellschaft mehr als alle NPD-Fahnenträger. Sich ihr entgegenzustellen, ist eine Aufgabe, die nicht nur bei einem Gedenktag im Jahr gefordert ist, sondern täglich und überall.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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4 Kommentare

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  • Die Relativierung des Holocaust ist aber auch schon eine gute, alte, deutsche Tradition. Ich verweise hiermit auf das Gemeinschaftskunde-Lehrbuch aus den "besseren" Fünfziger und Sechziger-Jahren, also dem goldenen AfD-Zeitalter, wo ein Günther Nebelsiek in "Der Gemeinde- Staats- und Weltbürger" ungeniert davon schrieb, dass die fast alle Deutschen ja nichts von den Untaten in den KZ gewusst hätten, aber heute die SBZ (zu diesem Zeitpunkt "sogenannte DDR") das größte noch lebende KZ wäre. Das versteht eine CDU/CSU unter Ausgewogenheit, denn es war als Lehrbuch für den Unterricht damals freigegeben und wir Schüler wurden von unserem Oberstudienrat Dr. Ostzonenflüchtling damit bombardiert und hatten diese Erkenntnisse gläubig zu repetieren.

    Das ging schief, denn wir waren bereits durch die Ereignisse des 2. Juni 1967 infiziert und in uns gärte es. Diese vor Kleinbürgermief unerträglich stinkende BRD hatten wir satt, was mir wegen meiner Diskussionsfreudigkeit ein "ausreichend (-)" als Rache des Herrn Doktors auf dem Zeugnis bescherte.

    Nach 1945 wurde eben halt alles unter den Teppich gekehrt und die Nazi-Enkel von heute in der jungen Union und anderen Organisationen glorifizieren nun eine Epoche, in der es eine heile Welt gab - wenn man zur richtigen Seite gehörte. So ist das Jahr 1936 für "Bernd" Höcke als Musterbeispiel für eine gute AfD-Alleinregierung anzusehen.

    Letztere Eigenschaft gehört zur deutschen Leidkultur und ist die einzige wahre Strategie zum Überleben in der BRD von damals an bis in alle Ewigkeit.

  • Ich möchte an diesem Tag ebenfalls den Massenmord Deutschlands an etwa 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen des 2. Weltkriegs, die man mehr oder weniger absichtlich umkommen ließ, erinnern. Sie werden viel zu wenig erwähnt. www.comlink.de/cl-...itt/agr259.htm#Top

    Sie werden viel zu wenig erwähnt. Sie werden beim Gedenken geradezu verdrängt und sind kam Teil der Gedenkkultur. Es gibt noch viel nachzuholen.

  • ...auf den (wesentlichen) Punkt gebracht. Danke.