Historisches Urteil gegen NS-Verbrecher: Die Geschichte irregeleiteter Justiz
Die Sekretärin des KZ Stutthof darf jetzt laut BGH verurteilt werden. Für den KZ-Kommandanten fanden Richter 1955 vor allem eins: strafmildernde Gründe.
Fast 80 Jahre nach Kriegsende ist der Bundesgerichtshof zu einem klaren Urteil gekommen. Auch wer wie die heute 99-jährige Irmgard Furchner nur als Sekretärin in einem Konzentrationslager tätig war, hat sich der Beihilfe zum Massenmord an über 10.000 Menschen schuldig gemacht. Das Urteil zeigt aber auch, wie milde im Vergleich dazu die Justiz in den ersten Jahren der Bundesrepublik mit NS-Tätern umgegangen ist.
Ein skandalöses Beispiel unter vielen: Paul Werner Hoppe. Der war der Kommandant des KZ Stutthof, dem Furchner damals als Schreibkraft zuarbeitete. Und er kam in den 1950er-Jahren mit einer relativ kurzen Haftstrafe davon – mit einer heute unfassbar klingenden Urteilsbegründung.
Hoppe erteilte Befehle zur Vergasung
Der 1910 geborene Hoppe war laut Gerichtsunterlagen bereits im November 1932 der NSDAP und im Januar 1933 der SS beigetreten. Ab Mitte der 1930er war er in unterschiedlichen Positionen auch in Konzentrationslagern tätig. 1938 wurde Hoppe zum Stab des Führers der „SS-Totenkopf-Verbände-Konzentrationslager“ in Oranienburg versetzt. 1942 wurde er als SS-Sturmbannführer zum Kommandant des KZ Stutthof und blieb es bis Januar 1945, als er die Evakuierung durch einen Todesmarsch begann.
In dieser Zeit wurde Stutthof zum Vernichtungslager ausgebaut. Vor allem 1944 wurden zehntausende Menschen aus Ungarn oder aus anderen Lagern wie etwa Auschwitz hierhin verlegt. Es kam zu einer „rapiden Vergrößerung der Häftlingskopfzahl“, wie das Landgericht Bochum 1955 in seinem Urteil gegen Hoppe feststellte. „Die Sterblichkeit unter den Häftlingen war um diese Zeit besonders gross“, infolge ansteckender Krankheiten wie Ruhr, Fleckfieber, Typhus, die sich aufgrund der mangelnden Hygieneeinrichtungen leicht ausbreiten konnten.
Im Herbst 1944 wurde eine sogenannte Kleiderentlausungsanlage zur Vergasung von Juden genutzt. Die entsprechenden Befehle hatte laut Gericht Hoppe erteilt. „Außer durch Vergasung ist im KL Stutthof mit Billigung des Angeklagten Hoppe im Rahmen der von ihm befohlenen Vernichtungsaktion 89 (Endlösung der Judenfrage) die Tötung jüdischer Häftlinge auch durch Erschießungen mittels Genickschusses betrieben worden“, heißt es weiter im Urteil.
Nur fünf Jahre
Trotz seiner eindeutig belegten Nazi-Karriere wurde Hoppe 1955 in einem ersten Prozess vom Landgericht Bochum nur zu einer Haftstrafe von etwas mehr als fünf Jahren verurteilt.
Zwar sei „die Massenvernichtung jüdischer Menschen im ‚Dritten Reich‘ (…) nach ihrem Ausmaß und Durchführung eine entsetzliche Untat“, schrieben die Richter des Landgerichts und kamen zu dem Schluss: „Für alle diejenigen, die sich die barbarischen Beweggründe für diese grauenhafte Ausrottung von Millionen unschuldiger Menschen zu eigen gemacht und bei der Planung und Einleitung an führender Stelle mitgewirkt haben, könnte deshalb nach Auffassung des Gerichts keine Strafe zu hoch sein.“ Sie hätten „unter Missbrauch ihrer Vorgesetztenstellung zahlreiche Untergebene, die ihrer Erziehung und Veranlagung nach an sich jedem Verbrechen fernstehen und -standen, in Schuld und Strafe mit hineingezogen.“
Doch genau zu diesem „Kreise der so Irregeleiteten und Verführten gehören nach Auffassung des Gerichts auch die Angeklagten“, wie es das Gericht formulierte. Ihre Schuld entspringe nicht ihrer eigenen Ideen- und Gefühlswelt. „Sie wurzelt vielmehr in einer inneren Entscheidungsschwäche, die die Angeklagten daran gehindert hat, sich entsprechend rechtlichem und sittlichem Gebot auch fremdem verbrecherischen Willen zu entziehen und jeden Beitrag zu dessen Verwirklichung standhaft zu versagen.“
Anweisungen von Hoppe „nur weitergegeben worden“
Der „grundlegende Befehl Adolf Hitlers über die ‚Endlösung der Judenfrage‘“ und die konkrete Anweisung, „die im KL Stutthof befindlichen Juden bis zum 31. 12. 1944 zu vernichten“, sei von Hoppe eben nur weitergegeben worden. Deshalb sah das Gericht von einer lebenslangen Zuchthausstrafe ab.
Selbst Hoppes langjährige Mitgliedschaft in der SS, in der er kurz vor Kriegsende noch zum Obersturmbannführer befördert worden war, wertete das Gericht als strafmildernd. Dem Angeklagten sei „die Pflicht zu unbedingtem Gehorsam in jahrelanger erzieherischer Einwirkung bei der SS, bei der absolute Befehlstreue bekanntermaßen als oberstes Gebot galt, immer wieder eingeimpft worden“.
Für Hoppe und einen weiteren Angeklagten spreche auch, so hieß es weiter im Urteil, dass sie „bisher gerichtlich nicht bestraft und offensichtlich keine verbrecherischen Naturen sind. Vielmehr ist dem Angeklagten Hoppe zu bescheinigen, dass er als tapferer Frontoffizier auf den Hauptkriegsschauplätzen sich bewährt hat“. Kurz muss man an dieser Stelle an die aktuelle Diskussion um die Ergänzung des Traditionserlasses der Bundeswehr denken, der es erlauben sollte, einstige Wehrmachtsangehörige als Beispiele für Kriegstüchtigkeit anzuführen.
„Von den Judentötungen abgesehen“
Aber zurück ins Jahr 1955. Nicht zuletzt hätte den Angeklagten „von den Judentötungen abgesehen – sonst keine konkreten persönlichen Verfehlungen und Übergriffe gegenüber Lagerhäftlingen nachgewiesen werden“ können, urteilte das Landgericht. Deshalb halte es eine „Zuchthausstrafe von 5 Jahren und 3 Monaten für die erforderliche, aber auch ausreichende Sühne.“
Zwar wurde das Urteil 1956 vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Hoppe wurde 1957 in einem neuen Verfahren zu neun Jahren Haft verurteilt. Aber schon 1960 wurde er aus dem Gefängnis entlassen.
Paul Werner Hoppe starb 1974 als Rentner in Bochum. So klar und gerecht das neue Urteil des Bundesgerichtshofs ist, kommt es bloß zu spät.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren