Handbuch zum Klimaschutz: „Drastische Einschnitte notwendig“
Die Maßnahmen reichen nicht, um das Pariser Klimaziel einzuhalten. Es fehlt ein Gesamtszenario, um Nachhaltigkeit langfristig umzusetzen.
Macht zu viel Wissen handlungsunfähig? In den Bereichen Klimaschutz und Nachhaltigkeit ist der Graben unübersehbar: zwischen den zahlreichen Forschungsergebnissen über den kritischen Zustand der Umwelt und den vergleichsweise geringen praktischen Anstrengungen in Politik und Wirtschaft, das Öko-Ruder wirkungsvoll herumzureißen. Ein neues Buch will diese Trennung überbrücken, das „Handbuch Klimaschutz“ (Oekom-Verlag), indem es aus der wissenschaftlichen Diagnose praktische Handlungsanleitungen in unterschiedlichen Bereichen herausfiltert: vom privaten Konsum über Kommunen und Industrie bis hin zu den Rahmensetzungen der Politik.
„Angesichts der ökologischen Entwicklungstrends brauchen wir mehr denn je drastische Einschnitte“, betonte Ortwin Renn, Direktor des Potsdamer Instituts für Nachhaltigkeitsforschung (IASS) bei der Vorstellung der Publikation in der vergangenen Woche. Immer deutlicher werde, dass es allein mit technischen Lösungen zur Emissionsreduktion nicht getan sei. Die Beendigung des klimaschädlichen Ressourcenverbrauchs sei auch ein „gesellschaftliches Gemeinschaftswerk“, wie es die Transformations-Studie des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen (WBGU) schon 2011 gefordert hatte.
Leitschnur für das „Handbuch Klimaschutz“ ist die Frage: „Wie kann Deutschland das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens noch erreichen?“ In Auftrag gegeben wurde es von den zivilgesellschaftlichen Organisationen „Mehr Demokratie“ und „BürgerBegehren Klimaschutz“, die damit auch die Etablierung eines „Klima-Bürgerrats“ vorbereiten wollen. Ein Expertenteam unter Leitung von Karl-Martin Hentschel wertete dazu mehr als 300 Studien aus und entwickelte auf 125 Seiten konkrete Vorschläge, wie die Gesellschaft in den Bereichen Energie, Wärme, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft, Bodennutzung und Abfälle klimaneutral werden kann.
„In den vergangenen zwanzig Jahren wurden in Deutschland Hunderte von Studien zu allen Bereichen der Klimapolitik erstellt“, erklärt Hentschel, von der Ausbildung Mathematiker, der als Grünen-Abgeordneter im Landtag Schleswig-Holstein politische Erfahrungen sammelte. Aber nahezu alle Untersuchungen gehen der Frage nach, wie bis 2050 eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 80 oder 95 Prozent erreicht werden kann. „Es gibt jedoch kein Gesamtszenario, das sich an dem Pariser Klimaziel einer maximalen Erderwärmung von 1,5 Grad orientiert.“
Tipping-Point der Weltökonomie
Im Ergebnis zeigen zahlreiche Studien, dass diese Aufgabe zu bewältigen ist – sowohl technisch als auch finanziell. „Außerdem sind sich die Studien einig: Die Umstellung Deutschlands auf Klimaneutralität kann und muss sozial gerecht gestaltet werden“, hebt Hentschel hervor. „Sie schafft neue Arbeitsplätze, reduziert Importabhängigkeiten und kann als gemeinsames Ziel den geschädigten gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen.“
Für Maja Göpel, bisherige Generalsekretärin des WBGU, war schon vor der Coronakrise erkennbar, dass nicht nur die globale Umwelt, sondern auch die Welt-Ökonomie auf bestimmte „Tipping Points“ zusteuert, die radikale und nichtrückholbare Umbrüche darstellen. „Solche Disruptionen zeichnen sich etwa für die Autoindustrie ab“, bemerkte Göpel bei der Buchvorstellung. Ein anderes Beispiel ist der Niedergang der fossilen Industrien, die immer weniger Gewinne abwerfen.
Ein Handlungsbereich, auf den das Handbuch eingeht, ist die Digitalisierung. „Eine offensive Nutzung der Informationstechnologien für den Klimaschutz erfordert insbesondere eine ausreichende Regulierung der Datennutzung“, wird betont. Von staatlicher Seite brauche es einen Datenschutz, „der das Recht auf die Nutzung der Daten eines Menschen regelt und die Vertraulichkeit privater Daten sichert“, ergänzt um eine „Steuerpolitik, die internationale Konzerne in einer angemessenen Weise besteuert“.
Weitere Regeln und Standards sollten unter anderem die Transparenz aller Daten des Staates für die Bürgerinnen und Bürger sichern. „Diese Aufgaben müssen rasch angepackt werden“, heißt es im Handbuch. „Nicht nur angesichts der knappen Zeit, die uns zur Verfügung steht – genauso wichtig ist es auch, dem politischen Druck, der durch die IT-Wirtschaft ausgeübt wird, zu begegnen und den Einfluss der Konzerne auf politische Entscheidungsprozesse zu verhindern.“
„Anthropozän“ kommt nicht in Handbuch vor
Ein anderes Handlungsfeld ist die Landwirtschaft. Die Empfehlungen für den Agrarsektor lauten unter anderem, eine Ausweitung des Ökolandbaus auf mindestens 30 Prozent der Ackerfläche bis 2040 zu erreichen und die Förderung von landwirtschaftlicher Produktion, vor allem Fleisch und Milchprodukten, für den Export auslaufen lassen.
Die Vorschläge gehen bis ins Detail, wenn es etwa heißt: „Elektrifizierung oder Umstellung auf E-Brennstoffe der Geräte, Fahrzeuge, Ställe und sonstigen Gebäude der Landwirtschaft Biogasanlagen sollten auf Reststoffe umgestellt werden. Außerdem sollten sie nicht mehr im Dauerbetrieb laufen, sondern nur dann, wenn Wind- und Sonnenkraftwerke alleine zu wenig Strom abgeben.“ So könnten sie zur Stabilität des Energiesystems beitragen. „Hierfür muss die Förderung angepasst werden.“ Womöglich auch ein Handlungsauftrag an die in dieser Woche eingesetzte Zukunftskommission Landwirtschaft.
Bei der Aufarbeitung von so viel Wissen kann auch manchmal etwas durchrutschen. Das Stichwort „Anthropozän“ kommt im Handbuch gar nicht vor, obwohl dies in der Wissenschaft wie auch in ersten Diskursen in der Politik eine neue Rahmung für erdpolitisches Handeln darstellt. Auch das wichtige Grundlagenbuch von Uwe Schneidewind und den Wissenschaftlern des Wuppertal Instituts für Klima Umwelt Energie „Die Große Transformation“ (2018) findet keine Erwähnung. Ein Lapsus.
Um die Klima-Empfehlungen praktisch werden zu lassen, sollen auch neue Instrumente zur Umsetzung ausprobiert werden. Nach Vorbildern im Ausland hat der Verein Mehr Demokratie zusammen mit der Schöpflin Stiftung 2019 in Deutschland den ersten Bürgerrat auf Bundesebene initiiert: 160 ausgeloste Bürger:innen konnten miteinander beratschlagen, welche Rolle Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie auf Bundesebene spielen sollen.
„Das Experiment gelang und erhielt viel Aufmerksamkeit von Medien, Politik und Zivilgesellschaft“, wird im Handbuch berichtet. „Die Fraktionen des Bundestags haben die 22 Empfehlungen entgegengenommen und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat zugesagt, das Gespräch über Bürgerräte voranzutreiben.“
Im Juni 2020 hat der Ältestenrat des Bundestages sich für einen weiteren Bürgerrat in Deutschland ausgesprochen. Das Thema: „Deutschlands Rolle in der Welt“.
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