Hartz-IV-Klagen beim Verfassungsgericht: Karlsruhe lässt nur Betroffene zu
Die Richter wiesen eine Verfassungsbeschwerde zu den jüngsten Hartz-IV-Änderungen ab. Der Kläger habe die eigene Betroffenheit nicht dargelegt.
Im Sommer hatte der Bundestag ein sogenanntes Vereinfachungsgesetz beschlossen und dabei viele Details zu Hartz IV im Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs geändert. So wurde die nachträgliche Überprüfung von Bescheiden erschwert und die Möglichkeit ausgeweitet, bei fehlerhaften Anträgen Bußgelder zu verhängen.
Wohlfahrtsverbände protestierten gegen das Vorhaben und sprachen von einem „Entrechtungsgesetz“. Die Journalistin Susan Bonath (Junge Welt) formulierte daraufhin die Vorlage für eine Verfassungsbeschwerde. Das Gesetz verletze zehn Grundrechte, von der Menschenwürde bis zur Rechtswegsgarantie. Propagiert wurde die Musterklage unter anderem von der „Hartz-IV-Rebellin“ Inge Hannemann, einer ehemaligen Jobcenter-Mitarbeiterin, die nach öffentlicher Kritik 2013 ihren Arbeitsplatz verlor und heute für die Linke in der Hamburger Bürgerschaft sitzt.
Inzwischen haben sich bereits rund achtzig Personen der Vorlage bedient und individuell Verfassungsbeschwerde gegen die Hartz-IV-Novelle eingereicht. Anfangs wurden die Beschwerden ohne Begründung abgelehnt. Doch nun griffen die Richter einen Fall heraus, um zu erklären, wo das Problem liegt.
Ein Musterfall wird ausgewählt
Der Kläger, ein Mann aus Bayern, bezieht ergänzend Hartz IV, ist also ein sogenannter Aufstocker. Auf welche Weise ihn das Gesetz konkret betrifft, hat er nicht mitgeteilt. Das genüge aber nicht für eine Verfassungsbeschwerde, so die Richter. Vielmehr müsse ein Kläger darlegen, dass er selbst „gegenwärtig und unmittelbar“ in seinen Grundrechten verletzt sei. Nur wenige Institutionen – etwa die Landesregierungen – können ohne persönliche Betroffenheit direkt gegen ein Gesetz klagen.
Die Verfassungsrichter erinnern auch daran, dass es in der Regel nicht möglich ist, sofort in Karlsruhe gegen ein Gesetz zu klagen. Zunächst müsse der Rechtsweg bei den Fachgerichten ausgeschöpft werden. Dies soll sicherstellen, dass Rechts- und Sachfragen bereits aufgearbeitet sind, wenn das Verfassungsgericht befasst wird.
Zuletzt waren allerdings zwei Massenverfassungsbeschwerden gegen den Handelsvertrag Ceta als zulässig akzeptiert worden. Eine Klage wurde von rund 125.000 Bürgern unterstützt, die andere von rund 68.000. Wenn es um europäische Rechtsakte oder um Sicherheitsgesetze geht, ist Karlsruhe traditionell großzügig, was die formalen Voraussetzungen für Verfassungsklagen angeht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen