Hamstern in Coronazeiten: Der Klopapier-Index
Wie im Frühjahr machen Warnungen vor Hamsterkäufen die Runde. Die Angst vor leeren Regalen zeigt mehr als alles andere die Wahrnehmung der Pandemie.
Was ist der effektivste Weg, um Menschen dazu zu bringen, Hamsterkäufe zu tätigen? Nun, man könnte ihnen zuraunen: „Leute, kauft Nudeln, sie könnten bald alle sein!“ Wirklich vielversprechend ist das allerdings nicht. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe etwa ruft seit Jahren dazu auf, sich eine Vorratshaltung im ungefähren Umfang eines kleinen Kinderzimmers zuzulegen – weitgehend ohne große Resonanz.
Ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) hat deshalb den umgekehrten und deutlich vielversprechenderen Weg gewählt: „Für Hamsterkäufe gibt es keinen Grund“, sagte sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Montag. Doch spätestens seit „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ denkt sich manche:r, vielleicht sollte es jetzt doch eine Nudelpackung mehr sein. Oder zwei.
Da reden sich Politiker:innen, das Robert-Koch-Institut, Virolog:innen, Epidemiolog:innen und Gesundheitsämter seit Wochen den Mund fusselig. Warnen vor steigenden Fallzahlen, erklären zum hundertzwanzigsten Mal das Wesen des exponentiellen Wachstums und weisen auf die Grenzen der Kontaktnachverfolgung hin. Sie verschärfen Regeln, erhöhen Bußgelder, verstärken Kontrollen. Sie melden Inzidenz, R-Wert und die Zahl der durchgeführten Sars-CoV-2-Tests. Sie starten eine über Deutschland hinaus beachtete Debatte über das Lüften. Doch nichts scheint hierzulande den Zustand der Pandemie so deutlich zu machen wie ein leeres Nudel- oder Klopapierregal – oder notfalls Bilder davon.
Dass Lieferengpässe eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sind – geschenkt. Je mehr Menschen aus Angst vor leeren Regalen hamstern, desto mehr Bilder von leeren Regalen gibt es, und desto mehr Menschen werden aus Angst vor leeren Regalen hamstern. Da ist es fast egal, ob das initiale Bild morgens um kurz nach acht entstanden ist, als die Mitarbeiter:innen im Supermarkt noch nicht die Zeit hatten, den Inhalt des Palettenwagens ins Regal zu räumen. Oder ob es sich wirklich um einen Lieferengpass handelte.
Wer es sich nicht leisten kann, verliert
Denn klar: Wenn auf einmal die Nachfrage unvorhergesehenermaßen steigt – sei es, weil sich viele Menschen plötzlich Vorräte zulegen oder weil von jetzt auf gleich alle Büroarbeiter:innen ins Homeoffice gebeten werden und dort selbst kochen, statt in die Kantine zu gehen –, dann sind Engpässe möglich. Warenströme lassen sich nicht von heute auf morgen von Lieferung an Kantinen und Restaurants auf Lieferung an Supermärkte und Discounter umstellen. Die Verlierer:innen des Hamstertums sind dabei diejenigen, die sich einen großen Vorratskauf nicht leisten können.
Mehr als der Maskenknigge, mehr als Reiseverbote, mehr als Quarantäne-Vorgaben machen leere Regale oder auch nur die Angst davor deutlich: Hier stimmt etwas nicht. Hier fällt die Wohlstandswelt, wie sie ein großer Teil der hierzulande Lebenden gewohnt ist, auseinander. Ein Produkt, nach dem einem gerade der Sinn steht, ist nicht erhältlich? Auch wenn davon die Welt vielleicht noch nicht untergeht, sie ist auf alle Fälle kurz davor. Es gilt: Wenn der MNK-Index (= Mehl, Nudeln, Klopapier) in Deutschland unter 1 sinkt, ist die Lage ernst.
Und wie sieht es nun wirklich aus? Die großen Lebensmittelketten zeichnen auf Anfrage der taz ein uneinheitliches Bild. Während Edeka angibt, „keine flächendeckende Veränderung des Einkaufsverhaltens der Kunden“ zu beobachten, berichtet Aldi Süd von einem „leichten Anstieg der Nachfrage nach vereinzelten Produkten“. Um welche Produkte es sich handelt, sagt das Unternehmen auf Nachfrage nicht. Aber einzelne Händler, darunter ein Edeka, der das auf Twitter öffentlich machte, setzen in Sachen Klopapierverkauf bereits wieder auf die Abgabe in „haushaltsüblichen Mengen“. Der MNK-Index, er könnte demnächst wieder unter 1 fallen. Frau Klöckner wäre daran wohl nicht ganz unbeteiligt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja