Hilfen wegen der hohen Energiekosten: Wir müssen über Belastungen reden
Statt die Gesellschaft auf steigende Belastungen vorzubereiten, kauft man sich Lösungen. Die Ampel gewichtet den Koalitionsfrieden höher.
T rifft man am Berliner Hauptbahnhof auf die Menschen, die aus der Ukraine ankommen, dann kriecht neben Mitleid auch eine leise Scham in einem hoch. Da die Frauen und Kinder, die ihr gesamtes bisheriges Leben zurücklassen mussten. Menschen, die brutal zum Verzicht gezwungen wurden. Und hier wir, die wir unberührt von diesem Krieg unser Leben weiterleben.
Trotz der fatalen Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle, die zu einem Gutteil aus Russland stammen und deren Verkauf Woche für Woche 1 Milliarde Euro in Putins Kriegskassen fließen lässt, trotz des moralischen Drucks auf Deutschland, sich aus dieser für andere tödlichen Abhängigkeit umgehend zu lösen, gibt es vier Wochen nach Kriegsbeginn noch immer keine Ad-hoc-Maßnahme, den Konsum fossiler Energie einzuschränken: kein Tempolimit, keine autofreien Tage und keine ungeheizten öffentlichen Gebäude.
Im Gegenteil: Die Ampel-Regierung hat diese Woche ein Entlastungspaket auf den Weg gebracht, das die hohen Energiepreise abfedern soll und den Menschen suggeriert: Macht so weiter, wir sorgen dafür, dass es euch nichts kostet. Dabei hat die Ampel die Gelegenheit versäumt, die Gesellschaft auf Verzicht und steigende Belastungen vorzubereiten.
Krisen öffnen auch immer Möglichkeitsfenster. Als die Brennstäbe in den Reaktorblöcken von Fukushima schmolzen, beschloss die Regierung Merkel den Ausstieg aus der Kernenergie. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, sagte die Regierung Scholz über Nacht Ja zu Waffenexporten und Aufrüstung. Auf anderen Feldern lässt sie diese Radikalität bislang vermissen.
Doch die Ampel gewichtet den Koalitionsfrieden höher. Statt Konflikte auszufechten, kauft man sich Lösungen. Sonst hätten sich SPD und Grüne längst mit der FDP angelegt, die ein Tempolimit auf Autobahnen für einen Angriff auf die individuelle und Steuererhöhungen für einen Anschlag auf die unternehmerische Freiheit hält.
Den Debatten über Zumutungen ist jedoch nicht zu entkommen. Wenn im nächsten Jahr die Schuldenbremse wieder greift und die Quelle grenzenloser Kredite versiegt, dann muss man für steigende Ausgaben entweder an anderer Stelle sparen oder über neue Einnahmequellen nachdenken, etwa über Steuern auf Vermögen und Erbschaften. Der grüne Wirtschaftsminister muss den Mineralölkonzernen nicht nur drohen, ihre Kriegsgewinne abzuschöpfen, sondern es tatsächlich tun.
Die Debatte über ein Tempolimit dürfte da noch die unkomplizierteste sein. Wenn die einen alles zurücklassen mussten, ist es für die anderen zumutbar, etwas langsamer zu fahren. Hier denkt die Mehrheit der Bürger:innen längst weiter als die Regierung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?