Herrnhuter Brüdergemeine: Mission „Welterbe“ erfüllt
Die Unesco hat entschieden: Herrnhut wird Teil einer Weltkulturerbestätte. Die Organisation würdigt damit eine Freikirche, die eine solidarische Idee des Christentums vertritt. Ein Ortsbesuch.
H errnhut liegt in der Mittagsglut. Die Bauarbeiter in der Comeniusstraße haben sich verzogen, die Bagger stehen still, die Bürgersteige des Barockstädtchens sind leergefegt. Die Mutterstadt der Brüdergemeine, der kleinen evangelischen Freikirche, die sich hier vor 300 Jahren gegründet hat, wirkt wie ausgestorben. Kein Fingerzeig auf die historische Entscheidung, die kurz bevorsteht. Der Pastor ist im Urlaub, der Bürgermeister ebenso.
Im Heimatmuseum, das auch die Tourismusinformation beherbergt, findet sich dann doch ein halbwegs öffentlicher Hinweis. Hier haben die beiden obersten Repräsentanten der Gemeinde die wichtigsten Informationen auf Papier hinterlassen. „Welterbe Herrnhut?“, steht auf den Blättern, und darunter haben Bürgermeister und Pfarrer alles Wesentliche zum Unesco-Welterbe zusammengetragen, etwa wie es überhaupt dazu kam, dass Herrnhut auf die Vorschlagsliste gekommen ist.
Die letzte große Frage wurde nun in Neu-Delhi beantwortet. In der indischen Hauptstadt beriet das Unesco-Welterbe-Komitee auf seiner Jahrestagung, ob Herrnhut in der sächsischen Oberlausitz mit dem Welterbe-Titel geadelt wird, so wie Venedig, die Pyramiden von Gizeh und Taj Mahal, um nur einige bekannte Orte zu nennen. 6.000 Menschen leben in Herrnhut und den Dörfern ringsum. Herrnhuts Ruf reicht bis nach Indien – seit diesem Freitag ist Herrnhut Welterbe.
Und der Ruf reicht noch viel weiter, erzählt Konrad Fischer Tage vor der Entscheidung. Bis nach Amerika, in die Karibik, Grönland, Südafrika. Fischer kommt aus den Tiefen des Heimatmuseums ein Treppchen herunter, um mit dem Besucher gleich wieder hinaufzusteigen in das kleine Kabinett. Konrad Fischer, in Personalunion Leiter des Kultur- und Fremdenverkehrsamts und des Heimatmuseums, ist neben Pfarrer und Bürgermeister ebenfalls so etwas ein Herrnhuter Schwergewicht und Mitglied der lokalen Arbeitsgruppe, die die Unesco-Bewerbung vorangetrieben hat.
Es geht bei dieser Bewerbung nicht um den Herrnhuter Barock, jener schlichten Spielart dieses gern überladenden Baustils. Herrnhut ist vielmehr Teil einer transnationalen Bewerbung von drei ähnlich angelegten Siedlungen in drei Ländern. Es geht um die Moravian Church Settlements, zu Deutsch: um die Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Eine vierte Siedlung, Christiansfeld in Dänemark, ist bereits seit 2015 Welterbe. Damals gab es vom Welterbekomitee den Rat, diesen Ort um weitere Siedlungen zu erweitern, um das weltweite Netz dieser besonderen Gründungen sichtbar zu machen, die als weltweit tätige Kirche derzeit 1,2 Millionen Mitglieder hat, die meisten davon außerhalb Europas.
So kam Herrnhut, die Mutter all dieser Siedlungen, in den Blick. Doch die Fäden der Kulturdiplomatie werden nicht in Berlin gezogen, auch nicht in Dänemark, sondern in Washington, D. C.. Politisch läuft alles über das State Department, das US-Innenministerium und seinem National Park Service, der auch für US-Kulturerbe zuständig ist und den transnationalen Antrag zur Aufnahme von drei weiteren Siedlungen 2023 bei der Unesco eingebracht hat. Ein Vorteil, wenn die USA die Federführung bei der Bewerbung übernehmen: Herrnhut steht nicht in Konkurrenz zu anderen deutschen Bewerbungen wie dem Schweriner Residenzschloss. Zudem hat Nordamerika bisher deutlich weniger Welterbe zuerkannt bekommen als Europa, auch das erhöht die Chancen für den Zuschlag.
Dass die USA die transnationale Bewerbung von drei christlichen Siedlungen aus dem 18. Jahrhundert vor der Unesco vertreten, berührt aber noch einen weiteren, hochpolitischen Aspekt. Denn 2017 sind die USA unter Donald Trump aus der Kulturorganisation der UNO ausgetreten, Begründung: Die Unesco würde eine „antiisraelische Haltung“ einnehmen. Die Beitragszahlungen, die bis dahin 22 Prozent des Unesco-Haushalts ausmachten, hatte Washington bereits 2011 unter dem damaligen Präsidenten Barack Obama eingestellt. Der Hintergrund für Zahlungsstopp und Austritt der USA war ein Streit über die Unesco-Vollmitgliedschaft Palästinas.
Unter Joe Biden glätteten sich die Wogen, und die USA wurde im Juni 2023 erneut Unesco-Vollmitglied. Dass vor diesem Hintergrund ein US-Antrag auf Aufnahme in die Welterbeliste abgelehnt würde, ist kaum vorstellbar. Und die Frage, ob die USA auch 2025 noch Unesco-Mitglied sein werden, hängt – mit einem möglichen Präsidenten Trump – schon wieder am seidenen Faden.
Es hat jedenfalls etwas von einem Mirakel, dass ein Städtchen aus dem hintersten Zipfel Sachsens derzeit von Washingtoner Regierungsbeamten in Neu-Delhi vertreten wird, während in Deutschland der Name Herrnhut, wenn überhaupt, noch am ehesten mit einem Papierstern assoziiert wird. Indiens Premier Narendra Modi hat am Sonntag die Unesco-Jahrestagung eröffnet. Wenn alles läuft, so kündigen Pfarrer und Bürgermeister an, wird es am kommenden Wochenende in Herrnhut auf dem Zinzendorfplatz ein Fest geben.
Sehnsucht nach dem Urchristentum
Siegesgewiss wollen die zwei Herrnhuter allerdings trotzdem nicht wirken. Wie überhaupt aus ihrem Infoblatt herauszulesen ist, dass den beiden offenbar nicht ganz wohl ist bei all der weltpolitischen Verwicklungen. Herrnhut will das Ziel eher unbemerkt erreichen. „Von amerikanischer Seite“, so schreiben die beiden, „wurde darum gebeten, ‚den Ball flach zu halten‘ “. Vorschnelle und unbedachte Meldungen könnten die Bewerbung gefährden. Zu viel Euphorie offenbar auch. Herrnhuter zeichnen sich durch Genügsamkeit aus.
Die Tagung Die 46. Jahrestagung des Unesco-Welterbekomitees wurde am 21. Juli in Neu-Delhi eröffnet. Dort entscheidet das Unesco-Komitee über die Aufnahme neuer Stätten auf die Welterbeliste, zu der bisher 1.199 Kultur- und Naturstätten in 168 Ländern zählen. Über den Antrag zu Herrnhut werde am Freitag zwischen 7.15 Uhr und 9.30 Uhr unserer Zeit entschieden, teilte die sächsische Staatsregierung am Mittwoch mit.
Der „Herrnhut-Antrag“ Unter Federführung der USA haben sich die Städte Herrnhut (Sachsen), Gracehill (Nordirland) und Bethlehem (Pennsylvania) gemeinsam um eine transnationale Erweiterung der bestehenden Welterbestätte Christiansfeld (Dänemark) beworben. Die vier Siedlungsorte repräsentieren beispielhaft das Netzwerk christlicher Idealstädte, die die Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert im Zuge ihrer weltweiten Mission auf mehreren Kontinenten errichtet hat und die weiterhin aktiv sind. Neben Herrnhut bewirbt sich aus Deutschland auch Schwerin mit seinem Residenzschloss und weiteren Repräsentationsbauten um den Welterbetitel.
Die Unesco Die UN-Sonderorganisation für Kultur, Wissenschaft und Bildung hat derzeit 194 Vollmitglieder und 12 assoziierte Mitglieder (unter anderem die Faröer Inseln, die Kaimaninseln, der Vatikan).
Der Ursprung der weltweiten Brüdergemeine liegt in den Glaubensflüchtlingen aus Böhmen, Nachkommen der Hussiten, der Anhänger des tschechischen Reformators Jan Hus, der 100 Jahre vor Luther in Konstanz auf dem Scheiterhaufen endete. Ein Teil der Bewegung lebte als eine pazifistische, urchristliche Untergrundkirche weiter, den Böhmischen Brüdern oder auch Brüder-Unität genannt. Ihre Anhänger wurden von den katholischen Habsburgern im Laufe der Gegenreformation aus ihrer Heimat vertrieben.
Ein junger, pietistisch geprägter Reichsgraf, Nikolaus von Zinzendorf, lud zwölf dieser Glaubensflüchtlinge auf seine Besitzung in die Oberlausitz ein. Er erkannte die Chance, mit diesen Vertriebenen seine Vision von einer neuen christlichen Gemeinschaft jenseits von Hierarchien, Konfessionen und Dogmen aufzubauen. Mit seinen Untertanen, leibeigenen Bauern, war das nicht zu machen. Mit tatkräftigen Männern und Frauen, die sich eine neue Existenz aufbauen wollten, schon.
Zinzendorfs Gutsverwalter wies ihnen auf dessen Grund und Boden, unterhalb des Hutbergs, eigentlich eine Schafweide, einen Platz zu, wo sie fortan leben sollten – unter der Hut des höchsten aller Hirten, des Herrn Jesu, sein Name: Herrnhut. Die neue Gemeinschaft nannte sich Brüdergemeine, ohne d, um den Gleichheitsgedanken noch stärker herauszustellen. Die Sehnsucht nach dem Urchristentum war stark. Vielleicht auch nach dem Urkommunismus: Um 1900 kursierte in der Sozialdemokratie ein „Stammbaum des modernen Sozialismus“ mit Marx, Engels und Lassalle in der Spitze. Weiter unten findet sich auch ein Zweiglein auf dem „Herrnhuter“ steht. Die neuen Glaubensbrüder und -schwestern erwiesen sich jedenfalls als fleißig, solidarisch und handwerklich begabt.
Eines der wichtigsten Ausstellungsstücke im Heimatmuseum ist ein Beil mit breiter Klinge. Mit dieser Axt fällte am 17. Juni 1722 der böhmische Zimmermann Christian David den ersten Baum für das erste Haus im neuen Herrnhut. Ein Stich hat festgehalten, wie ein kräftiger Mann, umgeben von Betenden, den ersten Hieb in den Stamm setzt. Das Bild ist eine Herrnhuter Ikone. Christian David blieb nicht in Herrnhut, sondern reiste bald als Zimmermann und Missionar nach Grönland, wo er einen Kirchensaal errichtete. Das Haus steht heute noch am Rande von Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, und diente bis 2008 als Universität. Das Beil brachte ein Missionar 1878 nach Herrnhut zurück.
Konrad Fischer, Museumsleiter, über die Herrnhuter Siedlung
Die Herrnhuter Mission war dem Pietismus verpflichtet. Missionare sollten die Sprache der Einheimischen erlernen, deren Kultur wertschätzen, Bildung vermitteln und von ihrer Hände Arbeit leben. Irgendeinem Herrscherhaus Ländereien und Untertanen zuzuführen, war nicht das Ziel. Die Sklaverei stellte die Brüdergemeine jedoch nicht infrage. Das kleine Völkerkundemuseum in Herrnhut beherbergt Tausende Artefakte, die Missionare gesammelt haben. Das Museum ist derzeit geschlossen und soll, so heißt es, zu einem Ort werden, der sich stärker kritischen Diskussionen, etwa zu Kolonialismus und Sklaverei, stellen will.
Eigentlich müsste man die Touristen nach dem Besuch Herrnhuts in Richtung Jütland weiterschicken, sinniert Museumsleiter Fischer. 700 Kilometer nordwärts würden sie die gemeinsame Idee sicher erkennen, zwischen dem bereits bestehenden Welterbe Christiansfeld und Herrnhut. Und dann müssten sie weiter nach Gracehill in Nordirland und nach Bethlehem in Pennsylvania, USA.
Diese vier Siedlungen sind nach den gleichen Grundlagen als christliche Idealstadt angelegt, wie es zuerst in Herrnhut verwirklicht wurde: ein zentraler Platz, darauf kein klassischer Kirchenbau, sondern ein schmuckloser, weißer Kirchensaal, ohne Taufstein und Altar, darum gruppiert Sozialgebäude wie Witwen- und Waisenhäuser, dazu Schulen, Werkstätten und fußläufig ein einheitlicher, schlichter Gottesacker ohne soziale Schranken als Begräbnisort. Männer und Frauen liegen aber getrennt.
Es geht beim Welterbe Herrnhut aber, über die Architektur hinaus, vor allem um eine wirkmächtige Idee aus dem 18. Jahrhundert: geprägt vom Pietismus, aber auch von der Aufklärung, die sich in einer neuen, modernen Stadtplanung manifestiert. Es geht letztlich um das von Nikolaus Graf von Zinzendorf erneuerte Christentum, das heute als weltweit aktive Freikirche weiterlebt und seine Spuren auf allen Erdteilen hinterlassen hat. Eigentlich würdigt die Unesco also eine christliche Erfolgsgeschichte.
„Da kommen zwölf Leute, und dann ziehen sie so ein Ding hoch!“ Konrad Fischer hat inzwischen, vorbei am Grab Zinzendorfs, über den Gottesacker geführt und ist den Altan, einen Turmbau, hinaufgestiegen. Fischer, Jahrgang 1971, der Geburt und dem Glauben nach ein Herrnhuter, scheint selbst ganz beseelt vom Tatendrang seiner Vorfahren. Fischer lässt den Blick wandern, hinüber zur Lindenallee nach Berthelsdorf. Von dort sind sie einst gekommen.
Nachhaltigkeit ist der Kern
Eine Stunde später kommt auf dieser Allee Daniel Neuer in seinem betagten Sportwagen gefahren. 1970 in einer Siedlung der Brüdergemeine im Schwarzwald geboren, ist auch Neuer ein echter Herrnhuter, zudem ein Handwerker wie Christian David. In Jeans und weißem Hemd schwingt er sich aus dem Wagen. Die Axt hat der gelernte Tischler und Architekt gegen ein Planungsbüro und eine Baufirma getauscht. Vor allem aber ist Neuer Motor und wohl größter Optimist der Unesco-Bewerbung. Damit auf den letzten Metern nichts schiefläuft, fährt er selbst zur Tagung nach Neu-Delhi, auf eigene Kosten.
Er lenkt den Wagen nach Berthelsdorf, wo seine Büros liegen und wo alles im Zinzendorf-Schloss anfing. Das Schloss hat Neuer restauriert. Das Herrenhaus ist der Urtyp des einfachen Herrnhuter Barock, Zinzendorfs Antithese zum prunkvollen Dresdner Stil. Seit 2002, da kam Neuer als junger Architekt nach Herrnhut, ist er an der Unesco-Bewerbung dran. Obwohl kein Teil der Siedlung Herrnhut, gehört das Schloss Berthelsdorf zum Welterbe-Antrag. Schließlich, sagt Neuer, „wurde hier die Idee der Idealstadt geboren.“
Neuers Familiengeschichte reicht bis 1740 zurück. Die Vorfahren lebten und arbeiteten in Afrika, Jamaika und Herrnhut. Neuer selbst wurde in der Siedlung Königsfeld in Baden-Württemberg geboren, wohin die Großeltern, die 1946 in Herrnhut enteignet wurde, geflohen sind. „Das brüderische Netzwerk“, sagt Neuer, „das wohnt uns irgendwie inne.“ In der Politik heißt so etwas Zusammenhalt.
Daniel Neuers Erstlingswerk als Architekt war eine desolate Herrnhuter Gemeindewaschküche, die er entgegen vieler Warnungen restaurierte. Inzwischen hat er reichlich alte Buden zum Strahlen gebracht. Längst sieht sich Neuer in der Tradition der Baumeister, mit Vorliebe restauriert er, gern mit historischen Baustoffen. Auf dem Gutshof hat der „Freundeskreis Zinzendorf-Schloss Berthelsdorf“, der das Areal betreut, zehntausende Biberschwänze, alte gebrannte Dachsteine, gestapelt, mit denen die Stallungen wieder eingedeckt werden sollen. Nachhaltigkeit, sagt Neuer, das sei auch so ein Zinzendorf-Gedanke.
Überhaupt ist Nachhaltigkeit der Kern dieser Unesco-Bewerbung. Es gebe ja bereits viel Weltkulturerbe, zumal in Europa: „Aber Sustainable Heritage gibt’s eigentlich nicht“, sagt Neuer. Was er genau meint, zeigt er, zurück in Herrnhut, an der Zinzendorf-Schule, sein eigenes Projekt. Ein Bau, außen ganz im Stile des Herrnhuter Barock, innen eine moderne Schule, die alle Nachhaltigkeitsstandards erfüllt. 2019 wurde sie eröffnet und soll Teil des Welterbes sein. Und das nicht nur, weil der zentrale Zinzendorf-Platz, der nach einem verheerenden Brand vom 9. Mai 1945 erhebliche Lücken aufwies, wieder geschlossen ist, sondern weil die Schule selbst wieder lebt.
Nicht alle waren 2016 von der Neugründung des Gymnasiums überzeugt. Kaum mehr als ein Dutzend Kinder waren am Anfang angemeldet, heute sind es über 600. Und auf dem Wappen der Schule prangt wieder das Gründungsjahr 1724, so wie auf allen Wappen aller Schulen in allen Herrnhuter Siedlungen. „Natürlich auch in Christiansfeld, Gracehill und Bethlehem, Pennsylvania“, sagt Neuer. Mag die bauliche Hülle auch keine fünf Jahre alt sein, die Schule selbst ist Teil der Moravian Church Settlements. Da böten sich doch länderübergreifende Schulprojekte an, sagt Neuer, etwa über die Folgen des Klimawandels. Schüler aus Herrnhut könnten sich mit Gleichaltrigen in Grönland, Surinam, Holland, Tansania austauschen.
Manchmal staunt Neuer selbst, wie die Dinge zueinander gefunden haben. Und wovor das Städtchen bewahrt wurde. Am Zinzendorfplatz, erzählt Neuer, wollte eine Mineralölgesellschaft in den 90ern eine Tankstelle errichten. Um das zu verhindern, hat die Stadt in Windeseile einen Bebauungsplan durchgepeitscht. Heute steht dort eine Förderschule, ebenfalls im Herrnhuter Barock, mit Schwerpunkt geistige Entwicklung. Man kann das auch als Glaubenszeugnis verstehen.
Die Brüdergemeine besteht in Herrnhut selbst aus etwa 500 Mitgliedern und ist damit inzwischen auch in ihrem Gründungsort in der Minderheit. Dass nicht mehr alle die Zinzendorf’schen Ideale achten, dafür gab es vor Kurzem einen Hinweis. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ – das Pauluswort ist die Losung für das Jahr 2024. Tägliche Bibelverse, Losungen genannt, sind ein Markenzeichen der Brüdergemeine. Trotzdem wurde Ende Juni in Herrnhut die Jahreslosung aus einem mehrere Meter großen Banner herausgeschnitten. Zurück blieb ein Holzrahmen. Vielleicht lag das auch an der Botschaft, die die Brüdergemeine dem Pauluswort angefügt hat: „Wir stehen ein für Demokratie, Weltoffenheit, Respekt.“
Dass in Herrnhut auch noch deutlich aggressivere Geister unterwegs sind, ist durch Recherchen der taz Mitte Juli ans Licht gekommen: Im Herrnhuter Ortsteil Strahwalde versammelten sich am 22. Juni 150 Personen auf einem Privatgrundstück, um mit Liedern, Feuer und dem Ruf „Heil Sonnenwende!“ ein neuheidnisches Spektakel in NS-Manier zu begehen und einen SS-Standartenführer, der aus der Region stammte, zu huldigen. Mit dabei waren völkische Jugend und Kommunalpolitiker der AfD, die sächsische Polizei beobachtete das Treiben, sah allerdings keine Veranlassung einzuschreiten.
Mit oder ohne Unesco-Titel – die Herrnhuter Brüdergemeine dürfte es angesichts solcher politischen Darbietungen schwerfallen, das Image der Region zu drehen. Unmöglich ist es nicht. Zinzendorf hat es vorgemacht. Er hatte für alle Lebenslagen einen einfachen Grundsatz. Der Graf hat auch als Liederdichter gewirkt. Sein wohl bekanntestes Lied beginnt mit dem Appell: „Jesu, geh voran!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland