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Heatwave-Festival in BerlinVon der Platte für die Platte

Gegen die Unsichtbarkeit: Ein Festival von und für Jugendliche mitten im Märkischen Viertel in Berlin kämpft gegen Kürzungen und für mehr Teilhabe.

Die Jugendlichen demonstrieren gegen Kürzungen bei der Jugendarbeit Foto: Piotr Pietrus

Berlin taz | Bunte Sitzsäcke, zusammengewürfelte Gartenmöbel und Bierbänke laden in der Mitte der Festwiese am Seggeluchbecken zum Verweilen ein – mitten im Märkischen Viertel, der Großsiedlung in Reinickendorf. Es riecht nach Popcorn und Jollof-Reis, ein Glücksrad klackert leise im Hintergrund, während sich Jugendliche, Familien und Rent­ne­r*in­nen rund um die Stände versammeln.

Die Jugendberufsagentur ist ebenso vertreten wie der Treffpunkt „House of Queers“. An einem Stand liegt eine Petition für die Zukunft der Jugendarbeit. Von der Bühne schallt Musik über den Platz. Manche hören von den Balkonen der umliegenden Hochhäuser zu, andere lassen sich davon anziehen und kommen herunter.

Bereits zum vierten mal haben am Wochenende junge Menschen aus Reinickendorf ihr eigenes Festival auf die Beine gestellt. Der Schauplatz im „MV“ ist dabei bewusst gewählt: „Das Festival ist für Reinickendorf, und das MV ist der Hotspot, hier sind die meisten Leute“, erklärt der 19-jährige Ibo, Crewmitglied der ersten Stunde.

Im Rahmen des Projekts „Partizipatives Jugend-Festival Reinickendorf“ haben 15 Jugendliche sechs Monate lang eigenständig das gesamte Heatwave-Festival geplant – inklusive Künstler*innenakquise, Öffentlichkeitsarbeit und Sponsorensuche. Bewaffnet mit Energy Drinks und Veggie Gums traf sich das Team wöchentlich im Tanzraum des Jugendzentrums comX, ihrem Hauptquartier.

Demonstration für Jugendarbeit

Nikola war mit 17 das erste Mal an der Festival-Planung beteiligt und ist seitdem jedes Jahr dabei: „Wenn man unsere Gruppe sieht, sieht man unterschiedliche Menschen, Kulturen, Charaktere. Manchmal frage ich mich, wie es eigentlich sein kann, dass wir so gut zusammenarbeiten, aber wir respektieren jeden, der nicht respektlos ist.“

Jugendliche werden aus vielem ausgeschlossen. Ich finde das unfair.

Wael (14)

Für den 14-jährigen Wael ist das Festival nicht nur ein Anlass, um Spaß zu haben, sondern auch, um auf Probleme aufmerksam zu machen. „Jugendliche werden aus vielem ausgeschlossen: Clubs, Gewinnspiele, Wahlen. Ich finde das unfair. Wir sollten mehr Rechte haben, sonst haben wir keine Freiheit.“ Wael will später Politiker werden, um sich für Kinder stark zu machen.

Unter dem Motto #unkürzbar findet am Rande des Festivals auch eine Demonstration statt, bei der auf die Bedeutung von Kinder- und Jugendarbeit aufmerksam gemacht wird, die von den aktuellen und kommenden Haushaltskürzungen bedroht ist. „Die Jugendlichen spüren die Unsicherheit im System, weil Planbarkeit fehlt“, sagt Katharina Heuer, Geschäftsführerin von „Kulturcoaching“, das außerschulische Angebote wie das Heatwave-Festival betreut.

Und sie reagieren darauf. Ibo hat einen Song namens „#unkürzbar“ geschrieben, den er auf der Demo und auf der Festivalbühne performt. Er ist im MV aufgewachsen, hat gerade das Abitur bestanden. „Bei mir zu Hause gibt’s keinen optimalen Ort zum Lernen – Ablenkung durch PC, Eltern, Geschwister. Im Jugendzentrum kann ich von meinen Sorgen erzählen, ich bekomme Hilfe beim Lebenslauf, bei der Berufswahl“, erzählt er. Dass bei der Jugendarbeit gekürzt werden soll, versteht er nicht: „Das ist eine Investition in die Zukunft des Landes.“

Wenig Platz für Begegnung

Laut Studien nehmen psychische Belastungen wie Stress und Erschöpfung bei Jugendlichen immer weiter zu. Im Abschlussbericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ ist festgehalten, dass viele Kinder und Jugendliche durch die Pandemie stark belastet wurden.

Diejenigen, die in Plattenbausiedlungen wie dem MV leben, waren zusätzlich benachteiligt: wenig Platz, kein Garten, mangelhafte digitale Ausstattung. Die Pandemie hat bestehende soziale Ungleichheiten verschärft und gezeigt, wie wichtig außerschulische Begegnungsräume sind.

Der 15-jährige Jamal arbeitet neben der Schule bei der „Nachbarschaftsetage“, einem Treffpunkt für Menschen, die Unterstützung brauchen. Dort helfen sie sich gegenseitig beim Verstehen und Bearbeiten von amtlichen Dokumenten oder verbringen Zeit mit Menschen, die oft allein sind. Für das Festival hat Jamal eine mobile Küche organisiert, ein Anhänger, aus dem er mit dem 52-jährigen Janvon der Nachbarschaftsetage Pizza verkauft.

Finanzierung des Festivals ist ungewiss

Jugendstadtrat Alexander Ewers (SPD) ist beeidruckt vom Einsatz der Jugendlichen. „Das Spannende ist nicht nur das Festival selbst, sondern der Prozess, der die Gruppe ausmacht“, sagt er. Ewers, der früher selbst in der offenen Kinder- und Jugendarbeit tätig war, berichtet, wie ein Jugendlicher, der in der Schule große Mühe mit Referaten hatte, ihn beim ersten Festival vor Hunderten von Menschen interviewte. Für ihn sei das Projekt eine gute Gelegenheit, mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und ihre Bedürfnisse zu hören. „Armut ist ein großes Thema. Und wie wir Übergänge gestalten, insbesondere von der Schule in den Arbeitsmarkt.“

Die Jugendarbeit unterstützt Schulen und Familien bei diesem Übergang. Beim Heatwave-Festival lernen junge Menschen Eigenverantwortung und Demokratiebildung passiert spielerisch. Doch wird das nach den geplanten Kürzungen im Haushalt noch im selben Ausmaß möglich sein? Für nächstes Jahr sei die Finanzierung des Festivals ungewiss, sagt Ewers: „Das Projekt wird aktuell vom Land finanziert. Wenn dort gekürzt wird, wissen wir nicht, was bleibt.“ Er wolle versuchen, es bezirklich abzusichern, „aber ob das klappt, ist noch unklar“.

Die alternde Gesellschaft erzeuge zwei Minderheiten: Kinder und Eltern von Minderjährigen, schreiben Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier in ihrem aktuellen Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“. Sie fordern: „Ein alterndes Land muss ein kinderorientiertes Land sein.“

Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention sichert Kindern das Recht, in allen sie betreffenden Angelegenheiten ihre Meinung frei zu äußern – und dass diese angemessen berücksichtigt wird. Die jungen Fes­ti­val­ma­che­r*in­nen in Reinickendorf machen genau das: Sie sprechen mit, sie gestalten und sie feiern. Mit Musik, Meinung und Pizza. Doch das geht nur, solange ihnen von politischer Seite aus die nötigen Räume und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

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