Hafenstadt Odessa im Ukrainekrieg: Stadt im Widerstand
Odessa wird seit Kriegsbeginn attackiert. Doch die Menschen in der Schwarzmeerstadt tun alles, um Moskaus Angriff standzuhalten. Ein Ortsbericht.
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All das weckt schmerzliche Erinnerungen daran, wie der Theaterplatz während der Besatzung im 2. Weltkrieg aussah. Wie fürsorgliche Eltern verpacken die Einheimischen die Dinge, die ihnen am Herzen liegen, um sie zu schützen.
Hier in Odessa hat man bis zum letzten Augenblick nicht geglaubt, dass Russland die Ukraine überfallen könnte. Der überwiegende Teil der Menschen in dieser Stadt ist russischsprachig, und niemand hat je ihre Rechte verletzt.
Und doch sind die Odessiten, wie die übrigen Ukrainer, am 24. Februar um 5 Uhr morgens von den Salven der feindlichen Raketen aufgewacht. Die Stadt wurde von russischen Streitkräften beschossen. So etwas hätte man sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können.
Sirenen und Solidarität
Seit diesem Tag sind mehr als drei Wochen vergangen. Einige Menschen haben die Stadt verlassen, andere sind geblieben. Sie sind unter psychischer Dauerbelastung. Sogar mit ungeschultem Auge kann man die russischen Kriegsschiffe vor der Küste liegen sehen. Mal kommen sie näher, mal bewegen sie sich in Richtung Krim und an der gesamten Küste entlang.
Jeden Tag sind in der Stadt die Sirenen zu hören. Sie warnen vor der Gefahr von Luftangriffen. Regelmäßig hört man auch Explosionen und Schüsse. Die Menschen verstecken sich in Kellern, Bunkern und Tiefgaragen. Viele haben sich diese Schutzräume bereits mit Sesseln und Decken eingerichtet. In einem Haus haben die Bewohner schon vorsichtshalber die Bilder von den Wänden genommen, damit sie bei einem Angriff nicht herunterfallen und kaputt gehen.
Doch trotz der Unvorhersehbarkeit der Situation lebt die Stadt weiter. In Odessa gibt es eine der stärksten Freiwilligenbewegungen im Land. Wohltätigkeitsorganisationen haben die Arbeit unter sich aufgeteilt. Einige verteilen Essen an Flüchtlinge, andere beliefern Obdachlosen mit Lebensmitteln und alte Menschen mit Medikamenten. Wieder andere versorgen die Verteidiger der Ukraine mit allem, was sie benötigen.
Das allgemeine Elend vereint auch die Geschäftswelt. Die Spitzenrestaurants und die besten Köche der Stadt kochen Essen für die Menschen, die an vorderster Front stehen. Es gibt schon Engpässe bei Lebensmitteln, man muss praktisch aus dem Untergrund versorgt werden, aber die Menschen tun alles, um dem Sieg näher zu kommen und zum friedlichen früheren Leben zurückkehren zu können.
Tausende Kuchen
Auch an den Stadtstränden wird täglich auf Hochtouren gearbeitet. Zur Verteidigung nutzen die Odessiten Sandsäcke. Alle sind damit beschäftigt, diese zu füllen, vom Richter bis zum Friseur. Schulturnhallen wurden temporär zu Werkstätten umgewandelt, in denen Tarnnetze geknüpft werden. Hier arbeiten vor allem Frauen und Kinder. Die Zoos und Klöster nehmen die Haustiere derjenigen in Obhut, die die Stadt verlassen.
Kein Odessit bleibt außen vor. Man kann in irgendein kleines Café gehen, um eine Tasse Kaffee zu trinken und erfährt, dass hier außer Kaffee jetzt auch jeden Tag mehrere Tausend Kuchen für Soldaten und Flüchtlinge gebacken werden. Und diesen riesigen Backprozess organisiert ein junges Mädchen.
„Wegen des Kriegs hat der Kindergarten in der Nachbarschaft die Arbeit eingestellt. Aber dort sind Menschen, die ohne Bezahlung Piroggen backen. Ich backe auch“, erzählt eine Angestellte des Cafés Darja. „Also, wir backen jetzt gemeinsam und suchen gemeinsam nach Zutaten. Bisher hatten wir an keinem einzigen Tag geschlossen. Wir arbeiten, zahlen Steuern und Kommunalabgaben, Miete und Löhne. Wir bemühen uns, so gut es geht.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hat sich neulich mit einem Appell an die Regionen des Landes gewandt, in denen es noch verhältnismäßig ruhig ist. Er hat darum gebeten, zur Arbeit zu gehen und die Wirtschaft des Landes anzukurbeln. Märkte, kleine Cafés, Kosmetiksalons, Postämter, Apotheken und Geschäfte haben geöffnet. Zwar mit eingeschränkten Öffnungszeiten wegen des Krieges und der Sperrstunden, aber Arbeit ist absolut notwendig. Das verstehen alle.
Gedichte gegen Panzer
Die Regale in den Lebensmittelgeschäften leeren sich, aber niemand hungert. Vor allem Getreideprodukte, Fleischkonserven und Zucker sind schwer zu bekommen. Auch Mineralwasser ohne Kohlensäure gibt es nicht mehr. Der Verkauf von Alkohol ist streng verboten. Der Wechselkurs von Dollar und Euro stieg um einige Griwni, massiv angestiegen sind die Preise für Benzin und Gas. Man kann beides auch nicht mehr an allen Tankstellen bekommen.
Vor einigen Tagen haben die örtlichen Schulen beschlossen, den Unterricht wieder aufzunehmen. Schule findet jetzt online statt, mit nur drei Stunden pro Tag, und besteht vor allem aus Wiederholungen des bisherigen Unterrichtsstoffes. Aber so sehen sich Kinder und Lehrkräfte immerhin wieder.
In der Stadt tauchen immer mehr patriotische Graffiti, Bilder nationaler Symbole und ukrainische Flaggen auf. „Odessa – das ist die Ukraine!“ Selbst mitten im Krieg kann man hier Musik und Gedichte hören. Die Künstler der Stadt veranstalten Konzerte, ab und zu organisiert eine Militärblaskapelle Flashmobs, um damit die Stimmung der Stadtbewohner zu heben, sagen sie.
Der Feind fährt zur gleichen Zeit fort, uns mit seine Kriegsschiffen zu bedrohen, beschießt regelmäßig die touristischen Küstenstreifen, allein neunzig Granaten sind in einem Naturschutzgebiet eingeschlagen. Jeder Odessit beginnt den Tag damit, sich durch die Nachrichten zu scrollen, dann nimmt er seinen Mut zusammen und geht zur Arbeit, setzt sich an den Schreibtisch oder leistet seinen Freiwilligendienst an der Wohltätigkeitsfront.
Odessa wird auch das Lächeln Gottes genannt. Und trotz der Angst, des Schmerzes und der Traurigkeit in den Augen bleibt das Lächeln im Gesicht. Bis zum endgültigen Sieg. Dann werden die Tränen fließen. Salzige, wie die Tropfen des Schwarzen Meere. Die Tränen der Freude darüber, dass der Krieg vorbei sein wird.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Tatjana Milimko ist Autorin des Tagebuchs „Krieg und Frieden“, einem Projekt der taz Panter Stiftung,die auch diese Reportage finanziert.
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