Historiker über Ukraine-Krieg: „Sie leiden an postimperialem Trauma“
Für Putins Aggression gegenüber der Ukraine sei das besondere Verhältnis der „ungleichen Brüder“ verantwortlich, sagt der Historiker Andreas Kappeler.
wochentaz: Herr Kappeler, Russland ist das größte Land der Erde. Warum führt dieser Staat jetzt einen Angriffskrieg, um noch größer zu werden?
Andreas Kappeler: Nicht nur Russland, sondern jedes Imperium strebt nach Expansion. Denken Sie an das Römische Reich, das britische Weltreich oder auch das Deutsche Reich bis hin zum NS-Staat. Insofern ergibt sich der Krieg gegen die Ukraine nicht nur aus der besonderen Geschichte Russlands. Dennoch finden sich darin Erklärungen für die aggressive Politik unter Putin. Eine zentrale Rolle spielt das Empfinden eines Verlusts. Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums 1991 hat die meisten Russen geschockt; sie leiden an einem postimperialen Trauma. Das Ziel der neoimperialen Politik besteht nun darin, mindestens die russische Hegemonie über die ehemalige sowjetische Einflusssphäre wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten.
Kann man Russland als Kolonialmacht betrachten, die unterdrückten Nationen und Ethnien den Weg in die Selbstbestimmung verweigert?
Der Begriff „Kolonialismus“ bezieht sich ursprünglich auf die Herrschaft über Gebiete, die in der Regel räumlich weit vom Mutterland entfernt liegen, andere Kulturen und Sprachen haben und wirtschaftlich ausgebeutet werden. In den vergangenen Jahren wurde dieser Begriff jedoch stark ausgeweitet und dient nun zur Beschreibung weiterer Formen von Hegemonie und Abhängigkeit. Ich ziehe Begriffe wie „imperiale Herrschaft“ vor.
Für Sie trägt die frühere Herrschaft Russlands über die Ukraine keine kolonialen Züge?
Obwohl diese Beschreibung in der Ukraine und im übrigen Europa mittlerweile gang und gäbe ist, verwende ich sie nur ungern. Die Ukraine grenzt an Russland, und die Ukrainer stehen kulturell den Russen nahe. Statt als Kolonie würde ich sie als vom Zentrum dominierte und abhängige Region des zaristischen und sowjetischen Imperiums bezeichnen.
Wladimir Putin bestreitet die Eigenständigkeit der Ukraine. Ist dieser Anspruch historisch gerechtfertigt?
Vom 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gehörte die gesamte Ukraine zum Königreich Polen-Litauen. Der östliche Teil fiel im 17. Jahrhundert an Russland, der Westen am Ende des 18. Jahrhunderts und teilweise erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Das Land gehörte länger zu Polen-Litauen als zu Russland. Die automatische Assoziation mit Russland ist also historisch nicht zu rechtfertigen. Vermittelt durch Polen stand die Ukraine unter gesamteuropäischem Einfluss, denken wir an das deutsche Stadtrecht, die Renaissance und die Reformation – alles Entwicklungen, die es in Russland nicht gab. Hinzu kommt die frühere Zugehörigkeit Galiziens mit der Stadt Lemberg und der Bukowina mit Czernowitz zu Österreich. Die Westwendung der Ukraine ist damit historisch gut begründet.
Woher kommt dann die Obsession der Moskauer Regierung, warum nimmt der Kreml die Ukraine so stark als Bedrohung wahr?
Das Verhältnis zur Ukraine ist sicher ein besonderes. Ich habe es mit dem Begriff der „ungleichen Brüder“ zu fassen versucht. Ukrainer und Russen sind kulturell, sprachlich und religiös eng verwandt. Deshalb erkennen viele Russen die Ukrainer nicht als eigenständig an. Man kann ihr Verhältnis mit der patriarchalen Familie vergleichen. Der große Bruder – Russland – beschützt, achtet und liebt seinen kleinen Bruder, die Ukraine. Putin hat sich mehrfach in diesem Sinn geäußert. Wenn der kleine Bruder aber ausbrechen will, reagiert der ältere scharf und versucht ihn gewaltsam in die Familie zurückzuholen.
Hat dieser Krieg auch eine imperiale Note?
Der amerikanische Politologe Zbigniew Brzeziński sagte, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium sein könne. Dieses Territorium hatte immer eine große wirtschaftliche Bedeutung. Die Ukraine war die wichtigste Produzentin von Getreide, das über Odessa exportiert wurde. Das erste Zentrum der Schwerindustrie des Zarenreiches und der Sowjetunion lag im Donezbecken. Hinzu kommt die geopolitische Lage, die Einfluss im Schwarzen Meer und in Mitteleuropa sichert.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Sie bezeichnen die Ukraine als „Willensnation“. Was bedeutet das?
Einerseits gibt es ethnische Nationen, die sich auf ihr gemeinsames kulturelles Erbe und die Sprache berufen. Zweitens existieren Nationen, die sich durch staatliche Strukturen festigen. Und schließlich Willensnationen: In diesen Fällen entscheidet sich eine große Gruppe von Menschen, dass sie eine Nation sein will. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Schweiz, die aus verschiedenen sprachlichen und religiösen Gruppen besteht. In der Ukraine überwog lange die ethnische Definition, doch im Lauf der vergangenen 20 Jahre wurde die Willensnation immer stärker. Ganz wichtig waren dafür die Orangene Revolution 2004 und die Euro-Maidan-Revolution 2013/14. Als Resultat können wir nun sehen, dass sich auch die große Mehrheit der russischsprachigen Staatsbürger der Ukraine der Kreml-Armee entgegenstellt.
Trifft die Definition von Kolonien – weit entfernt, andere Religion, wirtschaftliche Ausbeutung – für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Zentralasien und im Kaukasus zu?
Der Wissenschaftler
Der gebürtige Schweizer ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien. Er schrieb unter anderem: „Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer“.
Was macht ihm Angst?
Ein Sieg Russlands in seinem Angriffskrieg, der die Ukraine zerstört und die Ukrainer als Nation auslöschen will.
Was gibt ihm Hoffnung?
Der Widerstand der ukrainischen Armee und Zivilgesellschaft. Solidarität und Hilfsbereitschaft des Westens.
Im russischen Reich und in der Sowjetunion gab es Regionen, die man als klassische Kolonien bezeichnen kann. Was Zentralasien betrifft, vor allem Kasachstan und Usbekistan, ist es durch Wüsten und Steppen, eine Art Meer, von Russland getrennt. Es ist von Muslimen und zahlreichen Nomaden besiedelt, es gab eine wirtschaftliche Abhängigkeit, die typisch ist für Kolonien. Rohstoffe werden gewonnen, vor allem Baumwolle, und dann in der Metropole verarbeitet.
Dazu kommt ein Überheblichkeitsgefühl der Russen gegenüber den Muslimen. Die Gebiete jenseits des Kaukasus sind schon keine typischen Kolonien. Die Georgier und Armenier sind Christen und historisch und kulturell enger mit Russland verbunden. Die überwiegend muslimischen Gebiete des Nordkaukasus und Aserbaidschans passen wiederum gut in das Schema Kolonie hinein.
In den westlichen Gebieten aber kommt man mit dem Begriff Kolonie nicht weit?
Die westlichen Gebiete des Zarenreichs, etwa Polen, Finnland und das Baltikum, waren wirtschaftlich weiter entwickelt als Kernrussland, hatten einen höheren Prozentsatz von Lese- und Schreibkundigen. In der Sowjetunion war es dann vor allem das Baltikum, das technologisch führend war. Hier ist der Begriff Kolonie fehl am Platz.
In der Russischen Föderation selbst leben viele Ethnien. Wie stabil ist sie nach zehn Monaten Krieg?
Die heutige Russländische Föderation ist ein Vielvölkerstaat. Die Bewohner werden meist als Russländer und nicht als – ethnische – Russen bezeichnet. Tschetschenien hat sich als einzige Region 1991 für unabhängig erklärt. Die Folge waren zwei schreckliche Kriege. Es gab auch anderswo Absetzbewegungen, etwa in Tatarstan oder in Jakutien im Norden Sibiriens. Aber diese waren vor allem auf kulturelle, sprachliche und teils auf wirtschaftliche Autonomie gerichtet.
Und heute?
Putin hat in den vergangenen 20 Jahren Autonomiewünsche sehr stark zurückgestutzt. Ich kenne das Gebiet der mittleren Wolga recht gut, war oft in Kasan und in der kleinen Republik Tschuwaschien, und ich gewann den Eindruck, dass alles unter Kontrolle ist. Das würde sich nur ändern, wenn das imperiale Zentrum zusammenbrechen würde wie 1917.
Das russische Hegemonialstreben ist das eine. Wohnt auch der Politik der Nato, der USA, der EU, ein Hegemonieanspruch inne?
Mit dem Ende der Sowjetunion war das Gleichgewicht der Weltmächte zerstört und die USA gingen daraus als einziger Sieger hervor. Das hat viele Russen beunruhigt. Hier ist tatsächlich ein Ansatzpunkt für Spannungen, für Konfliktmöglichkeiten gegeben.
Auch für einen Krieg?
Im Denken Putins, des ehemaligen KGB-Offiziers, spielt die Gegnerschaft zum Westen eine entscheidende Rolle. Vielleicht hat der Westen nach 1991 nicht immer an dieses postimperiale Trauma gedacht und ist nicht immer mit genügend Sensibilität aufgetreten. Das hat vor allem Putin sehr gekränkt. Etwa als Präsident Obama Russland 2014 geringschätzig als Regionalmacht bezeichnete. Dass die USA und die EU in fast jeder Hinsicht, außer bei den Atomwaffen, Russland weit überlegen sind, ist aus russischer Sicht ebenfalls kränkend.
Ist die Nato-Osterweiterung ein Grund für den Krieg?
Damit lässt sich eine Aggression nicht rechtfertigen. Die Nato wie die EU haben ja immer sehr zögerlich agiert. In der Ukraine tun sie das bis heute, es gibt kein Nato-Beitrittsversprechen für Kiew. Die Initiative für den Beitritt zur Nato ging von der Bevölkerung fast des gesamten ehemaligen Ostblocks aus – nicht zuletzt aus Angst vor Russland. Wie wir heute sehen, ist diese Angst berechtigt. Polen und vor allem die baltischen Staaten, die bis 1991 Teil der Sowjetunion waren und starke russischsprachige Minderheiten haben, können sich jetzt einigermaßen sicher sein, nicht auch Opfer einer Aggression zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel