Hilfsarbeiterin über Flüchtlinge in Iran: „4.000 bis 5.000 Afghanen täglich“
Tausende Afghanen fliehen weiter nach Iran. Was passieren muss, damit das Land die Grenze offen lässt, erklärt Laila Matar von der Hilfsorganisation NRC.
Frau Matar, Ihre Organisation hat Irans Politik gegenüber afghanischen Geflüchteten als „eine der integrativsten Flüchtlingspolitiken der Welt“ gelobt. Warum?
Laila Matar: Iran nimmt seit über 30 Jahren eine große Zahl von Flüchtlingen auf. Fast vier Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan leben in dem Land. Das geht auf die Sowjet-Ära in Afghanistan zurück, als viele Afghanen nach Iran kamen, und hat sich fortgesetzt. Man hat ihnen Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem verschafft. Viele Kinder sitzen Seite an Seite mit Iranern in der Schule.
Gilt das auch für die Neuankömmlinge?
Seit der Machtübernahme der Taliban kommen täglich 4.000 bis 5.000 Afghanen nach Iran, die meisten auf informellem Weg. Daher lässt sich noch nicht sagen, wie sich das entwickeln wird.
36, ist Direktorin für Advocacy- und Medienarbeit bei der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council (NRC). Vergangene Woche ist sie von einem Iranbesuch zurückgekehrt.
Die Türkei baut eine Mauer im Osten, um sich vor afghanischen Flüchtlingen zu schützen, die über Iran das Land erreichen. Wie sieht die Grenze zwischen Afghanistan und Iran aus?
Sie ist relativ durchlässig. Flüchtlinge reisen zu Tausenden über informelle Grenzübergänge ein.
Im Gegensatz zu Ihnen hat die UN-Migrationsbehörde erklärt, dass dieses Jahr mehr als eine Million Afghanen aus Iran nach Afghanistan zurückgekehrt seien. Die meisten seien abgeschoben worden. Allein in der letzten Oktoberwoche wurden mehr als 28.000 Afghanen zurückgeschickt. Einige berichteten, zuvor in überfüllten Lagern festgehalten und geschlagen worden zu sein.
Es ist richtig, dass Hunderttausende zurückgeschickt wurden. Deshalb appellieren wir an die internationale Gemeinschaft, Iran die Aufnahme vieler weiterer Flüchtlinge zu ermöglichen. Wir können nicht erwarten, dass Iran die Grenzen offen hält und weitere Flüchtlinge aufnimmt, wenn es bereits Millionen aufgenommen hat und die Unterstützung für Hilfsorganisationen in Iran so begrenzt ist.
Müssen Mittel für Iran nicht an Bedingungen geknüpft werden?
Wir fordern nicht mehr Mittel für Iran, sondern für lokale Hilfsorganisationen und internationale Organisationen in Iran, die bereit sind, ihre Arbeit vor Ort auszubauen. Der Iran-Anteil des UN-Aufrufs zur Unterstützung der Nachbarländer ist nur zu 32 Prozent finanziert. Wir haben also eine hundertprozentige Krise, die nur zu 32 Prozent finanziert ist. Dabei gibt es Möglichkeiten, den Akteuren an vorderster Front, die sich direkt für die Flüchtlinge einsetzen, Unterstützung zukommen zu lassen.
Sie haben letzte Woche die Flüchtlingslager in Iran besucht. Warum fliehen die Menschen aus Afghanistan?
Erstens wegen des völligen Wirtschaftszusammenbruchs und der Liquiditätskrise. Der Preis für Weizen hat sich seit Juni um 25 Prozent verteuert, während die Löhne für Gelegenheitsarbeiter um 37 Prozent zurückgegangen sind. Beschäftigte im Gesundheitswesen, Lehrer und Ärzte werden nicht bezahlt. Meine eigene Organisation war nicht in der Lage, unseren 1.600 Mitarbeitern im Land, von denen die meisten Afghanen sind, die Gehälter zu zahlen. Als Hilfsorganisationen haben wir Mühe, Geld ins Land zu bekommen, und selbst wenn das gelingt, ist es schwierig, es von den Banken zu bekommen. Mehr als 50 Prozent der Afghanen sind von Nahrungsunsicherheit betroffen und es droht eine Hungersnot. Afghanistan ist ein Land, in dem im Winter Temperaturen unter Null herrschen. Wenn wir keine Initiative ergreifen, riskieren wir fatale Folgen. Viele Regierungen haben jahrelang massiv militärisch in Afghanistan investiert. Jetzt müssen sie ähnliche Investitionen tätigen.
Und zweitens?
Der zweite Grund ist Diskriminierung. Viele derjenigen, die flüchten, gehören der schiitischen Minderheiten der Hazara oder den Tadschiken an, die in Afghanistan Gewalt und Diskriminierung erfahren haben.
Ist Iran Ziel oder nur Zwischenstation für geflüchtete Afghanen?
Beides. Früher sind viele Afghanen zwischen Afghanistan und Iran hin- und hergependelt. Jetzt sind sie in Iran, um zu bleiben. Wir hören aber auch, dass sich viele Familien auf den Weg nach Europa machen wollen. Deshalb fordern wir drei Maßnahmen: Erstens, eine dringende Finanzspritze für Hilfe in Afghanistan, zweitens Unterstützung für die Nachbarländer, um denen zu helfen, die unweigerlich Millionen von Menschen aufnehmen werden, und drittens muss Europa es schaffen, den wenigen Flüchtlingen an seinen Grenzen Asyl zu gewähren.
Sie sprechen von der Situation an der belarussisch-polnischen Grenze?
Es ist schockierend, dass Europa nicht mit ein paar tausend Flüchtlingen fertig wird, während wir von Ländern wie Iran erwarten, dass sie die gleiche Anzahl jeden Tag aufnehmen. Es ist eine sehr hässliche Tatsache, dass Belarus Flüchtlinge als politisches Druckmittel einsetzt. Nichtsdestotrotz hat Polen internationale Verpflichtungen, denjenigen, die nach internationalem Recht Anspruch darauf haben, sicheres Geleit und Asyl zu gewähren.
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